Sie sind ein Genie, Herr Erdogan

31. Juli 2017
Kategorie: Europa | Freiheit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Persönliches

Ein offener – wenn nicht ganz unsatirischer – Brief vom Gardasee.

Sehr geehrter Herr Staatspräsident,

wenn heute der Name Erdogan außerhalb der Türkei erklingt, dann meistens mit negativem Beiklang. Diktator, Menschenverächter, Feind der Freiheit. Der Putsch – Sie erinnern sich? Sie beschrieben ihn als „Gottesgeschenk“ – hatte zwar einen etwas schalen Beigeschmack, aber Wunder gibt es immer wieder. Die verschiedenen Verfassungsänderungen, dazu ein Referendum, der Abschied von der EU, die baldige Wiedereinführung der Todesstrafe, die Absolutierung der Präsidentengewalt; ja, so mancher Kleingeist könnte denken, Sie seien ein gar fürchterlicher Dämon, der die Türkei direkt zurück zum Osmanensultanat führt.

Und dann der Fall Deniz! In Deutschland gibt es ja kaum ein anderes Thema, wenn Ihr Name erklingt.

Aber hier am Gardasee, sehr geehrter Herr Staatspräsident, kennen wir Deniz nicht. Uns ist auch reichlich egal, was Sie so an Referenden treiben, da Italien es aus wenig ersichtlichen Gründen übersehen hat, sich eine fünfte Kolonne an Auslandstürken heranzuzüchten, die nun allerlei Unfug macht. Wir müssen nicht über die Loyalität von Italo-Türken nachdenken, wir haben keine türkischen Journalisten, und wir haben daher auch keine türkischen Massendemonstrationen. Während man in Deutschland bei jedem Referendum in der Türkei den Eindruck hat, die Türkei sei gewissermaßen ein erweiterter Teil Germaniens (wobei wir es besser wissen, nicht wahr: eigentlich verhält es sich genau andersherum), war hierzulande die Korruptionsaffäre Ihres geschätzten Sohnemanns ein größeres Thema. Ansonsten liegt die Türkei – obwohl Italien geographisch weit näher als Deutschland – ziemlich weit weg.

Sehr geehrter Herr Staatspräsident – diese Distanz ist nun nicht mehr gegeben. Wir haben uns lange nicht um die Türkei gekümmert, außer, wenn es um mögliche Pipelines vom Bosporus nach Süditalien ging. Wir haben das Osmanenreich nie als Teil Europas anerkannt und jede Diskussion von Anfang an für abstrus empfunden, die in diese Richtung ging. Daher war uns auch ziemlich egal, ob vor Ort der Sultan, das Militär, oder eben Sie herrschen. Aber: wir Italiener, insbesondere die Italiener am Gardasee, haben ihre Meinung geändert! Und stellvertretend will ich hier für meine gardesanischen Landsleute sprechen und laut rufen: nein, es ist nicht alles schlecht!

Ich habe lange mit mir gerungen, dies zu sagen, aber ich bewundere Sie ganz aufrichtig für das, was Sie geleistet haben. Jeder, der etwas Verstand hat, bemerkt das Unternehmerblut in Ihnen, das tief in Ihren Adern schlummert – ich komme aus einer Unternehmerfamilie, ich weiß, wovon ich spreche. Der wirtschaftliche Aufbau, den Sie geleistet haben, ist enorm. Ein Land in der Krise – und Sie kommen aus dem Nirgendwo, um es wieder aufzubauen.

Sie denken, ich spreche vom Aufschwung in der Türkei? Sie irren! Sie, Herr Staatspräsident, Sie allein haben etwas geschafft, was niemand zuvor geschafft hat – Sie haben gleich zwei Länder aufgebaut. Ich spreche natürlich von Italien, nicht von der Türkei!

Während die türkischen Strände leer bleiben, entdecken Deutsche, Dänen, Niederländer und sogar Briten wieder ihr Herz für Italien. Hier haben sie keine islamischen Terroranschläge zu fürchten, hier in Italien wissen sie, woran sie sind. Waren noch vor drei Jahren unzählige Wohnungen zu vermieten und zu verkaufen gewesen, haben vor allem die Nordeuropäer bei uns investiert. Die Restaurants sind voll, der Bootsverleih boomt und überall am See spürt man eine Aufbruchsstimmung, wie wir sie lange nicht mehr kannten. Und das, Herr Staatspräsident, haben wir ihrer großartigen Politik zu verdanken. Sie sind ein Genie, Herr Erdogan.

Dabei habe ich nicht einmal die vielen reichen Russen erwähnt, die Sie vorausschauenderweise vergrault haben, wohl wissend, dass Sie damit der gebeutelten italienischen Wirtschaft ein neues Standbein bieten. Wir hießen sie hier freundlich willkommen, und nun rollt der Rubel zwar nicht mehr in Antalya oder Trabzon, dafür aber in Desenzano und Peschiera. Aber das wussten Sie natürlich – denn wer würde sich denn freiwillig um das touristische Millionengeschäft bringen, wenn nicht aus Barmherzigkeit für das italienische Volk?

Seit Mussolini hatte Italien keinen so herausragenden Wirtschaftsminister mehr, und das ganz ohne Wirtschaftsminister zu sein. Schwamm drüber! Wir bewundern hier Ihre Führungsqualitäten, Ihre Tatkraft und Ihren Willen, die Türkei in eine glänzende Zukunft zu führen. Wie die aussieht, wissen wir zwar nicht, aber nur zu, machen Sie weiter – es wird sicherlich nicht zu unserem Schaden sein.

Daher zuletzt ein paar persönliche Worte: Ich finde Sie ganz großartig, Herr Erdogan. Ich muss niemanden mehr überzeugen, dass die Türkei nicht in die EU gehört – das zeigen Sie jeden Tag aufs Neue. Wenn ich aufzeigen will, warum die türkische und europäische Kultur inkompatibel sind – ich muss nur das Fernsehen einschalten. Jeden Türkeiträumer stürzen Sie in die harte und bittere Realität zurück. Sie erinnern sich noch an die Schröderjahre, in denen ein Türkeibeitritt vor der Türe stand? Niemand, absolut niemand wäre heute noch so verrückt, dieses Projekt voranzutreiben. Sie nehmen uns jegliche Arbeit ab. Und während deutsche Journalisten immer noch von einer säkularen Türkei träumen, andererseits aber mit dem Fall Deniz hausieren gehen, können wir uns am See mit einer kühlen Cedrata zurücklehnen, während viele andere verprellte Türkei-Urlauber hier ihr Glück finden. Eine Win-Win-Situation in so vielen Bereichen.

Danke, Herr Staatspräsident, für Ihre unermüdliche Arbeit, Italien wirtschaftlich aufzurichten und einen EU-Beitritt auf alle Zeit verhindert zu haben.

Möge Ihnen Allah ein langes Leben und eine noch längere Regierungszeit schenken,

Marco Fausto Gallina

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