Der Kuss. Francesco Hayez, 1859.
Das vielleicht berühmteste Gemälde von Francesco Hayez (1791-1882) ist womöglich jedem schon einmal untergekommen. Der gebürtige Venezianer hat damit eine Ikone geschaffen, die in den letzten anderthalb Jahrhunderten eine Vielzahl von Nachahmern fand. Der Kuss (il bacio) hat begeisterte Anhänger, die darin einen der innigsten Momente der Romantik sehen und ebenso Kritiker, die das Gemälde für Kitsch halten. Dabei liegt tief zwischen den Farbtönen eine Botschaft vergraben, die den Zeitgenossen bekannt war, aber heute fast nahezu verloren gegangen ist.
Hayez war gebürtiger Venezianer, aber seine Malerlaufbahn verbrachte er größtenteils in Mailand. Dort lernte er Schriftsteller wie Alessandro Manzoni, Carlo Cattaneo oder Stendhal kennen – und einen der Hauptvertreter des Risorgimento: Giuseppe Mazzini. Hayez verkehrte demnach in einem Milieu, das nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch der Romantik anhing und für eine Wiederaufrichtung Italiens eintrat. Hayez fand daher zu einem Stil, der historische Sujets behandelte, aber unterschwellige politische Botschaften transportierte; übrigens ein Talent, das heutigen Akteuren dieser Sparte mehrheitlich fehlt, mangels Subtilität.
Der Kuss ist damit im doppelten Sinne ein romantisches Gemälde. Romantik bedeutet Sehnsucht nach dem Mittelalter – und in der italienischen Romantik ist es zugleich die Sehnsucht nach Freiheit und Größe. Nicht nur Shakespeare erlebt ein Revival, sondern auch die Welt, aus der er schöpft: mögen es die beiden Foscari sein oder Romeo und Julia. Die Erinnerung an die mittelalterlichen italienischen Staaten mit ihren Dramen, ihrer Politik und ihrer Bedeutung leben im Geiste der Künste wieder auf. Der Kuss bleibt jedoch unbestimmt; er spielt in der mittelalterlichen Welt – Hayez stellt das Gemälde unter dem Titel »Der Kuss. Episode der Jugend. Kleidung des 14. Jahrhunderts« vor – aber die genaue Szene ist zu den sonstigen historischen Themen unbekannt. Das Werk erinnert an ein früheres Gemälde von Hayez zu Romeo und Julia, bei dem der männliche Protagonist ebenfalls auf „dem Sprung“ ist. Eine andere Interpretation glaubt Renzo und Lucia zu erkennen, die Protagonisten aus den „Promessi sposi“ von Alessandro Manzoni – dem Nationalroman der italienischen Sprache, dessen Kritik an der spanischen Herrschaft des 17. Jahrhunderts eine verdeckte Kritik an der österreichischen Regierung des 19. Jahrhunderts war.
Die Komposition besticht nicht zuletzt in ihren Farben. Der männliche Part trägt grün und rot, die junge Frau weiß und blau; dabei liegt die hellste Partie in der Mitte. Für die Zeitgenossen, denen Hayez das Gemälde im Jahr 1859 enthüllte, war die Allegorie klar: es küssen und berühren sich die italienische und die französische Trikolore. 1859 paktieren das Königreich Sardinien-Piemont und das Kaiserreich Frankreich und schlagen mit vereinten Kräften die Österreicher bei Solferino und San Martino. Die beiden Schlachten läuten die Gründung des italienischen Nationalstaats ein.
Die Meditation von Hayez mit der niedergeschlagenen Italia, die nur noch Geschichte und Katholizismus hält, ist der Vorläufer dieses Werks, der Kuss die Antwort. Auf der einen Seite der verlorene Unabhängigkeitskrieg von 1848, hier eine neue Hoffnung auf einen Sieg. Das Paar ist jung, die Zukunft ungewiss, der Schwertgriff auf dem Oberschenkel des jungen Mannes weist auf den Krieg hin. Hinten links wartet jemand in der Dunkelheit. Der Fuß des Schwertträgers ruht auf der Treppenstufe; die Szene findet viel mehr in der Eile als in der Ruhe statt. Experten spekulieren deswegen, es könnte sich bei der Person im Dunkeln auch um einen Spion, um das allegorische Österreich handeln, das den Pakt misstrauisch aus der Ferne beäugt.
In einer späteren Version von 1861 – dem Gründungsjahr des Königreichs Italien – verblasst das blaue Kleid des Mädchens dann völlig: es bleibt nur noch weiß, nur noch die italienische Trikolore. Aus dem Bündnis zwischen Italienern und Franzosen ist nunmehr die Vaterlandsliebe allein geworden. Italien, das aus verschiedenen Teilen bestand, wird nun eins: der Kuss besiegelt die Einheit. Kein Triumphbild aus Versailles steht für den Akt der Nationswerdung, sondern ein kryptisches Historienbild der Romantik – auch das ein Hinweis, dass Italianità und Deutschtum nach dem Harmoniebildnis von Overbeck und den beiden Personifikation von Veit immer weiter auseinandergedriftet sind …