Der folgende Beitrag erschien am 28. Februar in der Tagespost. Freundlicherweise wurde mir die Erlaubnis erteilt, ihn hier ebenfalls zu veröffentlichen.
Gotteshäuser sind steingewordene Geschichte der Kirche. Sie sind keine bloßen Zeugen oder Relikte. Es ist auch nicht allein ihre künstlerische Materie, die sie der weltlichen Zeit enthebt, die nur in Jahrhunderten denkt, weil gotische Künstler dort ihre Fresken malten, Bildhauer Heiligenstatuen aus dem Marmor schlugen oder bis heute die barocken Glocken läuten, die ein Gießer vor 300 Jahren schuf; Kirchenräume konservieren eine eigene Atmosphäre, die Gegenwart und Vergangenheit verbindet.
Der Besucher fühlt sich nicht nur in eine Zeit zurück versetzt – er glaubt, einen gewissen Zeitpunkt oder die gesamte Geschichte, die sich in diesen Räumen zugetragen hat, nachempfinden zu können. Manchmal ist es nur eine bestimmte Periode, ein bestimmter Geist, wenn in Gegenwart der Sixtinischen Malereien die Renaissance selbst erwacht; manchmal ist es aber auch die gesamte Kirchengeschichte, die sich in den Domen oder Kapellen im Kleinen widerspiegelt.
Eine solche Kirche ist Santa Giustina in Padua. Die siebtlängste Kirche Italiens zählt zu einer der größten der Christenheit. Ihre Kuppeln und Kuppeltürme prägen die Silhouette der Altstadt. Der imposante Bau erhebt sich am Prato della Valle, einem der größten Plätze Italiens in ovaler Form, um den sich 78 Statuen aus der paduanischen Geschichte scharen – darunter Päpste, Kaiser und Dogen. Der unbedarfte Wallfahrer verwechselt die Kirche aufgrund ihrer Dimensionen leicht mit der Basilika des Heiligen Antonius, die nur etwas weiter entfernt liegt. Während es die Massen der katholischen Pilger vor allem zu diesem zieht, wird die Heilige Justina gerne vergessen.
Dabei waren Justina und ihre Kirche einst mindestens so prominent wie der beliebte Antonius. Die Stadtpatronin Paduas erfreute sich im Mittelalter und der Frühen Neuzeit besonderer Verehrung; in der Republik Venedig wurde sie teils auf eine Stufe mit dem Heiligen Markus gesetzt. Auf den Meisterwerken der venezianischen Malerei tritt sie immer wieder auf Triptycha, Gedenkbildern oder anderen Heiligenkonstellationen auf. An ihrem Heiligentag, den 7. Oktober, schlägt Venedig mit der Heiligen Liga die Osmanen im Jahr 1571 entscheidend. Santa Giustina avancierte zu einem zweiten Staatsheiligtum neben der Markuskirche in Venedig – sie war das größte Gotteshaus der Serenissima. Paolo Veronese verewigte die junge Christin nicht nur auf seinem berühmten Gemälde zur Seeschlacht von Lepanto, sondern malte auch das monumentale Altarbild der Basilika.
Dabei führt der Fall der Heiligen Justina das immerwährende Schicksal der Kirche vor Augen. Die Geschichte des Christentums ist auch immer eine der Verfolgung, der Erniedrigung, der Ausgrenzung und der Niederlage, die erst durch das Nachleben zum glorreichen Triumph wird. Justinia stirbt als Märtyrerin in Zeiten der römischen Christenverfolgung. Die Kirche wird seit der Hinrichtung des Heiligen Stephanus aus dem Blut ihrer Märtyrer geboren; der Tod Christi willen ist die höchste Auszeichnung und der ultimative Glaubensbeweis. Was die Welt als Schmach wertet, ist für das Christentum die Erfüllung.
Die Kunst feiert und verherrlicht diesen Sieg des Christentums über die pagane Antike immer wieder in der Architektur, der Malerei und der Bildhauerei. Die Nachgeborenen kennen nur noch diesen Triumph, nicht aber die Niederlage. Was Jahrhunderte fern scheint, hat aber nichts an Aktualität verloren. Christen sind nach Jahrhunderten (wieder) die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft der Welt. Während sich die europäischen Nationen zum Zeitpunkt der letzten Jahrhundertwende trotz aller Nationalismen und Säkularismen immer noch als christliche Länder verstanden, welche die Rechte der Christen im Nahen Osten wahren wollten, quittiert der heutige Westen, der die Menschenrechte zur neuen Monstranz erhoben hat, die Christenverfolgungen in der islamischen Welt und in China mit Achselzucken.
Neu ist dabei nicht, dass man die Lebenden verrät. Der Verrat ist dem Christentum bekannter als jeder anderen Religion, er ist eines der Hauptereignisse der christlichen Erzählung. Neu ist, dass es nunmehr auch die Toten vergisst. Genau dieses Motiv ist es jedoch, das die christliche Gemeinde am Leben erhält. Zu Santa Giustina gehört auch eine Kapelle aus frühchristlicher Zeit, die nahe bei den Märtyrern aus eben jener Epoche erbaut wurde. Dort fanden sich im Mittelalter die Reliquien unzähliger Heiliger, die man in Padua verehrte – neben der Justina auch die Überreste des Apostels Matthias und des Evangelisten Lucas. Beide liegen heute in ihren eigenen Kapellen innerhalb der Basilika.
Der Verbleib des Evangelisten Lukas ist eine der großen Merkwürdigkeiten des gewaltigen Kirchenbaus. Jede andere Stadt hätte einem der wichtigsten Heiligen des Abendlandes eine eigene Kirche gebaut, mit allen Ehren und Kunstwerken, die solch ein prominenter Patron mit sich gebracht hätte. Dagegen mutet die letzte Stätte des Evangelisten geradezu schlicht an. Noch mehr: der Sarkophag wirkt in der Umgebung aus weiß getünchten Wänden und monumentalen Bögen ohne große Verzierung deplatziert. Einzig die Madonna aus Konstantinopel, die über dem Reliquienschrein hängt, mag die Ruhestätte des ersten Ikonenmalers der Weltgeschichte abrunden.
Es ist jener Moment, da dem Besucher klar wird, dass etwas in dieser Kirche nicht stimmt. Die Geschichte hat trotz Tünche ihre Spuren hinterlassen und sich in die Atmosphäre eingegraben. Untersucht man den Schrein des Heiligen Lucas genauer, finden sich Graffiti, Einkerbungen und Autogramme im Stein. Ein „Schubert 1866“, der Santa Giustina besucht hatte, sticht deutlich heraus. Betrachtet man die verschiedenen Gemälde in den Seitenkappellen genauer, fällt auf, dass sämtliche Rahmen fehlen.
Santa Giustina selbst ist ein Symbol und Zeuge der hellsten und dunkelsten Perioden des Christentums. Neben der Glorie und Verherrlichung erahnt man einen tiefen Fall. Die Benedektinerabtei fand ihr Ende im Jahr 1797, als Napoleon in Venetien einmarschierte. Die Kunstgüter wurden beschlagnahmt und die Abteibibliothek abtransportiert, die Kirche geschlossen – man spekulierte sogar über ihren Abbruch. Der General der Revolutionsarmee quartierte hier seine Invaliden ein, später funktionierten die Franzosen die Abteigebäude zur Kaserne um.
Für Sekunden muten die Bögen, die für italienische Verhältnisse einfache Einrichtung und die weißen Mauern wie die Innenräume jener „Tempel der Vernunft“ an, die im revolutionären Frankreich die Kirchen ersetzen sollten. Es ist ein nüchterner Stil, wie er nach dem Barock und Rokoko in vielen Kirchen in Mode kam. Sie rufen in Erinnerung, dass das Christentum keine lineare Geschichte durchgemacht hat. Verfolgungen, Rückschlage und Niedergang wechselten sich immer wieder ab.
Die Lage um 1800 war ebenso wenig rosig wie die unter Diokletian. Die Mehrheit der Bischofsstühle auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches zeichnete sich durch Vakanz aus. Frankreich, das Mutterland der Revolution, hatte zwei Drittel seiner Priester – über 30.000 – eingebüßt, die Mehrheit der Verbliebenen war im Greisenalter. Priesternachwuchs war Mangelware. 1798 setzte Napoleon gar Papst Pius VI. ab, die Franzosen riefen in Rom eine Tochterrepublik aus. Der Papst wurde nach Frankreich verschleppt und starb 1799 in der Zitadelle von Valence. Die Zeitgenossen verspotteten ihn als „Pius, den Letzten“. Sein Nachfolger Pius VII. musste unter österreichischem Schutz gewählt werden – nicht in Rom, sondern in Venedig.
Während sich der Katholizismus nach dem Wiener Kongress von 1815 erholte und regenerierte, war dies bei Santa Giustina nicht der Fall. Die Abtei blieb aufgehoben, das Gelände ein militärischer Sperrbezirk. Die Italiener übernahmen ab 1866 die Kaserne. Der Streit zwischen dem italienischen Königreich und dem Papst ließ keine Erneuerung des Geisteslebens zu. Erst 1923 kehrte eine kleine Mönchsgemeinschaft zurück.
Die heutige Benediktinergemeinde, die bei Santa Giustina lebt, ist nur ein kleiner Abglanz dessen, was früher die Abtei und ihre Kirche ausfüllte; sie geht beinahe verloren, so wie der einsame Besucher zwischen den kolossalen Pfeilern der Basilika. Das Bild erinnert an den Zustand der Kirche, der das Erbe viel zu groß geworden ist, um es auszufüllen; die immer noch prägend wirken will, obwohl die Zahl der Gläubigen und der Einfluss der Institution zurückgegangen sind. Es bleiben die kleinen, festen Gemeinschaften, wie sie Benedikt XVI. bereits ankündigte. Das Zeitalter der Volkskirchen ist vorüber, das Senfkorn kehrt zurück.
Das Eingeständnis mag für einige schmerzhaft sein. Orte wie Santa Giustina erinnern jedoch daran, dass dies nicht das Ende der Geschichte bedeutet. Von den Zuständen unter Diokletian oder Napoleon ist das heutige Christentum weit entfernt. Woran es jedoch mangelt, sind Märtyrer, die weniger mit ihrem Blut bezahlen, als lebendiges Zeugnis geben. Das christliche Gottesbekenntnis ist im Zeitalter des Relativismus zum Tabubruch geworden. Dagegen aufzubegehren – das ist das eigentliche Vermächtnis der Heiligen Justina von Padua.