Mir werden immer wieder Artikel auf Twitter oder Facebook zugesendet, nach dem Motto: könnte Sie interessieren. Meistens handelt es sich dabei jedoch weniger um hilfreiche oder intelligente Elaborate, sondern vielmehr um die Speerspitzen der Absurdität, oder historische Themen, die in eine bestimmte ideologische Richtung verzerrt werden. Mit letzterer Kategorie haben wir es heute zu tun: es handelt sich um einen Text, der zuerst im Merkur erschien und dann seinen Weg auf Zeit Online fand. In dem als „Essay“ klassifizierten Werk geht es um das Gedankenspiel, dass wir uns nicht in einer möglichen Wiederholung der Weimarer Verhältnisse befinden, sondern eher in der Zeit um 1500, einer Zeit „falscher Propheten“, die sich mit der Elite anlegen, in der „Wutbauern“ auftreten, in der das „Wir und Die“ an Bedeutung beginnt, und in denen die neuen Medien Informationen und Falschinformationen gleichermaßen kursieren lassen, wie es zuvor nicht bekannt gewesen war.
Der Löwe freute sich demnach auf einen hochkarätigen Text. Schließlich ist der besprochene Zeitraum jener, den ich den meinen nennen würde. In der Tat würde ich einige der Prämissen und Feststellungen unterschreiben. Dass der Artikel allerdings weniger Beobachtung, als vielmehr politische Ideologie ist, macht bereits die Überschrift klar: AfD (um 1500).
Der Göttinger Universitarier Sebastian Dümling beginnt mit einem sehr löblichen Ansatz: nämlich damit, dass nicht jede Krise „Weimarer Verhältnisse“ bedeute, dass die AfD nicht die NSDAP sei, dass es auch andere „Reime“ in der Geschichte gibt, auf die man sich berufen kann. Das ist in einer Zeit, in der jede politisch missliebige Äußerung auf „worse than Hitler“ hinausläuft, begrüßenswert.
Leider ist es einer der wenigen positiven Punkte des gesamten Traktats.
„Mir kommt dabei vor allem eine historische Phase in den Sinn: die Jahre zwischen etwa 1475 und 1510. In dieser Zeit wird nämlich eine rhetorische Spur gelegt, die bis heute auftaucht, wenn etablierte Ordnungen infrage gestellt werden. Mit dem Beginn der Moderne entsteht zugleich das antimoderne Ressentiment, mit dem diese Moderne in einer Gegenbewegung desavouiert wird. Ja, es ist ihr genuines Merkmal, dass mit ihrem Beginn jene Kräfte die Bühne betreten, die sie bekämpfen.“
Dass es ein antimodernes Ressentiment erst geben kann, wenn es eine Moderne gibt, ist eigentlich keine große Gedankenleistung und weniger überraschend, als hier dargestellt. Eine Verachtung der Regierungszeit Merkels kann es schließlich auch erst geben, seitdem Merkel Kanzlerin ist. Ein fundamentalerer Kritikpunkt: Dümling schreibt an dieser Stelle nicht, wieso er konkret diesen 35 Jahren eine so große Bedeutung einräumt. Im Laufe des Textes ergeben sie sich aus drei (!) Quellen: der Bewegung um Hans Böhm (Pfeifer von Niklashausen), die 1475 genauso schnell begann wie sie wieder zusammenbrach; danach folgt die Schrift eines unbekannten Autors aus demselben Jahr. Zuletzt bezieht sich Dümling auf einen Autor, der sich selbst als „Oberrheinischer Revolutionär“ bezeichnet, und dessen Arbeit aus dem Jahr 1510 stammt. Letzterer wurde von Dümling in einer wissenschaftlichen Arbeit genauer untersucht.
Prinzipiell erscheint es jedoch fraglich, ob man damit bereits eine eigenständige Periode mit einer besonderen Charakteristik eingrenzen kann. Warum jetzt der Pfeiferhannes dazugehört, aber nicht etwa Jan Hus; warum der Oberrheinische Revolutionär noch mitspielen darf, aber nicht Martin Luther; das sind Fragen, die eigentlich beantwortet werden müssten. Auf den letzteren könnte Dümling antworten, dass sein Essay eher den Vorabend der Reformation behandelt, also die Zeit, in der nur eine „rhetorische Spur“ gelegt wird, bevor es zu den Bauernkriegen und der Reformation kommt. Warum dann aber Jan Hus nicht auftaucht, könnte dem Gedankengang geschuldet sein, dass dann die Theorie von den „Neuen Medien“ nicht mehr stimmt, weil Hus auch ohne Buchdruck eine bedeutende Anhängerschaft hatte – sogar und besonders post mortem. Kurz: es passt schon etwas nicht bei den hier gesetzten Zäsuren.
„Im historischen Niemandsland um 1500 ist die politische Stimmung angespannt. Selbsternannte Propheten, Prediger, bestenfalls geduldet von den kirchlichen Autoritäten, ziehen durch die Städte, prangern die adligen, kirchlichen und wirtschaftlichen Eliten an, werfen ihnen vor, sie würden das einfache Volk nicht mehr repräsentieren, seien in ihren jeweiligen Ständen von den Sorgen der Mehrheit abgeschirmt. Auch hier: Formen von „Zornpolitik“ und „großer Gereiztheit“, so die Schlagworte, mit denen Uffa Jensen und Bernhard Pörksen den gegenwärtigen Populismus benennen. Der sogenannte Pfeifer von Niklashausen agitiert 1476 erregt gegen die Eliten: „Der Kaiser ist ein Bösewicht und mit dem Papst ist es nichts. [Sie bringen] nur Zoll und Belehnung über das Gemeine Volk“, soll er vor siebzigtausend Wutbauern gepredigt haben. Siebzigtausend, das sagen zumindest die offiziellen Chroniken; wahrscheinlicher ist, dass es wenige Tausend waren. Das Establishment ist nämlich im gleichen Maße abgestoßen wie fasziniert, weshalb die Schreibenden gebannt auf die „Figur des Hässlichen“ schauen, den grotesken Körper der hier wuterfüllt Schnaubenden in den Mittelpunkt ihrer Beschreibungen setzen.“
Ausgerechnet Hans Böhm als Vorläufer von Gauland oder Höcke nehmen zu wollen, ist aus mehreren Gründen problematisch. Während der AfD allgemeinhin unterstellt wird, ein Bund „alter weißer Männer“ zu sein, welche die bestehende Ordnung um jeden Preis erhalten will, womöglich sogar das Rad der Geschichte zurückdrehen möchte, ist der Pfeifer ein Jüngling von höchstens 18 Jahren mit sozialromantischen Ideen, der mit seiner Forderung, alle Stände abzuschaffen, alles andere als reaktionär ist. Im Gegenteil: im Grunde steht er revolutionären, im Grunde genuin linken Ideen viel näher. Es zeigt sich vielmehr, dass manche Ideologen keine Ahnung mehr davon haben, was die Kontinuitätslinien politischer Ideen sind. Pfeifer wird nicht deswegen als „hässlich“ beschrieben, weil er es ist, sondern weil ein „schlechter Charakter“ auch schlecht aussehen muss – eine Vorstellung, die sich bereits in der Antike bei Plutarch beispielhaft nachweisen lässt und im Mittelalter (und danach) nichts von ihrer Wirkkraft verloren hat.
Gewissermaßen spielt Dümling sogar Gauland in die Hände und betreibt AfD-Apologie. Denn der Pfeifer wird bereits nach wenigen Monaten eingekerkert, verhört und hingerichtet. Danach streuen die damaligen Medien diffamierende Nachrichten über Pfeifer, der angeblich der Teufel selbst gewesen sein soll. Sogar die Kapelle in Niklashausen wird abgetragen, um künftige Wallfahrten dorthin zu verhindern. Böse gesagt: die Lügenpresse verbreitet Fake News, um jemanden zu diskreditieren, der Missstände im Land öffentlich angeprangert hat (dass die Bischöfe von Würzburg ihre Pflichten vernachlässigten, war kein Geheimnis).
Bereits hier bekommt die logische Leitlinie des Artikels offene Brüche. Denn Dümling müsste sich entscheiden: gibt es die Probleme, welche die Bauern betreffen, wirklich – oder sind es nur diffuse Ängste, wie sie heutigen besorgten Bürgern unterstellt werden? Das Wort „Wutbauer“ würde letzteres bejahen, aber es ist wohl ein erwiesenes Faktum, dass es den Bauern in den betroffenen Regionen des späteren Aufstands – nun ja – ziemlich dreckig ging. Damit würde aber zugleich ein „Narrativ“ der AfD heutiger Tage bestätigt – weshalb der Autor diesen Widerspruch völlig ausklammert. Einige historische Gleichnissen könnten vielleicht zu unliebsamen Überraschungen führen.
Zuletzt: der Pfeifer war Viehhirte und hatte offensichtlich keine politische Agenda – ganz anders als bspw. Girolamo Savonarola, der in Florenz sehr konkrete Vorstellungen darüber ausspricht, wie die Stadt in Zukunft zu regieren sei. Savonarola ist Gelehrter, zudem als Seelsorger dafür ausgerüstet, mit Menschen und Menschenmassen umzugehen. Der Pfeifer dagegen ist ein Viehhirte mit einer Marienerscheinung, der aufgrund einiger dummer Äußerungen mit geistlicher wie weltlicher Macht aneinandergerät und offensichtlich selbst nicht so recht weiß, was er tut. Jetzt stimmt es zwar, dass man bei der Anarchie innerhalb der AfD genau dies attestieren könnte – dass aber die AfD keinen politischen Plan hätte, eben das würden ja ihre Gegner kaum postulieren, wenn angeblich das Damoklesschwert eines neuen Vierten Reiches über unseren Köpfen schwingt.
„Es reichen ein paar Bauern, die mit Mistgabeln und Wutfratzen gegen zu hohe Steuern demonstrieren, und schon ist von „gefährlichen Zusammenrottungen“ die Rede. Lokal begrenzte Aufstände, nicht in Dresden, sondern im Thüringischen beziehungsweise Süddeutschen, werden entsprechend von beiden Seiten als Erhebungen hypostasiert, die die gesamte Ordnung infrage stellen.“
Die „gefährlichen Zusammenrottungen“ scheinen doch etwas gefährlicher gewesen zu sein als hier vom Autor suggeriert, da die Mistgabeln nur wenige Jahre später keine reine Drohung mehr sind. Wieder wird darauf abgehoben, es handele sich um eine diffuse Einbildung; natürlich sollte der Bundschuh später die „gesamte Ordnung“, wie man sie kannte, infrage stellen. In der Schweiz ist das zwei Jahrhunderte vorher sogar gelungen. Warum auch die Bauern „in Dresden“ oder anderen Städten sich erheben sollten, bleibt das Geheimnis des Autors – ja, wie denn? Bauern leben nun mal auf dem Land und müssen sich auch dort flächenmäßig erheben, wenn sie Erfolg haben wollen. Ganz abgesehen davon, dass die bedeutendsten Städte des Reiches sowieso frei waren und sich bar jeder Fürstengewalt selbst regierten …
„Mit der Erfindung der Druckerpresse verbreitet sich das geschriebene Wort sehr viel schneller, Nachrichten – natürlich auch fake news – erreichen nie dagewesene Reichweiten. Und es ist kein Wunder, dass auch erst jetzt so intensiv vom „Volk“ gesprochen werden kann. Vorher waren „die da oben“, die „kleinen Leute“ und die „Mächtigen“ Größen, die man als Handwerker oder Bauer lediglich aus dem Face-to-face-Kontakt oder aus Predigten kannte. Die neuen Medien aber schaffen eine wichtige Integration. Sie vermitteln – zunächst unter den Lesenden, die dies dann weitergeben – das Wissen, dass es überhaupt ein großflächiges „Wir“ und „Sie“ gibt, Gruppen, die nicht hinter dem nächsten Dorf enden.“
Ja und nein. Ja, die Erfindung der Druckerpresse hat Folgen. Aber nein: der Bauer weiß vorher schon, dass er Bauer ist und Bauern einen Stand bilden, der nicht am Dorfende aufhört. Gerade das Mittelalter prägt mit seinen Ständen ja keine bloß regionale Gruppe aus. Bereits unter den Ottonen und Saliern ist es egal ob man Ministerialer aus Thüringen oder Franken ist; und ebenso wie es im Adel ein europäisches Bewusstsein gibt, einer adligen Elite des christlichen Europa anzugehören – ansonsten wären die verschiedenen Heiraten über Reichsgrenzen hinweg kaum zu erklären – findet Ähnliches auf der Ebene der Handwerker und Kaufleute mit ihren Zünften und Gilden statt. Was ist denn eine Gilde anderes als das exklusive Zeichen, einer bestimmten Gruppe, eines „Wir“ im Gegensatz zu „die da“ anzugehören? Und: ist es nicht gerade Merkmal der hochmittelalterlichen Hanse (300 Jahre vorher!), dass alle Kaufleute des Hanseraums sich als Angehörige eines Standes anerkennen, egal, ob man nun aus Lübeck, Visby oder Riga kommt – und sich entsprechend bei Unternehmungen hilft, Sitzungen abhält, Mähler begeht und dieselben Heiligen verehrt? Die Druckerpresse verfestigt vielleicht solch einen Prozess punktuell, sie begründet diesen aber mit Sicherheit nicht.
„Selbst in Bremen erfährt man zeitnah, dass der Pfeifer in der Gegend um Würzburg gegen Ungerechtigkeiten protestiert, die so doch auch in Bremen herrschen.“
Anscheinend gab es ja vorher keine anderen Kommunikationswege, weil bis zur Druckerpresse alle im Dreck rumkrochen.
„Ja, erst jetzt erkennt man Kategorien, die das Leben in Bremen genauso beobachtbar machen wie das Leben in Würzburg. Dadurch fühlt man sich trotz aller räumlichen Distanz als eine Gemeinschaft der Protestierenden und Wütenden. Die neuen Medien bringen die eingeübten Kategorien durcheinander und schaffen neue. Was ein „Volk“, „Untertan“, die „Obrigkeit“, ja, was ein „Deutscher“ überhaupt sein soll, wird hier erstmals thematisiert, erdacht und vor allem erfühlt.“
Natürlich: dass man darüber um 1500 diskutierte, was ein Deutscher ist, hat etwas mit den neuen Medien und den Protestierenden und Wütenden zu tun – nicht etwa mit der Wiederentdeckung von Tacitus‘ Germania. Es werden hier Sachen durcheinandergeworfen, die zeitlich parallel ablaufen, aber nicht kausal zusammenhängen.
„Aufgewühlte Bauern sind nun keine lokalen Phänomene mehr, sondern vernetzen sich über die neuen Medien zu mächtigen Großkollektiven. Diese Großkollektive – emotional am stärksten: das „Volk“ – verleihen den Akteuren, die in ihrem Namen handeln, eine Macht, die sich aus der Behauptung ergibt, im Namen der vielen gegen die wenigen zu sprechen.“
Bauern betreiben keine Druckpressen. Mit Bauern sympathisierende Handwerker tun das. Dass Flugblätter immer im Namen der vielen hergestellt werden, ist ebenso kein geistiges Meisterstück; stellen wir uns vor, die Weiße Rose hätte nicht immer im Duktus der „vielen“ gesprochen, sondern von Anfang an gesagt, man sei eine Widerstandsgruppe von ein paar dutzend christlich-humanistisch gebildeten Romantikern. Wer hätte das noch lesen wollen? Und wie kommt man auf die Idee, nur der Pöbel würde für sich dergleichen reklamieren? Waren es historisch nicht eher kleine Elitenkreise wie die Bolschewiki und andere Kaderrevolutionäre, die sich historisch eher für das Volk ausgegeben haben? Warum ausgerechnet diese Bauernkollektive als Vorstufe der AfD?
Wir (!) wissen es schon: weil die Theorie mittlerweile jede Grundlage verloren hat.
„Das „gemeine Volk“, das sind die mit ihren Händen hart arbeitenden Leute. Ein bekannter Agitprop-Slogan, der bereits im 14. Jahrhundert auftauchte, lautet entsprechend: „Als Adam grub und Eva spann, wer war da der Edelmann?“ Die Handarbeit als die einzige ehrliche Arbeit – auch der neurechte Autor Götz Kubitschek macht von dieser Vorstellung Gebrauch: „Ein Freund aus meinem Dorf sagte gestern zu mir: ‚Ich bin Handwerker – Politiker sind Maulwerker.'“ Schaut man genauer hin, findet man bei AfD etc. etliche Varianten dieser Dichotomie, ob „Joe the Plumber“ in den Vereinigten Staaten oder die Inszenierung des AfD-Malochers Guido Reil auf der einen, ob Andrea-„die-hat-nie-gearbeitet“-Nahles oder EU-Funktionäre auf der anderen Seite.“
Passagen wie diese sind der eigentliche Grund, warum dieser Text interessant ist. Er beschreibt nämlich viel weniger, was mit der AfD los ist, als mit dem einstmals linksintellektuellen Milieu, das gar nicht mehr links ist. Ideengeschichtlich völlig ideenlos wird hier eine Linie konstruiert, die angebliche Rechtspopulisten mit ihren Vorläufern verbinden soll – ganz blind dafür, dass Pfeifer, die Bauern, der gemeine Mann, der Ruf nach Egalität statt Elite und die Umstürzung aller Ordnungen eine zutiefst linke Sache ist. Echte Linke, sog. „Altlinke“ (was einiges über den Zustand dieses Lagers aussagt) würden den Kopf darüber schütteln, was hier steht. Die Masse, das Kollektiv, der kleine Mann – das sind Worte aus der Sozialdemokratie! Das ist Peppone, das sind die sozialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts. Dass Andrea Nahles von eben jenen kleinen Leuten verachtet wird, liegt nicht nur daran, dass Nahles nie gearbeitet hat – sondern weil sie einer einstigen Arbeiterpartei vorsteht.
Diese bittere Einsicht ist es doch, die viele echte linke Geister dazu gebracht hat, den heutigen etablierten Parteien, an erster Stelle der SPD, den Rücken zu kehren. Linke Bewegungen waren im Kern immer populistisch. Es wird zunehmend vergessen, dass die AfD eine wirtschaftsliberale Partei war, und sich erst später umorientiert hat, um aus eben dieser politischen Orientierungslosigkeit der Linken wahltaktisches Kapital zu schlagen: vom neoliberalen Lucke zum sozialnationalistischen Höcke. Alle Exponenten der damaligen Sozialrevolutionäre von den Vertretern des Ciompi-Aufstands bis zu denen des Bundschuhs, wurden in der marxistischen Geschichtsschreibung als Vorreiter des Sozialismus gefeiert!
Entweder, Dümling sind diese im Grunde propädeutischen Kenntnisse abhandengekommen, oder es ist ein verstecktes Plädoyer dafür, dass die AfD als Erbin der Sozialdemokratie eine linke Partei ist. Dass er sich überhaupt auf eine Figur beruft, die sich „Revolutionär“ nennt, sollte doch von Anfang an zu denken geben – ich dachte, die AfD sei von Ressentiments gefesselt und könnte mit der modernen Welt nicht umgehen und will lieber zurück?
„Das ist ein zentraler Moment des seinerseits modernen Unbehagens an der Moderne. Es ist nur schwer zu ertragen, wenn ferne Funktionseliten eine Machtordnung verwalten, deren Abläufe sich dem direkten Einblick zu entziehen scheinen. Entsprechend erklärt Michael Wolff in Fire and Fury den Erfolg Trumps: Viele seiner Wähler hätten gedacht, Trump mag uns zwar verarschen, aber er ist immerhin genauso ein „Anti-Experte“ wie wir, jemand ohne doppelten Boden. In der (und sei es als solche nur wahrgenommenen) Undurchschaubarkeit der Ordnung liegt der Grund, ihr zu misstrauen.
Daher ist es auch leicht, dieser Ordnung wahrheitswidrig alles Mögliche zu unterstellen: Die Obrigkeit, so schreibt der „Oberrheinische Revolutionär“, wolle die Ehe verbieten, die Ämter, so heißt es zu einer anderen Zeit, bezahlten Flüchtlingen Bordellbesuche. Dass so etwas für viele Menschen überhaupt denkbar ist, liegt daran, dass Institutionen nicht primär darauf ausgerichtet sind, transparent und für alle verständlich zu sein, sondern – wie man heute sagt – als black boxes operieren: Es macht gerade die Funktionsfähigkeit von Institutionen aus, dass wir Außenstehenden ihre inneren Abläufe, die Wege, wie sie Entscheidungen treffen, kaum je ganz nachvollziehen können. Wer bei einem Bewerbungsgespräch abgelehnt wird, kennt zwar das niederschmetternde Ergebnis, wird aber nie genau erfahren, wie es zustande gekommen ist. Das weiß nur derjenige mit absoluter Sicherheit, der am Verfahren beteiligt gewesen ist – und sich deswegen niemals auf die Stelle hätte bewerben können. Dem Abgelehnten bleibt nur das Vertrauen, das alles mit rechten Dingen zugegangen ist; und Vertrauen schlägt nur allzu schnell in Misstrauen um.“
Nein, Vertrauen schlägt in Misstrauen um, wenn man – um Dümlings Jargon fortzusetzen – „verarscht“ worden ist. Die Bauern bilden sich ja nicht ein, dass sie schlecht behandelt worden sind (womit wir wieder bei einem vorherigen Kritikpunkt sind; treiben die Bauern nur diffuse Ängste, oder sind diese legitimiert? Was folgt als historische Lehre aus der letzten Betrachtung? Was bedeutet das hinsichtlich der AfD?).
Pfeifer wie der „Oberrheinische Revolutionär“ sind überdies deswegen zweifelhafte Bezugspunkte, da sie nicht in den späteren Auseinandersetzungen genannt werden. Niemand in der Reformation oder im Bauernkrieg rekurriert auf sie (im Gegensatz zu bspw. Hus). Insofern ist auch gar nicht nachzuverfolgen, wie viele Leute wirklich daran glaubten, die Fürsten könnten die Ehe abschaffen. Dümling übersieht außerdem, dass diese Überstülpung der feudalen Gesellschaft mit bürokratischen Strukturen nicht nur die normalen Leute befremdet – selbst die Fürsten, die Juristen eingestellt haben, um ihren Staat zu modernisieren, ist es oftmals nicht geheuer, was da passiert.
„Erwiesene Ungerechtigkeiten innerhalb von Institutionen, etwa Korruption, werden daher leicht mit der Formel „Wir haben’s ja gewusst“ quittiert. Die politisch genutzten neuen Medien – früher Flugblätter, heute Facebook-Kommentare – formulieren diesen Generalverdacht, den die alten Medien dann gerne weitertragen.“
Was sind hier die alten Medien? Skriptorien? Buchmaler?
„Der permanente Verdacht bringt psychologisch einen nicht geringen Gewinn: Der Umwelt mit einem „Wir wissen, dass ihr was im Schilde führt“ zu begegnen, schafft schließlich die Gewissheit, dass für die mögliche Unbill im eigenen Leben eine fremde Ordnung zuständig ist.“
Die Idee, dass man AfD wählt, weil der sorgenden Hausfrau der Osterkuchen misslungen ist – auf dieser intellektuellen Höhe bewegt sich der Satz. Also doch ein Bekenntnis zu den diffusen Ängsten der Bauern, die später eigentlich grundlos revoltieren, weil alles in Butter?
„Liest man die Traktate der frühmodernen Propheten und vergleicht sie mit dem, was AfD etc. äußern, dann fällt eine beeindruckende Gabe auf: Nicht nur der Pfeifer von Niklashausen oder der Oberrheinische Revolutionär können in die Zukunft schauen, auch Gauland und Co. können das; weswegen es mehr als eine Randnotiz ist, dass Sarrazins epochales Deutschland schafft sich ab! eben diesen Titel trägt: Propheten sprechen immer im Modus der Notwendigkeit, nie im Modus der Möglichkeit – „Möglicherweise schafft sich Deutschland ab“ wäre kein Bestseller geworden.
Der Pfeifer weiß, dass die Eitelkeit der hohen Herren zur Apokalypse führen wird, der Oberrheinische Revolutionär weiß, dass Gottes Strafgericht sehr bald mit dem elenden Ehebruch ein Ende machen wird. Sie verfügen über absolute Zukunftsgewissheit, sie kennen keinen Zweifel, worin ihnen die aktuellen Propheten in nichts nachstehen: Sie alle leiden an Endzeitfieber, und es ist zugleich Erreger und Symptom dieser Krankheit, dass die Maladen die Zukunft kennen. Als ob ihnen, so wie damals dem Oberrheinischen Revolutionär, der zukunftskundige Erzengel Michael erschienen ist, wissen auch Gauland & Co., dass Merkels Flüchtlingspolitik in den Untergang führen muss. Irrtum und Zweifel sind ausgeschlossen.“
Aber „Wir schaffen das!“ ist ohne Zukunftsschau abgelaufen und besser? Verwechselt hier Dümling nicht eher die im quasi-sozialistischen Duktus abgelaufenen Parolen des Jahres 2015, die uns ein besseres, strahlendes, ja bestes Deutschland aller Zeiten versprachen? Warum sind diese von der Elite ausgegebenen Heilsversprechungen besser als die des Pfeifers oder der Mahner von der AfD? Wo war der Irrtum und Zweifel in der Regierung Merkel, wenn es um Zuwanderung, die Energiewende und die EU ging? Gerade die größten Anhänger des „Ende der Geschichte“ sitzen heute in den Redaktionsstuben und den Politsesseln, sind also gerade in jener Elite vertreten, die Dümling hier im Grunde verteidigt.
Anmerkung: wie im Übrigen bei all dieser Theorie über Elite und Volk kein einziges Mal der Name des Zeitgenossen Machiavelli fällt, ist schon atemberaubend.
„Dass alles immer auch anders werden kann als erwartet, ist aber das, was die Moderne ausmacht. Nicht mehr Gottes Plan modelliert das Weltgeschehen, sondern komplexes menschliches, nur schwer vorhersehbares Handeln. Diese kontingente Zukunftsreferenz, die jeder von uns kennt, wenn er sagen soll, ob er in fünf Jahren noch mit seinem Partner zusammen sein, noch Fleisch essen oder ob er nicht längst ausgewandert sein wird, kann eine Zumutung sein und leicht zu einem kulturellen horror vacui führen.“
Ja. Bei regressiven Linken.
„Und das ist es wohl, woran die Antimodernisten leiden. Sie können nicht ertragen, dass sich Kategorien auflösen (oder neu bilden), mittels derer man einstmals über Zukunftsgewissheit verfügen konnte: die Kategorie des Volkes, die einst versicherte, wie sich bestimmte Kollektive verhalten werden; die Kategorie der Nation, die einst versicherte, zu wem man gehört und nicht gehört; die Kategorie des Geschlechts, die einst versicherte, wie sich bestimmte Individuen lieben.“
Wir sehen vor unseren Augen: ein nächtlicher Salon, darin auf- und abgehend Beatrix von Storch, mehrfache Augenringe, die Haare zerfleddert, ringend mit dem schrecklichen Gedanken, was die Kategorien von Volk, Nation und Geschlecht angeht.
Ja, eben nicht. Das macht Konservative aus.
„Menschen, die vom Endzeitfieber befallen sind, befinden sich in einem Erkenntniszustand, der denjenigen verschlossen bleibt, die ständig abwägen und Bedenken angesichts einer unklaren Zukunft haben. Deswegen übersehen sie, dass die obsolet gewordenen Kategorien längst durch neue, sehr viel leistungsfähigere Orientierungsmodelle ersetzt worden sind, wir also keinesfalls den horror vacui ertragen müssen.“
Womit wir bei der Nagelprobe wären: dass das Multikulti-Experiment krachend gescheitert ist, zeigt sich in so vielen Statistiken, dass es fraglich ist, ob die „viel leistungsfähigeren Orientierungsmodelle“ wirklich effizienter sind, wie hier unbewiesen behauptet wird. Gerade das macht ja den Konservatismus aus, dass er prüft, was sinnvoll ist. Und nur, weil 60 Geschlechter mehr sind als zwei Geschlechter, heißt das nicht zwingend, dass sie besser sind. Es ist in etwa so, als sagten die muslimischen Eroberer von Konstantinopel: „Keine Sorge ihr lieben orthodoxen Griechen, es gibt ja immer noch das Osmanische Reich!“
„Dass man vielleicht nicht allzu überzeugt sein sollte, was ein auf Fachhochschulfassaden geschriebenes Gedicht bedeutet, sondern als Leserin wie als Autor anerkennt, dass auch eine ganz andere Bedeutung möglich sein kann; dass man vielleicht nicht immer im Gestus des „Hier stehe ich und kann nicht anders“ seine Meinung zu allem und jedem in die Welt posaunt, weil es sein kann, dass diese Meinung ja irgendwann eine andere sein könnte.“
Meine persönliche Lieblingspassage in diesem Text. Im Grunde dürfte dann kein Journalist mehr etwas schreiben; und auch Dümling nicht mehr. Denn auch seine Meinung könnte irgendwann eine andere sein …
„Und schließlich lehrt dieser Vergleich, dass man nicht sicher sein sollte, wie sich die politische Gegenwart entwickeln wird: Möglicherweise werden wir in wenigen Jahren AfD etc. längst vergessen habe – oder uns in Weimarer Verhältnissen befinden.“
Also sind die AfDler doch Nazis mit Holocaustabsichten. Gut, dass wir über die Frühe Neuzeit gesprochen haben.
Oder eben doch nicht.