Es gibt einen Traum, einen letzten Strohhalm, an den sich die Elite klammert: den Mythos des „Protestwählers“. Dieser ominöse Protestwähler will in wenigen Tagen den etablierten Parteien einen Denkzettel verpassen, indem er sie mit der angekreuzten AfD abwatscht. Der Protestwähler ist wütend, unvernünftig, eigentlich weiß er gar nicht, was er tut, den er lebt in einer postfaktischen und von Fake News geprägten Welt. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nimmt er nicht ernst, über die Quantitätspresse lacht er. Und wenn sich der homophob-rassistische Aluhutträger doch einmal dem widmet, was er mit dem latent faschistoiden Begriff „Mainstream“ benennt, bleibt er unbelehrbar paranoid: bei Radio und Fernsehen hört er den Unterton raus, in der Zeitung liest er zwischen den Zeilen.
Medien und Politik haben dabei eine große Hoffnung. Der mal als Russlandversteher oder Putintroll, dann von Homophobie oder Islamophobie gebrandmarkte Nazi, oder je nach Gusto als Demokratiegegner, Europafeind, Neurechter, Rechtsextremer, kurz: als Packist Teil des Packs geltende Wutbürger und Hasssprechende bezeichnete „besorgte Bürger“ (immer in Anführungszeichen!) wird irgendwann wieder zur Raison kommen – und dann brav jene Parteien wählen, die ihn vormals mit diesen wunderschönen Wortschöpfungen belegten.
Bereits jetzt hat das etablierte Parteiensystem sich von Linksaußen bis gemäßigt links (mir verlangt es viel ab, das der sozialdemokratisierten Union noch zuzugestehen!) darauf geeinigt, ab dem 25. September eine Partei im Bundestag gewissermaßen „auszuschließen“ und damit den Wählerwillen einiger Millionen Deutscher nicht zu respektieren. Man wolle „Demokratiefeinden“ keinen Platz bieten. Der Bundestag ist demnach nicht nur völlig kompetenzbefreit, sondern zusätzlich auch noch ironiebefreit. Zugleich ist es ein weiterer Schlag gegen jene Bürger, von denen man ja insgeheim hofft, sie würden nach dem kurzen AfD-Spuk irgendwie wieder schnell verschwinden.
Der Kitt, der derzeit die Wähler der AfD am stärksten an die Partei heftet, ist das Gebaren eben jener „Demokraten“, die hoffen, durch die Zerstörung der AfD einen Konkurrenten zu vernichten und dessen Klientel zurückzugewinnen. Zumindest wirkt es so. Anscheinend hat man in den fernen Parteizentralen Berlins noch immer nicht erkannt, dass dieses Verhalten erst recht die Entfremdung mit dem bisherigen Parteiensystem vorantreibt. Selbst jene Schwankenden, die – aus welchen Gründen auch immer – bisher unsicher waren, die AfD zu wählen, sind nun sicherer, am kommenden Sonntag „blau“ anzukreuzen.
Der totale Krieg des Parteienkartells hat dazu geführt, dass unzählige Wähler keine Heimat mehr haben. Der Krieg galt von Anfang an nicht nur der AfD, sondern auch ihren möglichen Wähler – denn wer sich mit der Alternative einließ, übernahm sofort alle negativen Konnotationen, die man der Parteispitze zuschrieb. Die Folgen konnte man zuvor schon im US-Wahlkampf sehen. Gelernt hat niemand daraus: weder Medien, noch Politik.
Deutschland ist nicht Amerika. Die Harmoniesucht der Deutschen lässt einen Trump-Effekt nicht zu, der auf Rebellion gegen das System gründet. Es existieren jedoch Motive, die sich wiederholen, und die eine neue, kleine Partei innerhalb weniger Jahre mit einem zweistelligen Ergebnis in den Bundestag katapultieren könnte. Das sind nicht die ca. 50 % Wähler wie in den USA, die Trump zum Sieg verhalfen. Aber im starren deutschen System kommt das einer Revolution gleich: es ist und bleibt einmalig. In den USA hatte Clinton mit dem Begriff „Deplorables“ die Trump-Wähler bezeichnet, und damit erst recht ein Gemeinschaftsgefühl unter diesen gestiftet. In Deutschland ist es – in kleinerem Maße – sehr ähnlich geschehen.
Die etablierten Parteien haben keine langfristige Strategie. Sie war nur kurzfristig ausgerichtet, um die AfD möglichst unter zehn Prozent, am besten natürlich unter fünf Prozent zu halten. Stattdessen stellt sich jetzt die Frage, ob die AfD möglicherweise sogar fünfzehn Prozent erreicht. Die verschiedenen Manöver gegen die Alternative wirkten dabei deutlich unsouverän: ob Wählerbeschimpfung, Weidels Emails oder jüngst der Vorschlag Altmaiers, wählen zu gehen, solange es nur nicht die AfD sei (kurz: sogar Nichtwählen sei besser). Natürlich hatte auch Gauland einige Steilvorlagen geliefert, welche die Quantitätsmedien begierig aufnahmen. Doch sowohl die etwaige Mülltrennung in Kleinasien als auch die Ehrung deutscher Soldatenleistungen in beiden Weltkriegen* verpufften als Nachricht genauso schnell wie sie kamen. Auch hier befolgte die AfD ein Trump-Rezept: never apologize. Entschuldige dich niemals. Es brachte Erfolg und nahm den Wind aus den Segeln.
Es mag sein, dass die AfD nach der Wahl einer Spaltung bevorsteht, dass es zu heftigen Schlammschlachten kommt und möglicherweise 2021 wieder aus dem Bundestag fliegt. Das ändert nichts daran, dass die Wähler der AfD von 2017 größtenteils nie wieder zu den klassischen Parteien zurückkehren werden. Die Sozialdemokratie hat auch deswegen ihr Stammland NRW verloren, weil strategisch wichtige Gebiete im Ruhrgebiet an die AfD verloren gingen. Die SPD sitzt bereits seit Jahren im 20 %-Turm, die AfD könnte sie in bestimmten Landtagen noch weit schlimmer bedrängen. Das klassische SPD-Milieu der Geringverdiener wohnt zumeist in sozialen Brennpunkten. Die Folgen der Migration bekommen diese Menschen viel näher und häufiger zu spüren als die Konservativen auf dem Land, oder die Grünen und Liberalen in ihren Wohlstandsvierteln. Die SPD kann so oft sie will von Gerechtigkeit sprechen – wenn sie damit vor allem ethnische, sexuelle oder religiöse Minderheiten bevorteilt, wird sie eben nur eine Minderheit der Stimmen gewinnen. Auch ein Fehler, der den US-Demokraten 2016 unterlaufen ist.
Die „weltoffene“ Sozialdemokratie muss darüber hinaus anerkennen, dass ein großer Teil der eigentlichen SPD-Klientel patriotisch gesinnt ist. Wir haben derzeit mehrere linke Parteien im Parlament, jedoch sind diese allesamt international und nicht national ausgerichtet. Die SPD hat über Jahrzehnte genau das bedient: Ebert, Scheidemann, Schumacher, Wehner und auch Schmidt waren Vertreter einer nationalen Sozialdemokratie. Diese hat heute keinen Vertreter mehr. Ein ehemaliger EU-Parlamentspräsident ist genau das Gegenteil dessen, was die alte Tante SPD braucht. Womöglich ist sie zu alt.
Obwohl die AfD Fleisch vom Fleische der CDU ist, ist letztere langfristig weniger durch den Aufstieg der Alternative bedroht. Sie mag taktisch verlieren, hat es sich aber sowieso mittlerweile in der „Mitte“ zurecht gemacht. Es gibt keinen einzigen Konservativen in der Union, der das Profil hätte, es ernsthaft mit der AfD programmatisch aufzunehmen; es wäre vermutlich auch deswegen sinnlos, weil für die echten Konservativen die CDU frühestens mit der Energiewende und der Europolitik, spätestens mit der Grenzöffnung unglaubwürdig geworden ist. Die diffuse „Sicherheit“, welche die Kanzlerin verströmt, ist das eigentliche Kapital der Partei. Ansonsten hat die CDU ihren Nimbus bezüglich konservativer Kernthemen verloren. Sie dürfte in der Zukunft noch stärker versuchen, sich im grünen Mitte-Milieu der Marke Kretschmann zu etablieren, während die Ernährungstaliban und Kulturbereicherungseiferer auf lange Sicht Federn lassen.
Der große Vorteil der CDU: auch wenn sie sich dagegen sträubt, so bleibt die Alternative in der Zukunft eine Koalitionsoption. Weniger im Bund, eher in den ostdeutschen Bundesländern, wo die AfD auch bei einer möglichen Schwächung 2021 noch einige Jahre länger verbleiben dürfte. AfD-CDU-Koalitionen wären mittel- bis langfristig solcher Notkoalitionen wie der in Sachsen-Anhalt („Afghanistankoalition“ aus CDU, SPD, Grünen – der Name dürfte Programm sein) vorzuziehen. Die CDU, die bereits jetzt kaum noch von der SPD zu unterscheiden ist, könnte in der Mitte wuchern, die AfD im rechten Lager. Man sollte nicht zu naiv sein: die Theorie wurde womöglich schon öfters von Christdemokraten durchgespielt als der gemeine Löwe oder Löwenleser annimmt.
Sollte die AfD doch verschwinden, werden die Wähler eben nicht zur SPD oder CDU zurückfinden (am ehesten wohl noch zur FDP). Dafür wurde zu viel Porzellan zerschlagen. Auch wenn das Wählergedächtnis nur kurz ist: Beleidigungen vergisst man nicht. Mindestens 10% der deutschen Wähler dürften nach dem 24. September auf lange Zeit für die Große Koalition verloren sein. Bricht die AfD zusammen, so wird sich der Druck im Kessel woanders kanalisieren. Der letzte Strohhalm, der Glaube an die Rückkehr in die bundesrepublikanischen Verhältnisse der Vorzeit, ist ein Mythos.
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*Wobei mir bis heute niemand erklärt hat, was so schlimm daran sein soll, die Leistung der deutschen Soldaten aus dem 1. Weltkrieg zu honorieren …