Bereits zum zweiten Male erscheint der Name des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer in einer wichtigen Zeitung. Nachdem der Münsteraner Wissenschaftler seine Thesen bereits in einem Essay der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterbrachte, betrachtete jüngst die Neue Züricher Zeitung den Vorschlag, die Epochen neu zu bearbeiten. Redakteur Philipp Hufschmied äußert dazu:
„Bauers Buch ist eine äusserst anregende Lektüre, und man will ihm in vielen Punkten zustimmen. So ist der schon lange umstrittene Begriff des Mittelalters nicht bloss für die islamische Geschichte unpassend, sondern darüber hinaus auch oft wenig hilfreich. Ebenso fordert der Autor mit einigem Recht eine Epochengliederung, die über kontinentale Grenzen hinaus Gültigkeit beanspruchen kann. Schliesslich mag es sinnvoller sein, sich bei der Etablierung von Epochengrenzen statt auf spektakuläre Einzelereignisse auf «umfassend lebensprägende» und «endgültige und dauerhafte» Veränderungen zu fokussieren.“
Dieser Ansicht soll hier vehement widersprochen werden. Dass Bauers Anregungen spannend sind, steht außer Frage; zustimmen will man ihm nur in den wenigstens Punkten.
Dabei soll hier weniger auf die Idee eingegangen werden, die Spätantike vom 3. Jahrhundert an beginnen und bis zum Jahr 1050 laufen zu lassen, als vielmehr die zweite Grenze. Demnach gehören die Kreuzzüge wie die Reformation und der Dreißigjährige Krieg derselben Epoche an; dieser Zeitraum endet erst mit Aufklärung, Französischer Revolution und Napoleon. Bauer setzt den Mittelmeerraum samt Nahem Osten und Zentralasien in einer solchen Weise gleich, dass man sich manchmal fragt, ob er als Islamwissenschaftler nicht zu viel aus dem Orient auf den Okzident projiziert.
Es mag zuerst schmissig klingen, jene Zäsuren, die das Mittelalter von der Frühen Neuzeit trennen, als bloße „Einzelereignisse“ abzuwatschen, um der eigenen Theorie Gehalt zu verleihen. Bauer begründet dies damit, dass jene Ereignisse, mit denen wir generell die Frühe Neuzeit beginnen lassen, keine direkte Auswirkung auf die damalige Zeit haben. Ihre Konsequenzen sind vielmehr im 18. Jahrhundert zu suchen. Dies gelte für alle Bereiche, so in der Wirtschaft und der Bildung; das „Globale Zeitalter“ wird demnach erst ab dem späten 18. Jahrhundert konstituiert.
Das mag alles für den zentralasiatischen bzw. islamischen Raum gelten, in dem sich Bauer auskennt – aber just nicht für das Abendland. Deutlich wird das schon daran, dass traditionell in der Geschichtswissenschaft das „globale Zeitalter“ nicht mit dem 19. Jahrhundert beginnt, sondern mit dem 16. Jahrhundert, also jenem romantisch verklärten „Zeitalter der Entdeckungen“. Die Entdeckung Amerikas 1492 und die Entdeckung des Seewegs nach Indien 1498 sind eben keine Einzelereignisse: sie stehen stellvertretend für einen Prozess, der die gesamte Frühe Neuzeit durchzieht, nämlich die beginnende Expansion der europäischen Reiche, die ihren Zenit um 1800 erreichen – und nicht etwa erst mit der Kolonialisierung beginnen. Tatsächlich stellt das 19. Jahrhundert in kolonialer Hinsicht nur noch ein Wettrennen um die weniger bedeutsamen Stücke Urwald und Wüste dar; die Filetstücke, die strategischen Handelsrouten und bis heute von Europäern am meisten geprägte Gebiete sind nach Bauers Zeitrechnung längst vergeben. Kurz gesagt: die „Geschichte ist erzählt“. Die Europäer haben um 1800 der Welt maßgeblich ihren Stempel aufgedrückt. Die „Einzelereignisse“ sind also keine, stattdessen sind sie der Anfangspunkt einer Erzählung des Aufstiegs europäischer Dominanz, die um 1800 bereits abgeschlossen ist.
Das mag aus islamischer Sicht uninteressant sein, weil die muslimischen Völker nicht an diesem globalen Wettbewerb teilnehmen, außer als Autochthone, die entweder als Zwischenhändler ausfallen (so im Nahen Osten) oder selbst Opfer der neuen Mächte werden (so in Ostasien). Bereits dieser Punkt sollte zu denken geben, ob es wirklich diesen angeblichen Kulturraum von der Atlantikküste bis zum Hindukusch gibt, wenn der Westen hier offenbar einen völlig anderen Weg geht. Die Frühe Neuzeit ist nicht nur, aber vor allem auch die Geschichte des globalen (!) Aufstiegs Europas zum Zentrum dieser Welt.
Damit beginnend, dass also der Zeitraum von 1500 bis 1800 sehr wohl das erste „globale“ Zeitalter der Weltgeschichte darstellt, und sich hier Europa massiv von den restlichen Zivilisationsräumen abhebt, kann auch die wirtschaftliche Frage nicht außen stehen. Mitnichten hat die Entdeckung Amerikas oder des indischen Handelsweges erst im 18. Jahrhundert Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft. Die Venezianer bemerken die Verlegung der Handelswege vielleicht nicht am Ende des 15. Jahrhunderts, jedoch spätestens am Ende des 16. Jahrhunderts. Um 1600 ist bereits der Atlantikhandel wichtiger als der Mittelmeerhandel geworden. Das südamerikanische Gold lässt Spanien bzw. die habsburgische Dynastie zu jener globalen Macht werden, in deren Reich die Sonne niemals untergeht – eine Macht von globaler Bedeutung auf drei Kontinenten. Andengold hat bereits damals als Söldnergeld eine entscheidende Rolle in den von Spanien geführten Kriegen.
Der Handel über die Weltmeere: eine Neuerung, welche die Welt in Atem hält. Ob von Portugal nach Indien, von Acapulco nach Manila oder im berüchtigten Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika. Bereits der Silberpreis in Japan kann dabei den Ostasienhandel der Niederländer so durcheinanderbringen, dass er Auswirkungen bis ins hinterletzte norddeutsche Fischerdorf hat. Die Welt ist also bereits zu diesem Zeitpunkt in einer Weise global vernetzt, wie wir es davor nicht kannten, aber heute noch kennen. Persönlichkeiten wie Jakob Fugger mit einem Faktoreiennetz, das ungarische Kupfer in Portugal gegen indische Gewürze kauft, die Portugiesen wiederum das Kupfer in Afrika zu Gold machen, um neuerlich Gewürze in Indien zu kaufen; der Typus einer neuen Art von Kaufleuten, ja Unternehmern, wie sie das Mittelalter in der Form niemals kannte. Es hat seine Gründe, warum dieses Zeitalter ökonomisch auf den Namen des „Frühkapitalismus“ getauft wurde.
Undenkbar ist dieses „Zeitalter der Entdeckungen“ und des globalisierten Welthandels ohne den technologischen Aufschwung der Alten Welt. Nautische Präzision macht diese Abenteuer erst möglich; die Chemie, die Physik und die Biologie nehmen hier ihren Ausgangspunkt; es ist das Zeitalter, in welchem man Schwerkraft und Sterne entdeckt, mit Mikroskopen und Teleskopen gleichermaßen die Maße des Bekannten und Unbekannten erforscht. Der Buchdruck leistet dabei nicht erst als „Einzelereignis“ der Aufklärung Schützenhilfe, sondern schon ab dem 16. Jahrhundert bei der Reformation. Ab der Renaissance beherrscht Europa eine Aufbruchstimmung und eine Mentalität, die dem Mittelalter gänzlich fremd bleibt und sich in Literatur, Theater, Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Architektur und Musik niederschlägt.
Um es knallhart zu sagen: Sie finden nichts im gesamten Nahen Osten – ja, auch nicht in China oder Indien – was mit der Blütezeit der europäischen Malerei in den Niederlanden (einschließlich Flandern) oder Italien vergleichbar wäre. Es gibt in der arabischen Welt keinen Michelangelo, keinen Tizian, keinen Caravaggio. Ähnlich sieht es in der Musik aus. Auf diesem Feld ist uns die arabische Welt einen Händel oder Monteverdi immer noch schuldig geblieben. Sie machen die Frühe Neuzeit zusammen mit den anderen aufgeführten Punkten zu jener Erzählung, warum Europa (auch heute noch) einzigartig ist – und damit doch ganz anders als die nahöstliche oder fernöstliche Welt.
Lappalien in Bauers These, die politische Begebenheiten und Dynastien ausklammern will zugunsten von – was eigentlich? Offensichtlich kann es sich auch nicht um ökonomische und kulturelle Aspekte handeln. Ebenso spielt die Mentalitätsgeschichte keine Rolle. Bauers einziges Ziel ist es, für eine geographische Region, die er größer fassen will als Europa, allgegenwärtige Epochenzäsuren zu finden. Dabei ist es schon schwierig, das für Europa selbst zu tun: in Flandern und der Lombardei tickten die Uhren anders als in Schottland und Litauen. Im Grunde wäre es der Geschichtswissenschaft eher förderlich, die Räume zu verkleinern statt diese zu vergrößern, um ein dezidierteres Bild zu erhalten.
Es drängt sich daher der Gedanke auf, dass Bauers Thesen die Dinge eher verschwimmen lassen, als diese zu klären. Der Münsteraner wischt solche Argumente lässig beiseite, weil für ihn solcherlei „nicht epochenkonstitutiv“ sind. Zeitalter bedürfen aber nicht nur wie auch immer geartete „Lebensverhältnisse“, sondern auch das Leben der Völker und Individuen als solche, die darin leben. Geisteshaltungen und Mentalitäten spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Verflechtung von Netzwerken. Dass hier die orientalische und die okzidentale Welt sehr verschiedene Wege gehen, dürfte offensichtlich sein. Die Frage danach auszuklammern, wieso das so ist, und stattdessen zu postulieren, es sei überall dasselbe gewesen, ist nicht nur wenig differenziert; sie neigt auch dazu, offensichtliche Problematiken zugunsten von Gemeinsamkeiten ausklammern zu wollen. Die gesamte europäische Identität, die ja gerade ein Ergebnis dieser beiden Zeitalter ist, wird zugunsten eines konstruierten Großraumes in Frage gestellt.
Hier kommt wohl Bauers verhängnisvollste Prämisse zum Tragen: „Der Wechsel der Religion ist nicht entscheidend.“ Dass es aber gerade die Religion ist, die nun einmal das Abendland zum Abendland und das Morgenland zum Morgenland macht, will Bauer aus der Welt schaffen, indem er alle möglichen Dinge belichtet, nur nicht die, die seiner These vehement widersprechen. Warum die Religion, die den Alltag bis 1800 so beherrschte wie kaum etwas anderes, keine „umfassend lebensprägende“ Bedeutung haben soll, bleibt ein Geheimnis. Die gewaltige, prägende Kraft des Christentums für das europäische Mittelalter und den fulminanten kulturellen Tanz der Frühen Neuzeit auszuklammern – wie auch für die politischen und gesellschaftlichen Prozesse, welche die Reformation mit sich brachte, und den Westen zu dem machten, was er heute ist – wirkt dabei nur wenig überzeugend. Vermutlich, weil er gleichermaßen den Islam als möglichen, negativen Faktor im Rest des postulierten Großraumes tilgen will.