Und immer steht die Neuwahl vor der Tür

16. November 2017
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | Ironie | Machiavelli | Medien

Bereits kurz nach der Wahl und der Ankündigung der SPD, in die Opposition zu gehen, kam das Thema „Neuwahlen“ auf. Die Jamaika-Koalition – so die „Experten“ – müsste zu viele Gegensätze vereinen, womöglich könnten die Sondierungen platzen. In der Tat: schon früh kündigten die sog. Spitzenpolitiker an, dass es wahrscheinlich zu keiner Regierungsbildung mehr in diesem Jahr käme – auch hinsichtlich der Taktierei bei der dazumal noch ausstehenden Niedersachenswahl.

Wie schwierig und anstrengend doch diese Sondierungen würden! FDP und Grüne lägen extrem weit auseinander, die CSU müsste Boden gut machen um die bayrisch-konservative Seele zu pflegen, und Trittin goss Öl ins Feuer. Garniert wurde die Dallas-Neuauflage mit Gerüchten, die Grünen reklamierten einen eigenen Vizekanzler für sich.

Neuwahlen wurden zum Damoklesschwert der Gespräche. In Medien und auch im privaten Kreis wurde es allmählich schwierig, sich diesem Thema zu entziehen. Eine merkwürdige Front tat sich da zusammen: einerseits die eher linksliberalen Medien und die Politik, welche ihre Sorgen äußerten; und dann auch rechtsliberale und konservative Kreise, die sich diesem Szenario entgegensehnten.

Das erstere Phänomen ist mit der Rolle der Medien als Theaterregisseure zu erklären. In einem Land, wo die politische Debatte aus Parlament und Print verschwunden ist, und gut orchestriert in Talksendungen dem Wahlvolk präsentiert wird, fehlt der übliche Kampf der Emotionen. Politik war immer Theater, aber früher mit unbekanntem Ende. Im Zeitalter ohne Geschichte (im Sinne Fukuyamas also) ist der Weg jedoch fest vorgeschrieben. Was bleibt, ist die Erzählung. Diese geht folgendermaßen: im Angesicht der Bedrohung müssen sich die Protagonisten unterschiedlicher Lager zusammentun. Obwohl sie verschiedene Ansichten haben und auch charakterlich voneinander divergieren, nehmen sie ihre Verantwortung wahr und stellen sich in der letzten Minute ihrer Aufgabe. Es ist ein langer und mühsamer Weg, das Ende wird nicht alle zufrieden stimmen, aber es ist die beste unter vielen schlechten Lösungen. Das rettende Ufer finden die Helden nach einer abenteuerlichen Reise in Jamaika. Zwar kann man sich nicht die Rückenhaare vom Leib ziehen, um damit Schildkröten zu zähmen und von dieser verfluchten Insel fliehen – dafür gibt es dort aber ein ordentliches Rumlager. Solange die Grünen dieses nicht in Brand stecken, wird alles gut.

Das zweite Phänomen ist mit irrationalem Wunschdenken zu erklären. Anscheinend besteht die Einschätzung, Neuwahlen könnten etwas in diesem Land ändern. Das ist höchst abenteuerlich, um nicht zu sagen: abenteuerlicher als Jack Sparrows Erzählungen, wie er von der Ruminsel floh. Sie fußt auf mehreren Hoffnungen: erstens, dass die Möglichkeit bestände, dass die FDP ihre Linie durchzieht; zweitens, dass Merkel dann weg wäre.

Als das Thema zum ersten Mal im persönlichen Kreis kam, veranschlagte ich die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen bei circa 20 %. Die Wahrscheinlichkeit ist seitdem eher gesunken als gestiegen. Die FDP hat bereits in den Wochen vor der Wahl ihren unbedingten Regierungswillen ausgesprochen, teils stolzierte Christian Lindner durch die Fernsehsendungen wie der festgelegte Vizekanzler und gewöhnte sich in der „Fünferrunde“ nach dem Kanzlerduell einen regierungsschwangeren Ton an. Dass CDU und CSU nicht von der Macht lassen wollen – und auch nicht können – ist wohl eine Binsenweisheit. Während das gesamte europäische Ausland die Bundestagwahl als Katastrophe für die Kanzlerin verbuchte, wurde das schlechte Ergebnis der Union hierzulande eher spärlich thematisiert. Ähnlich war es im Übrigen bereits 2005 und 2009. Beide Male ging Merkel mit einem Debakel aus der Wahl. Obwohl die „Basis“ für einige Tage aufmuckte, rückte der Kanzlerwahlverein vor den Sondierungen dann enger denn je zusammen. Eine tiefere Ursachenforschung wurde dann 2013 obsolet, als die CDU nach Jahren wieder die 40 % überschritt. Dass dies weniger der Regierungspolitik Merkels, als dem Zusammenbruch des Koalitionspartners zuzuschreiben war, wurde damals geflissentlich außer Acht gelassen. Im Grunde ist Merkel 2017 wieder dort, wo sie 2009 war. Auch deswegen wird es keine Palastrevolte geben.

Betrachtet man die vorherigen drei Wahlen, wird das Motiv umso offensichtlicher: selbst 2013, als die CDU gefühlt gestärkt aus der Wahl ging, veräußerte man großzügig Posten an die SPD. Merkel weiß, dass sie ihren „Partnern“ die Welt versprechen kann, solange sie Kanzlerin bleibt. Sie hat keinen Konkurrenten, weder innerparteilich, noch außerparteilich, ja nicht einmal in der Form des Bundespräsidenten, der Landesfürsten oder des Bundesverfassungsgerichts. Merkel hat dieses Land so stromlinienförmig auf das Bundeskanzleramt ausgerichtet, dass es ihr gleich sein kann, ob die Union vier, drei oder nur zwei Ministerposten bekommt. 2005 und 2009 war sie geschwächt wie heute; aber eben aus der Position der Schwäche heraus zeigte Merkel ungeheure Stärke. Merkels größte Stärke bleibt bis heute, dass man sie unterschätzt. Und genau das passiert derzeit wieder in Politik, Medien und einfachem Volk.

Daher ist auch die Hoffnung, dass Merkel bei Neuwahlen verschwinden würde, reine Illusion. Wenn Merkel nach Ergebnissen knapp über der Dreißigprozenthürde nicht abgesägt wird, wird sie das jetzt auch nicht. Weder ein Spahn noch ein Tauber, auch keine Leyendarstellerin wird ein besseres Ergebnis als Merkel einfahren. Das wissen die CDU-Granden. Und die genannten Kandidaten wissen ebenfalls, dass sie ein noch schlechteres Ergebnis einfahren könnten und dann die Verantwortung für all die Fehler zugeschoben bekommen, die eigentlich ihre Vorgängerin begangen hat. Jeder Start mit einem neuen Kanzlerkandidaten ist ein Risiko und eine sofortige Schwächung der Union.

Es bleibt festzuhalten: wenn die Bundestagswahl 2017 eines gezeigt hat, dann dass Merkel nicht über schlechte Ergebnisse fallen wird. Sie kann nur von einer stärkeren Oppositionspartei als der CDU entthront werden oder muss von selbst abdanken. Die erste Option liegt derzeit in weiter Ferne, da es keine Volkspartei vom Rang der CDU gibt; die SPD ist der Definition nach zu einer Klientelpartei geworden, die sich mit Minderheitenschutz brüstet und sich um Luxusprobleme sorgt. Nach dem Ableben der klassischen SPD-Generation, die bereits in Pension und Rente gegangen ist, könnte der natürliche Wählerschund bereits in vier Jahren dafür sorgen, dass die SPD nur noch auf 18 % kommt. Die Option des freiwilligen Rücktritts wiederum liegt ganz allein im Verfügunsgbereich Merkels selbst.

Was die FDP angeht, so grinst Machiavelli fein im Hintergrund. Bereits in einigen alternativen Medien, die sich FDP-freundlich gerierten und auch FDP-Wähler auf Facebook und Twitter klagen darüber, dass die Partei umfällt. NetzDG, war da etwas? Einwanderung? Wer hätte auch ahnen können, dass die Liberalen, die im Zuge der Eurokrise und Griechenlandrettung ihre ureigensten Prinzipien verrieten, bei solchen liberalen Themen umfallen könnten. Das ist nur wenige Jahre her. Oft vergessen: es war gerade diese gescheiterte Politik, welche die AfD erst ins Leben rief. Man wirft jetzt der FDP Wortbruch vor. Das erscheint jedoch reichlich ungerecht. Machiavelli wusste bereits, dass die Menschen betrogen werden wollen; aber nach nur kurzer Zeit sind schlimme Taten bereits vergessen, solange man die Menschen nicht beleidigt. Die FDP hat bereits 2013 die Quittung für ihr Verhalten bekommen – wer sie 2017 wieder reinwählte, weil er glaubte, er bekäme jetzt eine andere Politik, vergisst, dass die FDP jene Partei ist, die in Deutschland am häufigsten als Koalitionspartner in der Regierung war. Sie ist das Standbein dieser Republik, seit ihrer Gründung. Und: es ist das natürlichste, dass ein Mann auf dem Marktplatz anders als im Rathaus spricht.

Eben weil die Union mit Merkel nichts gelernt hat und die FDP zeigt, dass sie ihre Überzeugungen über Bord wirft, werden diese Parteien alles dafür tun, dass es nicht zu Neuwahlen kommt. Es wäre naiv zu glauben, dass man in Berlin nicht darum weiß, dass die eigenen Werte nach Neuwahlen schlechter ausfielen als zuvor. Ebenso ist offensichtlich, dass die Grünen genau darum wissen und den Preis so hoch wie möglich treiben. Damit sind die Grünen von Anfang an die eigentlichen Entscheider der gesamten Regierung. Ein vorzeitiges Ende könnte erst vor Ablauf der Legislatur eintreten, wenn Grüne oder FDP hoffen, durch vorzeitige Beendigung ein besseres Wahlergebnis einzufahren.

Zuletzt: selbst im Falle vorgezogener Neuwahlen würde sich demnach nichts ändern. Vermutlich käme die CDU nur noch ganz knapp über die 30 %, die FDP verlöre etwas, die Grünen blieben stabil. Womöglich könnten Linke und AfD ein oder zwei Punkte hinzulegen. Die SPD könnte wohl nur mit einem neuen Kandidaten ein anderes Ergebnis einfahren – woher sie diesen nehmen soll, bleibt jedoch ein Rätsel. Und ob diese dann doch eine Große Koalition anberaumen könnte – aus „Verantwortung“ für unser Land, weil Jamaika ja keine Möglichkeit ist – bleibt auch offen. Da keine andere Koalition numerisch oder ideologisch möglich wäre, bleibt die Frage, inwiefern Neuwahlen überhaupt einen Mehrwert hätten.

Abschließend sei gesagt, dass „Jamaika“ zudem die logischste Lösung wäre, die Deutschland derzeit repräsentiert und verdient hat. Die Union nähert sich seit mehr als einem Jahrzehnt den Grünen an und liebäugelt mit dem Kretschmannismus. Das desinterresierte Bürgertum lässt Teddybärenwerfer und Klimaretter passieren, und die Liberalen maulen zusammen mit der CSU herum, als befänden sie sich in der Opposition. Die Bundesrepublik als tuntiger Jack-Sparrow-Verschlag, der mit Rumflasche vor brennender Kulisse torkelt: gibt es ein besseres Bild für dieses Land?

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