In jüngster Zeit kursieren in den Medien und sozialen Netzwerken allerlei Halbwahrheiten und schiefe Vergleiche, was das Verhältnis der Scharia zur deutschen bzw. europäischen Rechtstradition betrifft; der folgende Beitrag kann daher auch als ein Addendum zum Disput verstanden werden, ob die Schiiten und Sunniten derzeit einen Dreißigjährigen Krieg erleben. Mit dem „göttlichen Recht“ der Überschrift ist natürlich nur das weltlich-öffentliche Recht gemeint.
Zur Ausgangslage: seit der zunehmenden Beschäftigung deutscher Gerichte mit der Paralleljustiz in den scharia-konformen wie kulturbereichernden Milieus hiesiger Art zerraufen sich die Feuilletons der Wahrheitspresse und die Beraterstäbe der besten Politiker aller Zeiten ihre letzten Haare, wie man Islam und Rechtsstaat unter einen Hut bekommen kann. Dass der Nahe und Mittlere Osten eine ganze Reihe von Fällen zeigt, in denen dies trotz aller Bemühungen gescheitert ist, mag diese Leute nicht darin beirren, dass es nun hierzulande im Zeitalter zunehmender islamischer Radikalisierung besser laufen soll.
Der ausbleibende Erfolg in der Gegenwart wird mit Legendenbildung in der Vergangenheit zurechtgebogen. Die Geschichte lautet: in Europa war es auch mal finster und alles von der Kirche bestimmt, aber mit Aufklärung und Säkularisierung änderte sich das. Seitdem gibt es den Rechtsstaat, seitdem sind alle schlimmen Dinge aus der Welt geschafft und wir leben in Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Wenn der Islam bzw. die Länder, in denen der Islam die bestimmende Ideologie ist, diese Entwicklung ebenfalls durchmachen, dann wird sich dasselbe wiederholen.
Der notwendige Einschub zuvorderst: ja, es ist mir bewusst, dass es verschiedene Rechtstraditionen im Islam gibt. Ja, ich weiß, dass diese in Marokko anders aussehen kann als in Indonesien. Und ja, es ist mir ebenfalls bewusst, dass diese sich historisch wandeln konnten, wie zum Beispiel die Auslassung von Strafen in gewissen Kontexten. Dies alles berührt aber die prinzipielle Frage nicht und auch nicht deren Ergebnis.
Die Theorie, dass die Entwicklung europäischer Rechtsauffassung mit jener der islamischen Scharia vergleichbar sei, krankt an gleich mehreren Stellen. So reimt sich zwar die Geschichte, sie muss sich aber nicht notwendigerweise wiederholen. Entwicklungen, die in einem Teil der Welt stattfinden, müssen nicht notwendigerweise in anderen erfolgen, selbst wenn die Ausgangsfaktoren sehr ähnlich sind. Es liegt der ideologische Irrtum eines notwendigen Fortschritts zugrunde, der immer nach dem System der Aufklärung und Säkularisierung erfolgen muss. Bisher ist dieser Fall nur für den europäischen Kulturraum (samt Kolonien) festzustellen. Diese Mutmaßungen folgen einem dialektischen oder fortschreitendem Geschichtsbild; für ein solches gibt es jedoch bisher keine gültigen Beweise. Der Iran, die Türkei, Ägypten, Malaysia und andere sind Beispiele, wo eine „konservative Wende“ eine Säkularisierung eher zurückgedreht hat.
Zudem geht ein solches Bild der „Säkularisierung“ der Scharia davon aus, dass grundsätzlich dieselben Gegebenheiten auch für islamische Länder stimmten. Dabei wird der offensichtlichste Unterschied übersehen: für jenen Typus des Theoretikers scheinen Christentum und Islam komplett austauschbar, so als handelte es sich um völlig vergleichbare Konzepte. Dass aber Religionen in ihrer Quintessenz Weltanschauungen sind, die Mentalitäten, Sitten, Traditionen und allgemeinhin Kulturen jahrhundertelang prägen, scheint man zugunsten einer Gleichheit aller Religionen zu übersehen. Das mag in die Ideologie einer irgendwie gearteten „Gleichheit aller Religionen“ passen, negiert aber die größeren und kleineren Eigenheiten, die solche komplexen Systeme mit sich bringen. Das Christentum hat – ganz banal gesprochen – das Abendland hervorgebracht, der Islam das heutige Morgenland. Es grenzt an Chauvinismus, vom Standpunkt einer universellen Gleichheit aller Menschen davon auszugehen, dass Christen wie Muslime auch gleich sein wollen und ihre historischen Erfahrungen und Ereignisse komplett austauschbar seien. Dass die Aufklärung aus eigener Kraft nur im europäischen Kulturraum entstand, ist eher ein Hinweis darauf, dass es das Christentum als Voraussetzung braucht, nicht, dass dieser Prozess zwangsläufige in allen anderen Kulturen auftreten wird. Womöglich ist Hilaire Bellocs Definition des modernen Liberalismus als „große Häresie des Christentums“ in diesem Sinne am treffendsten.
Zu diesen offensichtlichen Unterschieden gehört jedoch auch die Geschichte der europäischen Rechtspraxis, die selbst von gewissen Juristen mittlerweile im Zuge eines „virtue signaling“ und allgemeiner Multi-Kulti-Euphorie als irgendwie historisch mit der Scharia als vergleichbar angesehen wird. Es herrscht die merkwürdige Auffassung vor, die Kirche hätte im Mittelalter das Recht diktiert; auch hier schwingt der naive Glaube mit, der Islam befinde sich im historischen Stadium des Mittelalters und müsse sich daher zwingend über eine Reformation und Aufklärung hin zum modernen Säkularismus entwickeln.
Die Grundlage der Scharia – das gilt für alle islamischen Länder und durch die Zeiten für alle islamischen Emirate, Sultanate oder Kalifate – sind der Koran und die Hadithe. Beide gelten als Basis zur Auslegung der Rechtslehre des Islam. Sie zeigen zudem die typische Verquickung von Religion und Politik im Islam, die hier von Anfang an gegeben ist. Der Koran ist in seinem Inhalt unumstößlich, da er von Gott gegeben ist, der Interpretationsspielraum kann zwar je nach Rechtsschule abweichen, es ist dies jedoch die Crux, wenn man versucht, die europäische und die islamische Rechtspraxis zu vergleichen.
Denn im Gegensatz zur islamischen Welt war in Europa nicht etwa die Bibel Grundlage des öffentlichen Rechts. Bereits die mittelalterliche Universität unterscheidet kirchliches und öffentliches Recht eindeutig. Letzteres basiert auf der antiken Säule des Abendlandes, präzise gesagt: auf dem römischen Erbe. Die Rechtsgelehrten Europas rezipierten keine Aussprüche eines Propheten oder die Lehren eines Gottes, sondern die von den römischen Kaisern festgelegten Gesetze. Der Codex Justinianus war jenes „römische Recht“, das seit der Gründung der Rechtsschule von Bologna Karriere in Europa machte; die Fürsten und Kaiser übernahmen es, bereits Friedrich Barbarossa ließ sich von den Bolognesen beim Hoftag von Roncaglia (1158) beraten. Aufgrund der Vernetzung der mittelalterlichen Universitäten in Europa wurde dieses rein weltliche Gesetz die Grundlage abendländischer Gesetzesvorstellung. Die verschiedenen Sammlungen der römischen Kaiser wurde von Kaiser Justinian am 13. Februar 528 zu einem Codex zusammengefasst, haben aber in der Spätantike und im Frühmittelalter außerhalb des Byzantinischen Reiches nur wenig Bedeutung besessen. Selbst „kirchlich“ anmutende Gesetzesverfahren wie Hexenprozesse fußten im 16. Jahrhundert nicht etwa auf biblischen Quellen, sondern auf Vorschriften der Constitutio Criminalis Carolina, die 1532 von Karl V. ins Leben gerufen wurde – und im Wesentlichen weiterhin auf Römischen Recht fußte.
Der von einigen Verfechtern der Übereinstimmung der islamischen Schariaverhältnisse mit der mittelalterlichen Rechtspraxis vorgebrachte Einwand, die damaligen Rechtsgelehrten seien zum großen Teil Kleriker gewesen, und damit Imamen vergleichbar, ist ein Scheinargument; es berührt nicht den Umstand, was die Grundlage der Auslegung ist, nämlich weltliches und nicht göttliches Recht. Dass christliche Juristen römische Rechtstexte kommentierten, ändert so wenig am Ausgang wie die Kommentierung von Aristoteles-Ausgaben durch arabische Gelehrte – Aristoteles wird dadurch auch zu keinem Muslim.
Die römisch-deutschen Kaiser hatten auf dem Boden des Reiches ein großes Interesse daran, diese weltlich-römische Gesetzespraxis zu fördern. Im Mittelalter galt es vor allem, ein „Kaiserrecht“ aufzubauen, das von der spirituell-religiösen Dimension des Kaisertitels getrennt war, und in der Kontinuität zu den römischen Kaisern der Antike stand. Dies sollte die geistliche Herausforderung durch das Papsttum beschränken. In der Frühen Neuzeit dagegen hatte es vorrangige Bedeutung darin, das konfessionell und territorial geteilte Heilige Römische Reich durch Gesetzesverordnungen zu einen. Die frühneuzeitliche „Carolina“ war eine jener Institutionen, welche dem Reich seinen Charakter als friedensstiftender Rechtsverband gaben.
Vor und neben der Renaissance des Römischen Rechts im Mittelalter existierte immer noch eine ganze Reihe von „Volksrechten“, am bekanntesten dürfte darunter bis heute der Sachsenspiegel (13. Jahrhundert) sein. Eines der ältesten dieser Volksrechte war das Salische Recht (Lex Salica, 6. Jahrhundert) in fränkisch-merowingischer Zeit. Fragmente solcher alter Stammesrechte überlebten noch bis weit in die Frühe Neuzeit, und gelten bei der Thronfolgeregelung in manchem Fürstenhaus bis heute. Die Urheber solcher Stammesrechte waren vorwiegend die damaligen Könige, die altes Gewohnheitsrecht kodifizierten. Die Legitimation schöpften solche Texte mehr aus Sitten und Gebräuchen sowie der Autorität des jeweiligen Herrschers als aus einem vorher göttlich verfassten Text. Sie behielten aufgrund ihres Alters und der Autorität des einstigen Königs ihre Bedeutung, hatten jedoch keinen unabänderlichen Gehalt. Die von Dagobert I. autorisierte Lex Ripuaria (7. Jahrhundert) zeigt keinerlei christliche Einflüsse auf, sondern war immer noch tief im germanischen Stammesdenken verhaftet.
Demnach wird beim Vergleich der europäischen und islamischen Rechtsauffassung ein bedeutender Teil verschwiegen: nämlich, dass der Islam keine weltliche Gesetzessammlung kennt wie die römische, welche wiederum der abendländischen Kultur und Geschichte inhärent zugrunde liegt. Religion und Staat haben sich eben nicht erst ab der Aufklärung getrennt, die Trennungsmöglichkeiten waren Europa immer inhärent. Eine Form des geistlich-weltlichen Konflikts wie der zwischen Papst und Kaiser ist nur hier denkbar, schlicht, weil im Islam Papst und Kaiser in Form des Kalifen dieselbe Person sind. Einige Prämissen sind erst gar nicht gegeben, um einen irgendwie gearteten Vergleich zwischen christlicher und islamischer Entwicklung zu ziehen; die Schlussfolgerung, die Scharia sei durchaus mit der europäischen Rechtspraxis zu vereinen oder in ihrer Entwicklung ähnlich, ist daher mindestens aus historischer Perspektive nicht gegeben.
Es folgt: Gesetze werden nach historischer abendländischer Definition nicht von Gott gemacht, sondern von Herrschern erlassen. Der Koran ist eine feste, unveränderliche Rechtsgrundlage sakralen Grades – sie kann nicht aufgehoben, im besten Falle möglichst modern „interpretiert“ werden. Faktisch trifft letzteres nur sehr selten zu. Träumereien bezüglich eines modernen Islams, der sich einer historisch-kritischen Methode unterzieht, um den Koran und die islamische Rechtspraxis zu „verweltlichen“, bleiben das Programm einer verschwindend geringen Minderheit und stellen zudem einen primären Glaubensinhalt des Islams – der Glaube an die Göttlichkeit des Korans – infrage. Eine Änderung des Bestands ist daher nicht nur sehr unwahrscheinlich; sie könnte einen Glaubenskern des Islams selbst tangieren. Die Rechtsgelehrten der Scharia dürften sich dessen eher bewusst sein als die Träumer eines Euro-Islams – und demnach jede Entwicklung in eine solche Richtung bekämpfen.