Donnerstagabend, Bibliothek des Konservatismus. Thilo Sarrazin – eine Vorstellung wird hier nicht weiter nötig sein – spricht im Lesesaal über sein neues Buch. Zugegeben: so neu ist der letzte Bestseller von Sarrazin nicht. „Feindliche Übernahme“ erschien bereits im August letzten Jahres. Der Untertitel „Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ machte bereits deutlich, wohin die Reise an diesem Abend gehen sollte. Der Sozialdemokrat Sarrazin machte auch in den Heiligen Hallen des Konservatismus keinen Hehl aus seiner aufklärerisch-progressiven Weltsicht. Unsereins stellte sich schon die Frage vorab: ist es denn ausgerechnet der „Fortschritt“, den wir am meisten missen würden, wenn der Islam erst einmal die Oberhand hat?
Die Veranstaltung war ausverkauft, bereits zwanzig Minuten vor Vortragsbeginn waren die normalen Sitzplätze belegt. Vor dem Haus patrouillierten Polizisten, im Inneren hielten zwei Bodyguards Wache. Es wird in diesem Text noch Kritik an den Inhalten Sarrazins geäußert; aber Bilder wie diese versichern, dass seine Integrität kaum bezweifelt werden kann. So viele Nebenverdienste sich auch aus dem Verkauf von mittlerweile vier Büchern seit „Deutschland schafft sich ab“ ergeben – Sarrazin hätte auch das zurückgezogene Pensionsleben eines ehemaligen Berliner Finanzsenators bzw. eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Bundesbank wählen können. Sarrazin, mittlerweile 74 Jahre, hatte anders entschieden.
So beginnt der Vortrag auch mit einer Aufzählung jener Steine, welche die Medien Sarrazin seit seinem Buch „Tugendterror“ in den Weg legten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe gar nicht über sein Buch berichtet, es gäbe eine direkte Anweisung der Chefredaktion an die regionalen Sendeabteilungen, er werde quasi totgeschwiegen. Die Zeitungen, ob Zeit, Süddeutsche oder FAZ zerrissen seine Bücher in ihren Rezensionen mit expliziter „Nicht lesen!“-Empfehlung. Lesungen würden behindert, wie etwa in Mainz, wo der Veranstaltungsort wenige Tage vorher abgesagt wird.
Dennoch hätten sich bisher über 250.000 Exemplare von „Feindliche Übernahme“ verkauft. Im persönlichen Gespräch mit einem Lehrer auf einer Veranstaltung habe dieser sich als SPD-Genosse enttarnt, und ihm die Hand gegeben, weil er mal einem „Rassisten“ die Hand schütteln wollte. Sarrazin erwidert, er solle ihm nur einen einzigen Satz aus seinen Büchern zitieren, der rassistisch sei. Dem Lehrer fällt keine Antwort ein; und es stellt sich heraus, dass er nie ein Buch von ihm gelesen habe, da er ja diese Ideologie nicht unterstützen wolle. Er habe sich in der Presse schließlich gut informiert. Später sollte Sarrazin in der Diskussionsrunde anmerken, dass nur 8 Prozent der Berliner eine Tageszeitung läsen. Das Wirkungsspektrum der Medien sei viel geringer, als allgemein angenommen. Man müsse nur mit den Leuten vernünftig reden und Aufklärungsarbeit leisten, der Rest ergebe sich dann.
Anekdoten wie diese nehmen etwa ein Drittel der Lesung ein. Erst dann kommt Sarrazin auf sein Buch zu sprechen. Er habe den Koran in der besten deutschen Übersetzung von vorne bis hinten gelesen und verschiedene Zitate in Kategorien eingeordnet. Der Koran sei ein Buch, das aus strikter Bevormundung bestehe, kaum religiösem Inhalt, sowie kaum Wert auf Bildung oder eigenständiges Denken lege – und daher zu einer Verengung des Geistes führe. Die Quintessenz: der Koran sei für eine Mentalität verantwortlich, welche die Integration in die westliche Gesellschaft behindere und auch die Eigenentwicklung von Staaten in der islamischen Welt hemme. Es spiele auch keine Rolle, dass man den Koran historisch-kritisch lesen müsse, und nicht wörtlich, denn die überwältigende Mehrheit der Muslime verständen die sehr einfachen Anweisungen nur wörtlich.
Die Kritik einiger Rezensenten und Islamwissenschaftler, dass er kein Arabisch beherrsche, um ein vollgültiges Urteil abzugeben, lehnte Sarrazin mit dem Hinweis ab, er habe schließlich auch die Bibel in deutscher Übersetzung gelesen und interpretiert. Dass letzteres Argument für einen Katholiken vielleicht nicht das überzeugendste ist, sei hier nur kurz angemerkt.
Sarrazin referierte nur kurz über ein Kapitel hinsichtlich der islamischen Expansion, fügte einen Exkurs über dieselben Symptome in anderen europäischen Gesellschaften mit muslimischen Migranten an. Er habe Statistiken und Daten aus einer großen Zahl der EU-Mitgliedsstaaten dafür ausgewertet. Zuletzt resümierte der SPD-Politiker, welche Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen zu ziehen seien: Ganztagsbetreuung, stärkere staatliche Eingriffe und Zwänge. Es zeigt sich, warum Sarrazin seiner Partei nicht untreu geworden ist, denn nicht nur dabei zeigte sich ganz das sozialdemokratische Herz, dieses Mal in Form des Etatismus. Im Übrigen – so fuhr er fort – sprach er sich gegen einen Islamunterricht aus, so wie er sich gegen jeden religiösen Unterricht aussprach. Jede Religion sei unbeweisbar, daher nichts als Aberglaube, und jeder Staat, der sich mit der Religion verbunden habe, sei nur Vehikel der Religion.
Spätestens hier zeigte sich eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Sarrazins angeblich vernunftorientierten und logischen Schlüssen. Einerseits betont Sarrazin, dass besonders religiöse Gruppen – ob Muslime, Amish, Hutten, orthodoxe Juden oder Mormonen – zu Kinderreichtum neigen. Zugleich ist die Demographie – auch das unterstreicht Sarrazin immer wieder – das größte Problem Europas. Denn nicht die absolute Bevölkerung, sondern die junge Bevölkerung gebe den Ausschlag zur „feindlichen Übernahme“, die im Grunde nichts weiter ist als eine Übernahme des „großen Austauschs“ von Renaud Camus.
Statt dass aber Europa ein Interesse hat, seinen Kinderreichtum zu mehren (denn Migrationsprobleme lösen sich im Grunde von selbst, wenn die Gastgebernation über einen so starken Zuwachs verfügt, dass die Zugezogenen darin verwässern), geht es Sarrazin nur darum, die muslimische Geburtenziffer kleinzuhalten. Das grundlegende Problem des Korans sei sein Frauenbild, das muslimische Großfamilien überall auf dem Globus in Konkurrenz zur jeweils anderen Religion ermögliche, ob in Deutschland, Indien oder Afrika. Allein die Emanzipation der Frau könne hier helfen. Im Grunde sei der Koran kein Problem, wenn er ein anderes Frauenbild hätte – was aus gutem Grund ebenfalls bestritten werden kann.
Aber selbst wenn: welche Probleme löst ein Rückgang der muslimischen Geburtenrate in diesem Europa? Die „Unterwerfung“ ist keine Urkatastrophe, die aus dem Nichts auf das Abendland zurollt, sie ist selbstverschuldet, und nicht etwa in erster Linie des Islams wegen, sondern, weil sich dieser Kontinent bereits seit Jahrzehnten in einer geistesgeschichtlich einmaligen Dekadenz befindet, auf die seit dem Fin de siècle noch keiner eine wirklich befriedigende Antwort gegeben hat. Bereits mittelfristig finden wir aus der Krise kaum heraus, wenn wir nun auch Muslime dazu zwingen, weniger Kinder zu bekommen.
Dass der „Aberglauben“ also doch eine große Rolle für Europa spielen könnte, negierte Sarrazin im festen Glauben an die säkulare Demokratie. Dass uns aber gerade diese säkulare, liberale Demokratie in diese Position gebracht hat, weil der westliche Lebensstil nicht Familienwohl, sondern Individualismus, Hedonismus und „Selbstverwirklichung“ begünstigt, schien Sarrazin nicht einsehen zu können oder zu wollen. Seine eigene Aussage, nämlich, dass die säkularen Staaten im Nahen Osten gescheitert seien, schien er selbst nicht auf unser Schicksal anwenden zu wollen – zu nahe liegt dann die Frage, warum unsere säkularen Staaten gegen den Islam gefeit sein sollen. Dass einzige historische Mittel, dem Islam Einhalt zu gebieten, kannte das Abendland in Gestalt des Kreuzes. Der Glaube an die Madonna hat zumindest bei Lepanto und Wien mehr versetzt als der Glaube an das Grundgesetz bis heute.
In einer völligen Verkennung historischer Tatsachen fiel Sarrazin nur der Hinweis darauf ein, dass man nach dem 30jährigen Krieg mit der Aufklärung andere Wege bestritten habe – ganz so, als gäbe es nichts in Europa, was vor diesem vorwiegend politischen Konflikt irgendeinen höheren Wert hätte und heute noch hat (Homer, Vergil und Dante jaulten im Hintergrund im Chor). Unausgesprochen brachte Sarrazin damit eher die heutige europäische Malaise als ihre Lösung auf den Punkt, da er sich mehr vor der Änderung von Gesetzen in Demokratien qua Mehrheitsänderung fürchtete als vor der Idee, dass solche Gesetze überhaupt durch Mehrheitsentscheidungen verändert werden können; aber in der Welt der Progressiven haben beständige Normen keine Bedeutung.
Insgesamt hörte man daher nichts Neues zum Islam, was nicht schon Oriana Fallaci vor über fünfzehn Jahren gesagt hatte – wie auch schon ein kritischer Diskutant aus dem Publikum anmerkte, nicht zuletzt unter dem Hinweis, dass auch Fallaci den Verlust des Christentums als Achillesferse Europas benannt hatte. Sarrazin kann im Gegensatz zu Fallaci eine Datensammlung und Statistiken als Fundament für sein Buch nennen, es fehlt ihm aber ein entscheidender Punkt: nämlich ein Bewusstsein für die tiefe Krise des Abendlandes, die weit über ein Migrationsproblem hinausgeht, das sich womöglich (?) mit Integration oder staatlich verordneten Zwangsmaßnahmen lösen ließe – unter denen im Übrigen auch nicht-muslimische Familien leiden müssten. Die Rettung vor der Islamisierung durch die Aufklärung bleibt Wunschdenken.
Dass diese in konservativen Kreisen (bis hin zu Houellebecqs Roman „Unterwerfung“) lang diskutierte Einsicht keinen Nachhall fand, ließ einen intellektuell unbefriedigt an diesem Abend zurück.