Der Iran ist nicht Syrien

4. Januar 2018
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Historisches | Machiavelli | Medien

Die Proteste im Brückenland zwischen Nahem und Mittleren Osten dauern bereits einige Tage an, und Presse wie Soziale Medien überschlagen sich, wenn es um persönliche Meinungen und Beiträge geht. Die verschiedenen Frontlinien laufen ähnlich wie bei der Katalonienfrage kreuz und quer; es wäre zu mühevoll, diese Zick-Zacklinien zu skizzieren, bei denen islamkritische Nationalisten auf die Souveränität des Irans verweisen, und liberale Menschenrechtler auf eine irgendwie geartete Intervention hoffen. Die Haltungen mögen paradox anmuten, sind aber zutiefst logisch, wenn man heute die entscheidenden Schnitte an der Frage festmacht, ob man staatliche oder individuelle Selbstbestimmung vorzieht, beide Prinzipien als einander ausschließend betrachtet oder diese nur in einem symbiotischen Verhältnis denken kann.

Da letztere Frage eher eines Seminars als eines Diarieneintrag bedürfte, soll sie hier nicht zum eigentlichen Thema erhoben werden. Viele Prämissen sind in diesem Konflikt völlig unklar, sodass ein Urteil in einigen Fällen gar nicht getroffen werden kann. Schon bei der „Grünen Revolution“ unter dem damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad war nicht bekannt, wie groß der Aufstand gegen die Regierung wirklich war. Nicht erst im Zeitalter etwaiger „Fake News“, sondern schon damals konnten Fotos so geschossen werden, dass ein kleines Häuflein Demonstranten wie eine große Menschenmasse wirkte. Der Effekt lässt sich auch immer wieder bei den Sozialen Medien beobachten, wo kleine Ereignisse über ihre Verhältnisse hinaus aufgebauscht werden. Herausragende Symbole der jetzigen Proteste – wie das fahnengleich gehisste Kopftuch einer Demonstrantin – wirken daher weitaus weniger spontan als vielmehr dramatisch in Szene gesetzt, um nicht zu sagen: inszeniert. Einen echten Volksaufstand mag der Löwe jedenfalls nicht erkennen. Derzeitige Informationen lassen an einen weit kleineren Rahmen von Demonstrationen denken als etwa bei den Massendemonstrationen von 2009.

Die Erfahrungen im Irak, Libyen und Syrien haben die Welt eigentlich gelehrt, dass ein vermeintlich demokratischer Umsturz im Nahen Osten weniger mit Frieden und wirtschaftlicher Prosperität, als vielmehr mit Chaos und Gewalt endet. Das bringt das andere Extrem hervor: nämlich die Befürchtung eines „Flächenbrandes“ sollte der Iran erst einmal fallen. Zynisch könnte man anmerken, dass Trümmer für gewöhnlich überhaupt nicht mehr brennen können – anders kann man den Zustand des einst fruchtbaren Halbmondes wohl kaum nennen. Die Furcht vor einem neuerlichen „Regime-Change“ macht einige dafür blind, dass der Iran von einem ganz anderen Kaliber ist als die vorher genannten Länder. In der Tat: es wäre naiv zu glauben, dass die zahlreichen Rivalen des Iran – neben den USA, Israel und der Türkei sollte man hier Saudi-Arabien nicht vergessen – die Demonstranten nicht in irgendeiner Weise unterstützen. Gerade im Iran hat der Westen einst mit dem Sturz Mossadeghs durch die „Operation Ajax“ ein Exempel statuiert.*

Es wäre aber auch naiv zu glauben, dass der Iran mit Syrien oder Libyen vergleichbar wäre.

Eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten und Parallelen mögen auf dem ersten Blick bestehen, die jedoch keine sind. Alle nahöstlichen Aufstände der jüngsten Zeit hatten eine radikalislamische Komponente. Sowohl in Syrien als auch in Libyen (und auch in Ägypten, wo die Muslimbrüder vom Militär vorzeitig entmachtet wurden) mischten jene Gruppen mit, die Al-Quaeda und dem Islamischen Staat nahe standen bzw. nahe stehen sollten, geprägt von der wahabitischen Glaubensrichtung aus Saudi-Arabien. Das Ausland, insbesondere Saudi-Arabien mitsamt der Golfstaaten, brachte solche Gruppen in Stellung. Alle bisherigen Länder waren sunnitische Gebiete, in denen die Rädelsführer potentielle Rekruten anwerben konnten; in Syrien herrscht mit Assad ein Mitglied der alewitischen Minderheit mit seiner Clique über ein mehrheitlich sunnitisches Land, im Irak verlor die herrschende Clique der Sunniten die Macht über das mehrheitlich schiitische Land.

Der schiitische Iran kennt solche Konstellationen nicht. Der Iran ist eine Stellvertretertheokratie, wo nach der Verfassung sowohl der Ajatollah als auch der Präsident nur Statthalter für den verborgenen Mahdi sind, jene Messiasgestalt, von dem sich die Schiiten am Ende der Tage die Erlösung erhoffen. Das Land ist bereits ein islamischer Musterstaat und bedarf keiner Milizen, die für ein neues Kalifat kämpfen. Der aus dem rivalisierenden Saudi-Arabien stammende Wahabitismus, der auf der Sunna aufbaut und dem Osama bin Laden wie Abu Bakr al-Bagdadi verpflichtet waren, hat unter den Schiiten wenig Anhänger. Letztere sind selbst von ihrer Geschichte als Opfer sunnitischer Verfolgungen geprägt.

Es bleibt daher die Frage, wen eine ausländische Macht als potentielle Rebellengruppe aufbauen wollte. Die Gruppe der Anhänger einer Demokratie nach westlichem Vorbild dürfte dafür eindeutig zu klein sein. Auch hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu den Protesten im Jahr 2009: es gibt keinen „Aufhänger“ für eine echte Revolution. Unregelmäßigkeiten bei der Wiederwahl des Präsidenten Ahmadinedschad lösten damals die „Grüne Revolution“ aus, was zu einer eindeutigen Kritik am herrschenden System der Mullahs führte. 2017/2018 dagegen ist es die allgemeine wirtschaftliche Situation. Die Bürger wünschen sich Antworten auf die Krise und Reformen, nicht einen kompletten Umsturz im Land. Um Missverständnissen vorzubeugen: der Wunsch nach Wohlstand hat mehr politische Proteste bewegt als der Wunsch nach Freiheit. Es fehlt jedoch an der kritischen Masse. Ein Großteil der iranischen Bevölkerung hat sich ins Private zurückgezogen und genießt dort jenen Konsum und jene Freiheiten, welche sie in der Öffentlichkeit nicht hat – Stichwort Hauspartys. Der iranische Mittelstand hat Zeit, er ist jung und die persische Gesellschaft weit weniger sittenstreng als in manchem arabischen Land. Viele gehen davon aus, dass Reformen nur eine Generationenfrage ist, sobald die alten Mullahs weggestorben sind. Die Hälfte aller Iraner ist unter 35 Jahre alt.

Was die Proteste im Iran wiederum mit denen in Syrien, Ägypten und Libyen eint: die Heterogenität der Gruppen und ihre Forderungen. Gemengenlagen erschweren Revolutionen jedoch eher, als dass sie diese vorantreiben. Neben den von den Medien forcierten Bildern emanzipierter Frauen und nach liberalen Werten rufenden Studenten gibt es auch ganz andere Interessenvertreter, die eher nach einer konservativen Wende rufen und die Politik des jetzigen (moderaten) Präsidenten Rohani als gescheitert ansehen. Einige sehnen sich nach der Präsidentschaft Ahmadinedschads zurück, dem nachgesagt wird, mehr für die unteren und mittleren Schichten getan zu haben. Das Abkommen mit dem Westen, das die jahrelangen Sanktionen gegen den Iran aufhob, hätte trotz aller Versprechungen keine wirtschaftlichen Vorteile gebracht – außer für die Reichen. Rohanis Stellvertreter Jahangiri mutmaßte daher sogar, die Proteste könnten von der konservativen Opposition angezettelt worden sein. Neben dieser breiteren Front auf nationaler Ebene existierte auch eine Interessengruppe auf lokaler Ebene, nämlich die Einwohnerschaft von Kermanschah, wo die Proteste nicht wegen Einforderung von Demokratie und westlicher Werte begannen, sondern weil dort die Korruption jegliche Hilfe nach einem schweren Erdbeben verhindert hatte. Zuletzt wird das außenpolitische Engagement der iranischen Regierung kritisiert, die einen Stellvertreterkrieg in Syrien für Assad und gegen die Sunniten führte, aber kein Geld für die Armen aufbringen könne, die am meisten in der Wirtschaftskrise litten.

Eine weitere Ähnlichkeit, die keine ist, stellt die ethnische Vielfalt im Vielvölkerstaat Iran dar. In allen Staaten des Nahen Ostens begegnen wir dem Problem einer schwindenden nationalen Einheit, weil Stämme oder gänzlich verschiedene Völker und Religionsgruppen auf einem Territorium leben. Diese Streitigkeiten sind bis heute ein besonderes Problem für Libyen, Syrien und den Irak, doch sie haben einen ganz anderen Hintergrund als beim Iran. Der Iran steht bis heute in der Tradition des Persischen Reiches, das seit über 2.500 Jahren in verschiedenen Formen diese Region geprägt hat: vom klassischen Perserreich des Kyrus und Dareios über das Parther- und Sassanidenreich bis hin zum Safawidenreich. Der Staat steht in einer ungebrochenen historischen Kontinuität, mit einem sich wandelnden, jedoch sich meistens um das persische Hochland gruppierende Territorium, das durch Sprache, Kultur, Religion und Geschichte geeint ist. Die Perser sind nicht das einzige Volk im Iran, doch sind die meisten Völker – wie die Luren, die Kurden oder die Belutschen – eng mit ihnen verbunden. Der Iran hat zwar Besatzungen erlebt, ist jedoch kein künstliches Kolonialgebilde wie die anderen Staaten (sine Turchia) des Nahen Ostens. Die Einigkeit der Völker ist hier weit größer, nicht zuletzt, weil 90 % dem schiitischen Islam anhängen. In der muslimischen – das heißt vor allem: sunnitischen – Welt gilt man damit als Pariah. Umso enger hält man zusammen.

Es sollte daher in Erinnerung gerufen werden, dass der Iran in weit gefährlicheren Situationen (und zur Verwunderung der westlichen Welt) durchgehalten hat. Obwohl von der Islamischen Revolution geschwächt, konnte sich das Land ein Jahrzehnt gegen die irakischen Streitkräfte behaupten. Der heute fast vergessene Golfkrieg gilt als einer der heftigsten Konflikte des Kalten Krieges. Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte damals den Nachbarn überfallen, wohl auch in der Hoffnung, nach einem gewonnen Krieg Teile der arabischen Minderheit im Südwesten für sich zu gewinnen und diese Teile des Irans zu annektieren. Zu seiner großen Verwunderung blieben diese natürlichen Alliierten Teheran treu. Es sind Beispiele wie diese, die den Zusammenhalt des Irans unterstreichen. Die Iraner mögen ihre Regierung nicht lieben, doch der historische Außenseiterstatus hat stets dazu geführt, dass man gegen äußere Bedrohungen die Reihen schloss. Eine Umwälzung der politischen Verhältnisse kann daher nur von innen geschehen und aus der iranischen Bevölkerung heraus kommen.

Ein weiterer Faktor, der ein Eingreifen in die iranischen Angelegenheiten – ob nun direkt oder indirekt – noch unwahrscheinlicher macht, sind die Allianzen Teherans mit Peking und Moskau.
Seit dem Fall der Sowjetunion sind die Bindungen zwischen Russland und dem südlichen Nachbarn jenseits des Kaspischen Meeres äußerst eng. Während der Sanktionen gegen den Iran war Russland stets als Handelspartner verblieben, das iranische Militär ist bis heute vor allem Abnehmer russischer Waffen. Der Iran gilt als ein Kandidat für das russische Militärbündnis CSTO, dem neben Russland die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken und Weißrussland angehören. Viel mehr als Syrien gilt der Iran als Standbein russischer Interessen in der Region. Putins Intervention in Damaskus dürfte Exempel genug sein, dass der russische Bär seine Tatze erst recht schützend über die Islamische Republik hält.
Die Chinesen haben indes vitale Interessen am iranischen Energiegeschäft. Der Iran ist das Land, das den chinesischen Drachen mit Öl und Gas beliefert, damit dieser weiter schnauben kann – 10 % des chinesischen Erdölbedarfs wird vom Iran gedeckt. Erst im letzten Jahr hat die chinesische Regierung Milliardendeals mit den Mullahs geschlossen, damit die Wirtschaft am Gelben Meer weiter geschmiert wird. Darüber hinaus investiert China in die Erschließung neuer Gas- und Erdölfelder im Iran.

Damit würden möglicherweise gleich zwei Vetomächte im UN-Sicherheitsrat Resolutionen gegen den Iran verhindern. Die USA und ihre Verbündeten dürften darüber hinaus wissen, welche Konsequenzen ein ungestümes Vorgehen im iranischen Great Game hätte. Trump kann auch gar nicht anders, als in die Fußstapfen seiner Vorgänger zu treten, und die Demonstranten verbal zu unterstützen – er verriete ansonsten die amerikanischen Werte. Anstatt auf einen irgendwie gearteten Regime-Change zu setzen, der mehr Risiken als Chancen für die US-Administration brächte, könnte Trump die Situation stattdessen als willkommenen Anlass nutzen, um eines seiner Wahlversprechen einzulösen: die Streichung des Iran-Abkommens. Es wäre das erste Mal, dass die Medien damit dem ungeliebten US-Präsidenten in die Hände spielten – ohne es bis jetzt realisiert zu haben.

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* Im Übrigen wurden Leute, die behaupteten, eine Kooperation des britischen und amerikanischen Geheimdienstes hätte den gewählten Ministerpräsident des Iran gestürzt, jahrelang als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Obwohl selbst an historischen Instituten in den 90ern bereits klar war, dass MI6 und CIA die Finger im Spiel hatten, dauerte es bis 2013, dass beide Abteilungen dies auch mit Öffnung der Akten bestätigten. Es sei angemerkt, dass die CIA selbst – laut eigenen Angaben – gescheitert war und nur die von den Geheimdiensten geschaffenen Begleitumstände (Pro-Schah-Demonstrationen) doch noch zu einem Erfolg der Operation führten.

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