Das Banner von San Marco

25. April 2018
Kategorie: Die Löwen | Europa | Gemälde und Fotographereyen | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Mittelalter | Regionalismus | Venedig | Zum Tage

Es gibt wohl kein Heiligentier das so eine Karriere gemacht hat wie der Löwe von San Marco. Wer kennt nicht den geflügelten, goldenen Löwen von Venedig, der auf seiner rot-goldenen Fahne im Wind der Lagune weht? Zumindest der hiesigen Leserschaft sollte er bereits einige Male über den Weg geflogen sein.

Dabei besteht eine erwähnenswerte Besonderheit, die in diesem Zusammenhang selten erwähnt wird. Der Markuslöwe ist das Wappentier Venedigs und ziert die Flaggen; eine offizielle Flaggenverordnung kannte Venedig hingegen nicht. In der Vergangenheit gingen Historiker sogar so weit, dass es auf dem Festland – der Terraferma – keine Löwenflaggen auf öffentlichen Plätzen gegeben hätte; diese Mär wurde besonders in den letzten Jahrzehnten betont, da sich in Venetien eine immer stärker werdende Autonomiebewegung bildete, einhergehend mit einer Neubelebung venetischer und venezianischer Identität. Es erschien daher auch politisch opportun, Festland und Lagune zu trennen, und zu behaupten, die Regionalisten folgten einer unbewiesenen Legende.

Tatsächlich wissen wir mittlerweile von Edikten und Verfügungen, dass auch in anderen Städten auf öffentlichen Plätzen Markusflaggen wehten. So ist ein Briefwechsel zwischen der politischen Führungselite im friaulischen Udine und der Hauptstadt erhalten. Das Sekretariat des Dogen schreibt dabei am 23. August 1753, dass Udine eine neue Löwenflagge aufzuhängen habe, weil die alte zu verschlissen sein. Es ist dies der Beweis, dass in den verschiedenen Städten der Serenissima nicht nur die lokalen Flaggen gehisst wurden, sondern die Löwenflagge Identitätssymbol der gesamten Republik war.

Wie konnte sich demnach die Legende bilden, die berühmten Flaggen hätte es nur in Venedig gegeben? Ein Grund mag das Unwissen darüber sein, was aus den vielen Fahnen geworden ist, die von Bergamo bis Zypern einst die Zinnen venezianischer Festungen und Ratshäuser schmückten. Löwenstatuen wurden oftmals zerschmettert, aber selbst von diesen blieben Ruinen übrig, die sich später wieder instand setzen ließen. Der Verlust der Löwenbanner dagegen speiste wohl die Ansicht der meisten Forscher, dass es solche außerhalb Venedigs nur wenige gegeben hätte, sieht man von der Marine oder der Armee ab. Eine These, die schon daran krankt, dass einige Städte das Privileg hatten, einen venezianischen Gonfalon zu bewahren und zu beschützen, eine Ehrenauszeichnung, deren berühmteste Trägerin Perast in der Bucht von Kotor war. Dort wurde der letzte venezianische Gonfalon unter dem Altar verborgen, damit die Franzosen ihn nicht zerschneiden konnten. Die Grablegung des Gonfalon im montenegrinischen Städtchen gilt als eigentliches Ende der Republik Venedig, das mit einer großen Prozession am 23. August 1797 begangen wurde. Der Doge hatte bereits 12. Mai den Corno abgelegt, die Franzosen die Hauptstadt am 14. Mai besetzt.

Wenn wir uns den Gonfalon bzw. die Flagge Venedigs vorstellen, kommt natürlich die klassische rote Flagge mit dem goldenen Löwen in den Sinn, welche wir noch heute in den Kanälen der Serenissima oder auf dem venetischen Land finden, dort, wo der Venetismus am stärkste ausgeprägt ist. Wenn wir allerdings in den udinesischen Fall schauen, wo eine ruinierte Flagge durch eine neuere ersetzt werden soll, ist die Sache nicht ganz so einfach: denn es wird nirgendwo erwähnt, wie diese Löwenfahne aussieht. Denn da Venedig seine Flagge niemals kodifizierte, gab es vor dem Fall der Republik eine ganze Reihe von Löwenbannern. Dieser Beitrag soll einen kurzen Überblick zu diesem Thema bieten.

Eine Löwenfahne kann es in Venedig erst geben, wenn auch der Schutzpatron Venedigs seine letzte Ruhe in der Lagune findet. Vor dem 9. Jahrhundert ist dies aber nicht Markus, sondern der Heilige Theodor Tiro von Amaseia, der Legende nach der Bruder des Heiligen Georg. Er steht bis heute neben dem Markuslöwen auf einer Säule am Molo. Venedigs erste Flagge war ein goldenes Kreuz auf azurblauem Untergrund. Das wirkt gewöhnungsbedürftig, aber sieht man sich die Wappen der vier Seerepubliken an, die bis heute im italienischen Marinewappen ihren Platz finden, fällt auf, dass Pisa, Genua und Amalfi allesamt Kreuze auf verschiedenem Hintergrund auszeichnen und nur Venedig aus der Reihe fällt.

Mit der Ankunft des Heiligen in Venedig ändert die Republik erstmals ihre Fahne. Einen Löwen kennt Venedig jedoch noch nicht: statt des Evangelistentieres wird der Heilige dort mit Schriftrolle abgebildet. Ende des 13. Jahrhundert taucht der Markuslöwe zum ersten Mal auf, allerdings noch nicht schreitend („andante“) wie wir ihn heute kennen, sondern in Frontansicht („in moeca“). Im Spätmittelalter wird dann eine weiße Flagge mit einem roten Löwen bestimmend, der eine Schriftrolle hält. Die Mosaike von San Marco haben diese alte Flagge festgehalten, die bis in der Renaissance üblich war.* Ab dem 14. Jahrhundert lösten Buch bzw. Schwert die Schriftrolle ab.

Die nächste Entwicklung findet in der Renaissance statt. Die venezianische Flagge bekommt ihre sechs Spitzen – sie symbolisieren die sechs Stadtteile Venedigs – und ihre goldenen Verzierungen, der Löwe bekommt jene schreitende Gestalt, die wir heute kennen. Je nach Quellenlage liest man von roten oder blauen Flaggen. Blau gilt als eigentliche Stadtfarbe Venedigs – vergleiche die erste Fahne mit dem Kreuz – doch scheint rot auch aus praktischen Gründen eine sinnige Wahl, da sie zur See besser zu erkennen ist. Der Gonfalon kennt einen goldenen Löwen auf blauem Untergrund im Quadrat, die Streifen und der Rest der Fahne ist rot gehalten.

In der Marine setzt sich bald die gänzlich rot-goldene Version durch, wie wir sie heute kennen. Einige Historiker vermuten, dass die Wahl mit dem Fall Konstantinopels zusammenhängt, da Venedig sich selbst zur Erbin und Tochter von Byzanz stilisierte. Die letzte Flagge der herrschenden Palaiologen weist eine ähnliche, rot-goldene Farbwahl auf, allerdings mit dem byzantinischen Doppeladler statt Markuslöwen. Weil die Marine das Kennzeichen der Serenissima war, avancierte diese Flagge posthum zum Kennzeichen Venedigs, obwohl sie niemals die „offizielle“ Flagge war (denn eine solche gab es schlicht nicht).

Uns sind diese typischen Venedig-Flaggen sehr vertraut, doch muten die heutigen Widergänger recht stilisiert und schlicht an, verglichen mit einigen prächtigen Stücken, die in den alten Tagen der Republik an den Schiffen Venedigs waberten. Die Markusflagge war immer mehr als nur ein Signaltuch: die Fahne repräsentierte die Republik. Wurde sie entehrt, bedeutete das eine Entehrung der Republik. Ein Krieg mit Padua brach im Mittelalter deswegen aus, weil sich die Paduaner an einem der Banner vergriffen und dieses zerrissen hatten.

Bandiera Contarini

Beispielhaft sei hier das Banner des Dogen Domenico Contarini vorgeführt, das den Krieg von Candia (1644-1669) erlebte. Es handelt sich um eine der wenigen erhaltenen Banner Venedigs und füllt heute eine ganze Wand im Museo Correr. Es wehte einst über der Galeere des Dogen. Die Details lassen erahnen, welche Bedeutung die Venezianer ihren Flaggen zusprachen und warum diese das Stück so in Ehren gehalten haben: über dem Löwen sehen wir den Heiligen Geist in Taubenform, links den Erzengel Gabriel, rechts davon die Jungfrau Maria (Mariä Verkündigung gilt als Geburtstag Venedigs), den Heiligen Franziskus, den Heiligen Markus, die Rosenkranz-Madonna mit Jesuskind, den Heiligen Antonius von Padua und den Heiligen Domenicus. Den Markuslöwen umringt also ein ganzes Ensemble von Heiligen, Engeln und dem Heiligen Geist. Die Kampfflaggen der italienischen Städte waren auch zugleich immer Banner des Patrons, die einer Prozessionsflagge gleich vorangetragen wurden, sie waren geweiht und wurden daher besonders geschützt. Beachtlich sind auch die Löwen „in moeca“, sowie das Wappen der Familie Contarini auf den Sestieri-Streifen. Die Verzierungen verwandeln sich dort in galoppierende Pferde.

Was am Löwenbanner ebenfalls auffällt und sich von den heutigen Darstellungen eher unterscheidet, ist die Darstellung des Löwen „zu Lande und zu Wasser“. Mit den Vorderläufen steht das Evangelistentier an Land, mit den Hinterläufen im Wasser. Festungen, Burgen oder Städte zieren Küste bzw. Fels. Das Motto „par tera par mar“ (zu Lande und zu Wasser) symbolisiert den Herrschaftsanspruch Venedigs seit dem 15. Jahrhundert, als die Republik große Festlandflächen in Norditalien erwarb, eben jenes Territorium von der östlichen Lombardei bis hin ins Friaul. Der berühmte Löwe von Carpaccio, den auch dieses Diarium auf seiner Hauptseite führt, ist die Vollendung dieses Themas.

Die rot-goldene Flagge setzte sich – wie erwähnt – als Erbe der venezianischen Marine durch. Bis heute findet sich jedoch im Fahnenmeer Venedigs ebenso – wenn auch seltener – eine ähnliche Flagge in blauer Farbe wieder. Ebenso wurde vorher erwähnt, dass blau die eigentliche Farbe Venedigs ist. Was hat es daher mit dieser Flagge auf sich? Die Spekulationen gehen bei der Frage weit auseinander. Bis heute zeigt das Wappen Venedigs einen goldenen Löwen auf blauem Grund. Die Vermutung liegt nahe, dass die blaue Version die ursprünglichere ist. Da die rote Flagge eine Marineflagge war, assoziiert man die blaue Flagge eher mit der Terraferma. Andere Interpretationen erkennen in der roten Flagge eine Kriegsflagge, in der blauen Farbe jene der alliierten Städte Venedigs. Wieder andere behaupten, dass die blaue Markusflagge die Ursprungsflagge war, die dann von der roten abgelöst wurde, weil man sie auf dem Wasser besser sehen konnte, und nur in einigen Landstädten verblieb. Vieles bleibt hier ungeklärt und offen: bekannt ist jedoch, dass auch die blaue Markusflagge ihre Zeit hatte, und vermutlich noch um 1500 an öffentlicher Stelle wehte.

Weniger bekannt und doch erwähnenswert ist eine weiße Flagge mit dem Markuslöwen. Sie wurde lange Zeit als eine „Friedensflagge“ missdeutet, ist aber im Grunde das Gegenteil. In einigen Ländern des frühneuzeitlichen Europas finden weiße Flaggen besonders im Krieg Bedeutung. Frankreich verwendete sogar zeitweise eine ganz blanke Flagge als Kriegsflagge.* Im 18. Jahrhundert weht den venezianischen Regimentern oftmals eine weiße Flagge mit goldenem Löwen voran. Dabei ist dieser häufiger mit einem Kreuz als mit einem Schwert oder Buch abgebildet. In den venezianischen Regimentern findet die Kombination „par tera par mar“ häufige Verwendung, der Löwe bäumt sich dabei auch mit dem Schwert auf oder stützt sich auf einen Felsen. Vom großen Reichtum venezianischer Armeeflaggen der verschiedenen Kommunen, Söldnertruppen oder Condottieri sind heute nur noch zwei erhalten: nämlich zwei Regimentsflaggen, die im Krieg der Lega von Cambrai (1508-1516) von den Schweizern erbeutet wurden und bis heute als Trophäen in Appenzell aufbewahrt werden. Die restlichen Varianten sind uns heute nur noch über Bücher und Militäraufzeichnungen überliefert.

Appenzeller Löwenflagge 1
Appenzeller Löwenflagge 2

Neben diesen Löwenbannern existierten noch eine ganze Reihe von Kommunen und Städten, die das Evangelistentier in ihr Wappen und damit ihre Flagge übernahmen. Beispiele sind die 7 (zimbrischen) Kommunen und das Cadore-Tal. Beide Täler besaßen eine Sonderstellung in der Republik und stellten im Ernstfall Truppen. Auf dem Feld wehten dann die eigenen Markusstandarten im Wind. Es muss also nicht immer rot sein …

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*Eine Vorform der bekannten roten Flagge, hier allerdings mit dem Löwen in moeca und nur drei Spitzen, sehen wir hier ebenso.

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