Die unseligen Beschwörer des abendländischen Untergangs

1. August 2017
Kategorie: Europa | Freiheit | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Ironie | Machiavelli | Non enim sciunt quid faciunt | Philosophisches

In gewissen Kreisen der politischen Ideologen wird nicht zuletzt unsereins vorgeworfen, immer wieder den Untergang des Abendlandes zu beschwören; wir verlieren uns in Hysterie, wir übertreiben, wir seien Schwarzmaler. Einige Medienformate führen dabei immer wieder „Faktenchecks“ oder andere Informationskästen ein, die den Zuschauer überzeugen sollen, dass es bspw. nie ein Abendland, nie eine europäische Kultur und nie eine christliche res publica gegeben habe. Der Dauerbeschallung gesellt sich der Kommentar bei, dass auch Masseneinwanderung kein Problem sei, indem man es mit „historischer Migration“ vergleicht, so den Hugenotten in Preußen oder den Polen im Ruhrgebiet. Dass letzteres bereits daran hakt, dass alle diese Zuwanderungen kontrolliert, qualitativ ausgewählt und eben kulturell ähnlich waren (das setzt natürlich voraus, dass Christentum und europäische Kultur nicht erfunden, sondern faktisch vorhanden sind), lässt man dabei ebenso aus wie den Umstand, dass „Europa“ und „res publica christiana“ durchaus Konzepte waren, die in der Frühen Neuzeit bzw. im Mittelalter bekannt waren.

Die Crux, die in dieser Betrachtung immer wieder auffällt: je weiter die Apologeten eine politische europäische Idee vorantreiben, desto eher tritt die kulturelle europäische Idee zurück. Das Paradoxon lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Charles de Gaulle und Konrad Adenauer wussten als Gründer einer Vorform der Europäischen Union sehr genau, was Europa war, das sie zuvorderst als kulturelle-zivilisatorische (und vor allem: religiöse!) Entität auffassten. Angela Merkel und Emanuel Macron dagegen leben heute in einem politischen „Europa“, ohne zu wissen, was der eigentliche Grundstein desselben ist. Adenauer und de Gaulle hatten mit dem Katholizismus und der Berufung auf das Karolingerreich eine Idee, und es mag nicht verwundern, dass in den Anfangsjahren der jungen Europa-Idee eben diese vor allem von den (katholischen) Christdemokraten in den Ländern Westeuropas propagiert wurde. Selbstaufgabe und alternativlose Europa-Einigung, wie manche sie heute aus diesen Positionen herleiten wollen, kann man aber nicht rückschließen. Für de Gaulle blieb Europa ein „Europa der Vaterländer“; und was Adenauer von seiner Nachfolgerin gehalten hätte, lässt sich bei diesen Zitaten erahnen:

Europa ist nur möglich, wenn eine Gemeinschaft der europäischen Völker wiederhergestellt wird, in der jedes Volk seinen unersetzlichen, unvertretbaren Beitrag zur europäischen Wirtschaft und Kultur, zum abendländischen Denken, Dichten und Gestalten liefert. Wir hoffen, daß einmal wieder auch der deutsche Geist im Chor der Völker seine Stimme erheben wird.
Ich bin Deutscher und bleibe Deutscher, aber ich war auch immer Europäer und habe als solcher gefühlt.

Ich betone allerdings in einer Verflechtung – Verflechtung bedeutet geben und nehmen -, nicht so, daß der eine Partner, das sind wir, lediglich gibt und lediglich arbeitet, nein, es muß ein gegenseitiges Geben und ein gegenseitiges Nehmen sein. Eine solch wirtschaftliche Verflechtung gibt persönliche Annäherung, gibt kulturelle Annäherung, gibt politische Annäherung. Deswegen sollte man diesen Schritt tun.

Die politische Integration Europas ist nicht eine alleinige Angelegenheit zwischen Frankreich und Deutschland. Sicher ist die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland, eine dauernde Verständigung, eine Voraussetzung dieser Integration Europas. Aber Integration Europas, das ist etwas viel größeres und weiteres. Dazu gehören auch außer Frankreich und Deutschland Italien, die Beneluxländer, Österreich, und wenn irgendwie möglich, auch die nordischen Länder und England. Und diese Integration Europas muß erreicht werden, wenn wir die abendländische Kultur und das christliche Europa retten wollen. Die Integration Europas ist die einzige mögliche Rettung des christlichen Abendlandes.

Die Passagen stammen aus verschiedenen Reden Adenauers von 1946 bis 1951. Die Römischen Verträge liegen da noch ein ganzes Stück in der Zukunft. Der aufmerksame Leser wird zwei Dinge beobachten: erstens, dass Adenauer von einer „Wiederherstellung“ der europäischen Gemeinschaft spricht. Das bedeutet, dass Adenauer – wie auch Zeitgenossen – entgegen heutiger EU-Propaganda die Gründung der Montanunion oder der späteren EWG nicht als „Urknall“ ansah. Anders, als uns die EU-Werbung vormachen will, entsannen sich die damaligen Politiker der Vorläufer. Die Politiker der 1950er kannten noch die Zeit vor dem „Europäischen Bürgerkrieg“, sie entsannen sich des Mächtekonzerts zwischen 1871 bis 1914. Das waren immerhin 43 Jahre Frieden – ganz ohne supranationale Organisation.

Adenauers Europa-Idee war weitaus näher an Joseph Görres und Constantin Frantz (die er im Übrigen auch so erwähnte) als an der heute realexistierenden Union. Görres wie Frantz wollten ein Heiliges Römisches Reich europäischer Dimension. Das ist das, was Adenauer als „Vereinigte Staaten von Europa“ denkt, nicht etwa ein geschlossener, zentralistischer Staat. Es wäre zudem absurd zu denken, den Rheinländer Adenauer – der sich zeitlebens für eine Abspaltung von Preußen und eine unabhängige Rheinprovinz im Deutschen Reich einsetzte – hätte plötzlich alexandrinische Großmannssucht getrieben. Der politische Katholizismus war nicht nur in Deutschland föderal ausgerichtet. Was den „Alten“ umtrieb, war eben weitaus mehr als politische Macht – es ging ihm um das kulturelle Überleben Europas:

Ob die europäische Kultur ihre führende Stellung behalten wird? Ich glaube nicht, wenn wir sie nicht verteidigen und den neueren Verhältnissen entsprechend entwickeln, denn auch Kulturen sind, wie die Geschichte zeigt, gefährdet.

Die Europäische Union, das war der eigentliche Impetus, sollte das kulturelle Europa retten. Der Mitbegründer des politischen Europas war im Grunde selbst einer jener Beschwörer des abendländischen Untergangs. Dies war nicht nur auf den gerade erlebten, Zweiten Dreißigjährigen Krieg zurückzuführen. Wie de Gaulle und andere Politiker seiner Generation wurzelte Adenauer noch fest in einer alteuropäischen Erziehung, die eben nicht erst ab einem gewissen Datum begann. Die Bibel, die Ilias, die Göttliche Komödie – kein ferner Stoff, sondern in das Mark der regierenden Oberschicht übergegangen. Geschichte umfasste mehr als die letzten drei Generationen. Der Untergang der eigenen Kultur ist dabei in der europäischen Geschichte wiederkehrendes Element. Es bleibt ein wirkmächtiges Symbol, dass das erste Werk europäischer Zivilisation den Untergang einer Kultur, nämlich der trojanischen, zum Epos erhoben hat. Obwohl der Trojanische Krieg kaum als einzelnes historisches Ereignis betrachtet werden kann, so ist es doch letztendlich eine dunkle Erinnerung an jene Zeit der Umwälzung im 11. vorchristlichen Jahrhundert, in deren Zuge die frühen mittelmeerischen Kulturen zugrunde gingen – darunter auch die mykenische und minoische.

Der Untergang Roms, der vermutlich bis heute bestimmendsten Zivilisation auf diesem Kontinent, die auf Recht, Sprache und Religion so viel Einfluss nahm wie keine andere in unseren Breiten, ist das stete Menetekel europäischer Politik: das Römische Reich war das „Europäische Reich“, das wie kein anderes griechischen Geist und christliche Religion zusammenfasste. Nichts, was danach in Europa entstand, konnte sich je wieder mit Rom messen. Die Größe Roms wirkte selbst Jahrhunderte nach dem Untergang fort: wer danach in Europa herrschte, musste sich auf Rom berufen können, oder Rom übertreffen wollen. Die Franken bauten den Mythos auf, wie die Römer aus Troja zu stammen; die italienischen Kommunen sahen sich als Nachfolger der Römischen Republik; die römisch-deutschen Könige verstanden sich vor allem als Kaiser der Römer.

Erst die Französische Revolution samt Napoleonischer Kriege markiert einen dritten Untergang – den „Alteuropas“. Die Reformation mag religiöse Sicherheiten infrage gestellt haben, sie stellte aber nicht die Religion infrage; der Dreißigjährige Krieg zerstörte Mitteleuropa, aber er zerstörte nicht das Heilige Römische Reich; in der Englischen Revolution ließ Cromwell den König töten, die Französische Revolution tötete dagegen die Monarchie. Auf wirtschaftlichem und sozialem Feld tat die Industrielle Revolution ihr Übriges.

Mit den beiden Weltkriegen, die auch dieses europäische Zeitalter beendeten, zählt das Abendland bereits seinen vierten Untergang. Der Unterschied zu der Umwälzung von 1789 war jedoch, dass die Revolutionen nicht die Dominanz der europäischen Mächte und der europäischen Kultur auf dem Globus eindämmten. Ganz anders dagegen die Auswirkungen von 1914. Bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde deutlich, dass weder Großbritannien noch Frankreich als echte „Sieger“ aus dem Händeringen hervorgegangen waren, sondern unter den wirtschaftlichen Auswirkungen litten. Der Zweite Weltkrieg schaffte dann die alte Weltordnung, die zuvor eine europäische gewesen war, zugunsten des Bipolarismus zwischen den USA und der Sowjetunion ab. Politisch wie kulturell gingen danach keine Impulse mehr vom alten Kontinent aus.

Die Europa-Idee der Gründerväter begleitete demnach der Gedanke: retten, was zu retten ist. Das Europa, das Adenauer und de Gaulle vorschwebte, war eines, das die Völker Europas und ihre Eigenarten rettete. Der Kommunismus galt deswegen als gefährlich, weil er die religiöse und kulturelle Wurzel der europäischen Völker ausrotten wollte. Der Widerstand in Polen und Ungarn war ein vornehmlich katholischer bzw. nationaler. Die Widerständigkeit Europas gegen fremde Ideologien und Mächte war besonders dann gegeben, wenn es sich seiner eigenen Identität bewusst war. Das deutsche Volk sollte eben nicht in einem „europäischen Volk“ aufgehen, oder gar ein bunter Genpool der Diversität werden, sondern es hatte wie das italienische oder das französische eine besondere Aufgabe, die es in der Völkergemeinschaft erfüllen sollte.

Es ist dabei ein Treppenwitz der Weltgeschichte, das ausgerechnet das Instrument, das zum Erhalt europäischer Unabhängigkeit geschaffen wurde, heute gegen die Vielfalt der Völker und Kulturen Europas angewendet wird. Wenn ausgerechnet die EU die Massenzuwanderung befördert, sich nicht zu einem Bekenntnis zum Christentum durchringen kann, oder weiterhin auf Vergemeinschaftung von Schulden, statt auf „gemeinsames Geben und Nehmen“ drängt, dann werden nicht nur die Ideen der Gründerväter pervertiert, sondern genau das, was Europa eigentlich ist. Es ist auch dies, was die heutigen Vorzeige-Europäer nie verstehen werden, nämlich, dass viele angebliche Anti-Europäer mehr von diesem Kontinent und seiner Kultur verstanden haben als die Bürokraten in Brüssel, die in Wirklichkeit den Untergang des Abendlandes zum fünften Mal einleiten. Das eigentliche Ziel haben sie zugunsten eines Kultes völlig aus den Augen verloren.

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