Zwischen den Trümmern der Spätantike und der Ungewissheit der Jahre von Völkerwanderung und Spätmittelalter steht im 7. Jahrhundert einzig das Christentum als feste Säule. In dieser Zeit ist selbst Italien, das den größten Teil der europäischen Geschichte als Orientierungspunkt galt – mag es aus religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen oder innovativen Gründen sein – zu einem Ort mit fragwürdiger Zukunft geworden. Das weströmische Reich ist vor anderthalb Jahrhunderten untergegangen, auch der letzte Glanz unter dem Ostgotenkönig Theoderich ist längst verblasst. Die Verwüstungen der unerbittlichen Kriege zwischen Ostgoten und Oströmern haben die gesamte Halbinsel gezeichnet; die großen Städte sind entvölkert, verlassen, verfallen. Auf dem Forum weiden Schafe, und einstige Metropolen wie Aquileia sind nur noch Erinnerungen einer weit entfernten Vergangenheit.
Das Ringen zwischen Goten und Römern hat beide Seiten erschöpft. So sehr, dass Dritte das Machtvakuum ausnutzen: seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts haben die Langobarden den größten Teil Italiens in ihrer Hand. Es ist die erste Teilung Italiens, die bis ins 19. Jahrhundert anhalten soll; es wäre aber falsch, darunter eine Teilung zwischen Norden und Süden zu verstehen. Tatsächlich existieren im Norden wie Süden langobardische Herzogtümer wie es auch oströmische Außenposten gibt. Die Trennung verläuft dort, wo es die geographischen Verhältnisse so bestimmen: die Inseln Sizilien, Sardinien und Korsika, die Südspitzen Kalabriens und Apuliens, Istrien und Amalfi, sowie ein Streifen von der nördlichen Adria bis nach Rom bleibt unter der Kontrolle Konstantinopels. Wo Häfen, Gewässer, Lagunen und Inseln sind bleibt die Herrschaft des Kaisers unangetastet; ähnliches gilt für den Apennin.
Der Heilige Titian (bzw. Tizian) von Oderzo ist ein Kind dieser Welt, in der die Hinterlassenschaften Roms und der Fall der alten Welt noch greifbarer ist als das, was das Mittelalter bringen wird. Er stammt aus einem dieser Grenzgebiete zwischen den Herrschaftsgebieten germanischer Invasoren und spätantiker Kultur. Rom, Aquileia oder Capua spielen keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle in dieser Welt; es ist das Zeitalter neuer Städte, die vorher nur als Mittelzentrum galten, aber aufgrund der Verheerungen und ihrer geographischen Lage nun eine besondere Bedeutung haben: dazu gehören das Benevent, Pavia oder eben auch die kleinen Städte Nordostitaliens wie Grado, Eraclea und eben Oderzo, das in der Antike Opitergum hieß.
Die Städte an der nördlichen Adria sind durch Flüsse, Lagunen und Inseln vor der langobardischen Gefahr gestützt, bei Eraclea an der Mündung des Flusses Livenza ankern die Flotten aus dem Osten. Das Meer verbindet diese Orte eher mit den übrigen oströmischen Städten wie Ravenna in der Romagna (die ihren Namen bis heute von dieser oströmischen Präsenz hat) oder den Häfen in Istrien. Titian selbst stammt aus Eraclea, das ähnlich wie Oderzo zu dieser Zeit noch mehrere zehntausend Einwohner hat und auf einer Halbinsel liegt.
Oderzo war damals die Hauptstadt eines eigenen Bistums. Titian trat als Mitglied einer vermutlich aristokratischen Familie in den Kirchendienst und wurde vom damaligen Bischof von Oderzo, dem Heiligen Florianus, protegiert. Titian diente danach als Diakon unter seinem Lehrmeister, bis sich Florianus dazu entschied, sein Amt zugunsten der Mission ruhen zu lassen. Darauf wurde Titian als Nachfolger eingesetzt und damit zum Bischof von Oderzo bestimmt.
Die Überlieferung dieser Tage ist mitnichten das, was man als wissenschaftliche Geschichtsschreibung bezeichnen kann, aber in jenen Sümpfen zwischen zerfallenen römischen Tempeln, aus Bruchstücken neu errichteten Kirchen, in denen die Flüchtlinge einer untergegangenen Kultur das zu bewahren suchten, was noch zu retten war, ist die Legende wohl das einzige, was man als Anhaltspunkt erwarten darf; vermutlich, weil sie mehr erzählt, als nur historische Fakten. Titian gilt als einer der beliebtesten Bischöfe im damaligen Volk, nicht nur wegen seiner vorbildlichen christlichen Lebensweise, sondern auch, weil er immer wieder zur Verteidigung gegen die Langobarden aufrief. Titian war ein überzeugter Trinitarier und lag demnach aus mehreren Gründen im Streit mit den benachbarten langobardischen Fürsten, die dem Arianismus anhingen. In der Abwesenheit oströmischer Beamter – und erst recht des weit entfernten Kaisers von Konstantinopel – avancierten die Bischöfe als eigentliche Männer des Volkes und als gefühlte Herrscher, die sich um das Wohl der kleinen Leute kümmerten. Das Kreuz Christi blieb das unverrückbare Zeichen der Stabilität in den Wirren der Zeit.
Als Titian dann am 16. Januar 632 verstarb, eskalierte die Situation. Wenige Jahre später zerstörten die Langobarden den Bischofssitz vollständig, die Bevölkerung flüchtete, der Nachfolger Titians – Bischof Magnus – brachte sich nach Eraclea in Sicherheit. Die Völker Venetiens, die schon durch die Zerstörung Paduas und Aquileias in die Lagune geflohen waren, rückten nun noch tiefer in die Sümpfe vor. Ein oströmischer Gegenschlag blieb aus; es blieben den Oströmern nur noch die Inseln und Halbinseln der nördlichen Adria. Die Langobarden richteten dagegen in Ceneda – dem heutigen Vittorio Veneto – ein neues Bistum ein. Nicht zuletzt, weil dort ein langobardischer Herzog seinen Sitz hatte. Eraclea hingegen wurde die Keimzelle des späteren Venedigs – aber das ist eine gänzlich andere Geschichte.
In der Erinnerung der Menschen blieb hingegen die Legende um die Gebeine des Heiligen Titian. So beanspruchten die Einwohner von Eraclea dessen Reliquien nach seinem Tod, da er schließlich ein Sohn ihrer Stadt gewesen war. Die Bürger von Oderzo stritten sich daraufhin mit den Nachbarn; dass es nicht zu einem echten Konflikt kam, lag an dem Schiedsspruch eines alten Mannes, der beiden Seiten riet, den Heiligen auf ein Boot zu setzen, und ihn selbst entscheiden lassen, wo er begraben werden wollte. Die Einwohner von Eraclea stimmten zu, weil die Livenza in ihrer Stadt mündete und glaubten, dass sie leichtes Spiel hätten. Als die Männer jedoch das Boot beladen hatten, schwammen Boot und Gebeine plötzlich stromaufwärts – übrigens ein Motiv in der venezianischen Kunst, das gerne aufgenommen wird und auf Darstellungen der Legende eine Gruppe von Engeln zeigt, die das Boot anschieben. Jetzt glaubten die Oderziner gewonnen zu haben, und verluden den Heiligen auf einen Ochsenkarren, um ihn in ihre Stadt zu bringen. Leider hatten sich die vermeintlichen Sieger zu früh gefreut: denn die Ochsen bewegten sich kein Stück. Keiner konnte Tiere und Karren bewegen. Nach drei Tagen des Gebets und Fastens bot eine Witwe ihre Kuh und ihr Kalb an, damit diese den Wagen zögen. Die Tiere brachten die Gebeine aber nicht zurück nach Oderzo, sondern nach Ceneda – wo der Heilige Titian bis heute liegt.
Dass uns der Name Titian dagegen im deutschsprachigen Raum nur noch durch den Namen des berühmten Künstlers Tiziano Vecellio geläufig ist, hängt dabei direkt mit dem Heiligen Tizian zusammen: ein Vorfahr des großen Malers hatte bei seiner Heirat als Mitgift eine Kapelle erhalten, die eben jenem Heiligen Titian von Oderzo geweiht war. Seitdem wurde „Tiziano“ zum Leitnamen dieser Familie.