Man muss es immer und immer wieder betonen: im Sommer 2017 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das in seiner Zensurweite als singulär auf bundesdeutschem Boden seit 1949 gelten muss. Weder hat man von der einen, noch von der anderen Diktatur in der deutschen Geschichte gelernt. Der Kult um das ewige „wehret den Anfängen!“ Richtung „rechts“ (ein kaum noch wirklich definierter Begriff in diesen Tagen) führt dazu, dass die Mahnenden selbst zu Anfangsschaffenden werden. Während das Parlament bei der Gleichstellung der traditionellen Ehe mit homosexuellen Lebenspartnerschaften randvoll gefüllt war, wohnte bei der Absegnung des Netzdurchsuchungsgesetzes (sic!) nur eine Minderzahl bei. Nein, der Tag ist nicht vergessen – und wird es auch lange nicht sein.
Wie bereits in einem vorherigen Artikel gezeigt, krankt diese Republik an einem Fehlverständnis von Freiheit und Freiheiten. Die allgemeine Meinungsfreiheit gilt weniger als die Pressefreiheit; erstere besitzt keine Verbände und Interessengruppen, keine Kasten und Eliten. Während die Medien sofort aufjaulen, wenn ihnen der Mund verboten wird, lachen eben jene, wenn der normale Bürger eines seiner Grundrechte beraubt wird. Im Tagesspiegel wird ein nahezu hämisches Verständnis deutlich:
Alles in allem, dies zur Beruhigung aufgewühlter Seelen, ist die Meinungsfreiheit in Deutschland aber in gutem Zustand. Das Satiremagazin „Titanic“ kann auch ohne Twitter Witze machen; in Heftform und auf der Webseite. Wer sich politisch äußern will, ist nicht zwingend auf Facebook angewiesen. Meinungsfreiheit ist bislang noch nicht die Freiheit, jedes Würstchen in jedem Netzforum mit dem eigenen Senf zu bestreichen. Oder doch? Statt zu jammern, mögen die Zensierten vor Gericht ziehen und auf Wiederherstellung ihrer Einträge klagen. Dann wird man sehen, wo es nachzubessern gilt.
Es sind dieselben Leute, die wegen eines unterirdischen Gedichts aus der Hand eines viertklassigen Hanswursts aus der Haut fahren, weil eben dieser Hanswurst dem Verein angehört und vom türkischen Ministerpräsidenten Gegenfeuer empfängt; und es sind dieselben Leute, die immer wieder von osteuropäischen Rechtsbrüchen und Freiheitseinbrüchen schwafeln, hier aber nicht einmal mit Fistelstimme die Beschränkung von Artikel 5 erwähnen. Man mag meinen: Meinungsfreiheit überall auf der Welt, aber bitte doch nicht bei uns. Solange das eigene Monopol auf Meinung gewahrt wird, ist es ganz egal; wer der Zunft angehört, wird geschützt, wer außen steht, bleibt außen.
In Deutschland hat sich anders als den USA niemals der Gedanke etabliert, dass die allgemeine Meinungsfreiheit vor der Tyrannei schützt. Hier glaubt man, man müsse die Meinungsfreiheit in die Hand der Richtigen geben, um das Volk zu zähmen. Die gute und schöne Presse ist wieder da, ähnlich wie im Vormärz, als diese vor allem deswegen existierte, um die Regierungspolitik gutzuheißen. Für den Rest gab es schwarze Balken und Scherenschnitte. Meinungsfreiheit ist hier eine Freiheit im mittelalterlichen Sinne: ein Privileg für eine bestimmte Schicht, welches vergeben und dann eifersüchtig gegen Emporkömmlinge gewahrt wird.
Neben der allgemeinen Häme des juste milieu der Medienwelt in Richtung des Normalbürgers, der weder für seine Beiträge ein Gehalt einstreicht, noch eine Plattform mit tausenden Lesern oder Zuhörern besitzt, existiert da noch jene peinliche Form der Distanzierung, wie sie üblicherweise nur bei Schulbuben stattfindet. Schon als das fragliche Gesetz aus der Taufe gehoben wurde, gab es von juristischer Seite Bedenken. Neben Verstößen gegen das Grundgesetz spielte auch das neudeutsche „Outsourcing“ der Rechtsprechung eine Rolle. Wir hörten Stimmen – aber keinen Protest. Medien und Politiker versäumten ihre Pflicht. Auch wieder eine Merkwürdigkeit deutscher Geschichte: es ist nicht das erste Mal, dass man Gesetze geschaffen hat, um vermeintliche Gefahren zu bekämpfen und damit eben das abschafft, was es eigentlich zu verteidigen gilt. Den Deutschen steckt noch jene tragische Entscheidung in den Knochen, als dazumal Kaiser Franz II. die Reichskrone ablegte, um einer weiteren Einmischung Napoleons in Reichsangelegenheiten zuvorzukommen – damit war dann auch das eigentliche Reich Geschichte.*
Trotz aller Warnungen wurde beschlossen, was beschlossen wurde; und es geschah, was geschehen musste. Doch auch hier zeigt sich jenes neue Deutschland, das nicht mehr für seine Effizienz und Ordnung bekannt ist, sondern für seine Problemverschiebung: niemand will es mehr gewesen sein. In der Politik hält sich die Argumentation, das Gesetz sei prinzipiell gut und richtig, nur mit ein paar Macken versehen und unausgereift. Die Töne klingen höhnisch, führt man den Gedanken ganz zu Ende – ja, es fehlt ja noch der Rest der Meinungsfreiheit. Warum nimmt man sich nicht gleich den ganzen Kuchen?
Was folgt ist Ablenkung. Nicht die Politik ist schuld. Nicht die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD, deren Abgeordneten dieses Gesetz verabschiedeten; nicht die Regierung unter der Moderation („Richtlinienkompetenz“, „Verantwortung“ der Kanzlerin) Angela Merkels; und natürlich auch nicht der hiesige Justizminister, der höchste Verstreter der Exekutive, wenn es um den Fachbereich der Rechtsprechung geht. Heiko Maas ist stattdessen der Oberschulbub der Republik geworden, der für einen schief gelaufenen Streich nicht geradestehen will und deshalb mit dem Finger auf andere zeigt. Die Bild-Zeitung führt mit ihm ein Interview, als er wegen eines alten Tweets der eigenen Zensur zum Opfer fällt: vor Jahren hatte er Thilo Sarrazin als „Idioten“ beleidigt.
Auf die Frage, ob Maas nun Opfer seines eigenen Gesetzes geworden sei, sagte der SPD-Politiker: „Na ja, dann müsste Twitter den Tweet gelöscht haben wegen des neuen Gesetzes. Ich habe keine Information darüber, weshalb mein Tweet gelöscht wurde und ob er von Twitter gelöscht wurde. Deshalb kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten. Es mag auch etwas damit zu tun haben, dass Twitter seine Policy am 19. Dezember letzten Jahres geändert hat und stärker gegen Verbalattacken vorgehen will.“
Auf die Nachfrage, ob sein Tweet über Sarrazin denn hätte gelöscht werden müssen, sagte Maas: „Ich weiß ja noch nicht mal, weshalb er gelöscht wurde und ob das wegen dem NetzDG ist. Im Moment löscht Twitter viele Inhalte und legt Accounts lahm. Das hat nichts mit dem neuen Gesetz zu tun.“
Mein Gesetz ist nicht schuld. Twitter ist wegen seiner eigenen Ankündigung, gegen Verbalattacken vorzugehen, selbst verantwortlich. Dass bei Löschungen und Zurückhaltungen bei Twitter extra erwähnt wird, dass diese wegen „local laws“ zurückgehalten werden, scheint dem Justizminister unbekannt zu sein. Weiterhin lesen wir:
Redaktion: War es richtig, diesen Tweet [von Beatrix von Storch, Anm. des Löwen] zu löschen, entspricht das dem Gesetz?
Maas: „Sie werden mich ganz sicherlich nicht dazu bringen, über einzelne Tweets zu urteilen, ob sie gelöscht werden sollen oder eben nicht. Ob das dem Gesetz entspricht, das muss das Unternehmen entscheiden. Im Übrigen tut das auch jede Zeitung: Wenn sie Leserbriefe veröffentlicht, werden diese in der Rechtsabteilung der Zeitung überprüft, ob sie strafbare Inhalte haben oder nicht (…) Warum soll das bei Twitter oder Facebook anders sein.“
Reichelt: „Dass wir streng darauf achten, dass wir keine strafbaren Inhalte (…) veröffentlichen, ist ja völlig klar. Aber wenn Sie sagen, es bleibt jetzt Unternehmen überlassen, ob in solchen Alltagsgrenzfällen strafbare Inhalte vorliegen oder nicht – und das ist ja das, was Sie gerade gesagt haben –, ist das wirklich im Sinne des Erfinders?
Wir lernen: nicht die deutsche Justiz, sondern „das Unternehmen“ entscheidet, was dem Gesetz entspricht. Starker Tobak.
Maas: „Wenn man das Gesetz streicht, ändert das an der Rechtslage gar nichts. Denn in diesem Gesetz steht nur drin, dass wenn Strafbare Inhalte nicht gelöscht werden, in Zukunft Geldbußen zu zahlen sind. (…) Worüber wir hier diskutieren, ist, dass es einfach nicht sein kann, dass rechtliche Verpflichtungen, die nicht nur hier, sondern auch in Europa gelten, von Unternehmen wie Facebook und Twitter einfach nicht beachtet werden. Es ist nicht so, dass Facebook und Twitter machen können, was sie wollen.“
Da kommt es am Rande vor. Die deutsche Regierung erpresst zwei Unternehmen „nur“ mit Geldbußen – die bis in Millionenhöhe reichen können – mehr nicht. Den Schaden haben eben andere. Einerseits zeigt Maas, dass man den Sozialen Netzwerken vorschreiben kann, was sie tun und zu lassen haben, aber andererseits legen die irgendwie fest, was gelöscht wird und was nicht.
Das #NetzDG lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Sozialismus trifft Willkür.
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* Sie dachten doch nicht wirklich, hier folgte jetzt ein schäbiger Vergleich aus der Endphase der Weimarer Republik bezüglich des Ermächtigungsgesetzes? Sie Schelm!