Im Grunde hat die CDU keine Existenzberechtigung. Kann man den Grünen und Linken vorwerfen, diesen Staat direkt in den Sozialismus führen zu wollen, so ist dies ja kein Geheimnis unter Parteigenossen; dass „liberal“ heute indes so viel wie „egal“ (der Rheinländer könnte hinzufügen: „scheißejal“) ist, und für einen Lindner Parteiprogramm wie Koalitionspartner austauschbar sind, muss ebenso wenig erwähnt werden. Die einzige Partei, die insofern Etikettenschwindel betreibt, ist Merkels Union, bei der das bayrische Pendant ab und an den „bad cop“ spielt, um die bierseligen und bräsigen Gärtnerkonservativen bei der Stange zu halten, indem sie das Wohlgefühl maßtrinkender Altherrenvereine aufrecht erhält. Dass Seehofer und Konsorten dabei keine Rolle spielen, ist zwar jedem irgendwie insgeheim bewusst, man bleibt jedoch bei der Illusion, weil – nun ja – in Deutschland schon immer der Glaube, die Theorie, die Idee mehr gegolten hat als die Praxis, die man sehen, fühlen und riechen kann. Das Konzept der „Ehe für alle“ stinkt daher ebenso wie der radioaktive Vorfall in Fukushima, nämlich nach einem neuerlichen Merkelmanöver. Dass dies noch einen wundert, bleibt die einzige Besonderheit, schlachtet Merkel doch nahezu jedes Tabu, wenn es ihr einen Vorteil bietet. Selbst Kohl-Kritiker dürften mittlerweile eingestehen, dass die Schülerin hier Wege beschreitet, die der pfälzische Lehrer noch für unmöglich erachtete. Zumindest bei einigen Punkten, die das gesellschaftliche Zusammenleben angeht, dürfte er Orbán näher gestanden haben. Für einen kurzen wahltaktischen Vorteil wäre Merkel nicht nur bereit, die sprichwörtliche Großmutter zu verkaufen, sondern wohl auch den Rest ihrer Sippschaft, die nur aufgrund ausbleibenden Nachwuchses kleiner ausfällt als bei anderen.
Die Crux dieser durch und durch merkelisierten Republik bleibt die Naivität des bürgerlichen Lagers, dass die Union schon alles in Ordnung brächte, indem es allein die Grünen, die SPD und die Postkommunisten zu den Übeln dieser Republik erklärt. Man wettert gegen die Grünen, obwohl die eigene Parteichefin deren Ideen jederzeit durchbringt, wenn sie sich damit wieder des Wohlwollens von Presse und Umfragen versichern kann. Sie nennt das dann „verantwortungsvolle Politik“, wir hören von „Pragmatismus“ und gar von „Menschenrechten“. Zweifel an diesen alternativlosen Wegen, die ehemalige CDU-Politik – Atompolitik, Maastricht-Verträge, christliches Bekenntnis – über den Haufen werfen, macht einem nicht etwa zum vernünftigen Zweifler, sondern zum populistischen Ketzer. Man kann dann die „Fresse“ eines Andersmeinenden nicht mehr sehen, wie einst aus der Zentrale pofallerte. Diese Gesinnungshetze führt soweit, dass man heute begründen muss, wieso man gegen die „Ehe für alle“ ist, während noch um die Jahrtausendwende genau das Gegenteil herrschte – niemand hätte dies begründen müssen, weil es allgemeiner Konsens war. Die Fordernden waren stets in der Bringschuld. Heute sind es immer die Verteidigenden. Während die Futuristen des beginnenden 20. Jahrhunderts noch den Fortschritt als Fest rauchender Motoren, stählerner Monstren und modernistischen Abenteurgeistes feierten, der nunmehr auch die Luft eroberte, bedeutet „Fortschritt“ heute das Klein-Klein ideologischer gesellschaftspolitischer Konzepte, mag es nun die Auflösung regionaler, nationaler oder gar zivilisatorischer Identität zugunsten nichtssagender verfassungspatriotischer Luftschlösser sein, oder eben die Ehe für Mann, Frau und Hermaphroditen, damit auch Loretta endlich Babys bekommen kann. Die absurde Groteske unserer Zeit ist gelebter Montypythonismus, nur ohne Pointe (wobei Verächter der britischen Komiker selbiges schon immer behauptet haben). Die Fortschrittskämpfer des 21. Jahrhunderts können sich nicht am Großen, Schnellen und Gefährlichen begeistern: sie sind im Grunde langweilige Spießer, die den Gipfel menschlicher Leistung nicht mit der Mondlandung gleichsetzen, sondern der Heirat zweier Männer oder zweier Frauen vor einem Standesamt. Jeder möge selbst ermessen, ob das wirklich „progressiv“ genannt werden kann, oder nicht im schlimmsten Sinne spießig. Der grüne Geist, aus dem solche Ideen krochen, ist im hohen Grade unromantisch und so visionär wie Merkel selbst. Das „plötzliche Umschwenken“, das ja eben nicht plötzlich kommt, sondern völlig vorhersehbar, ist reine Gewohnheit bzw. eingefahrene Marotte. Sie langweilt im Grunde – und kann nur noch die überraschen, welche die Kanzlerin immer noch nicht durchschaut haben, die zuletzt eine höchstlangweilige, mediokre Sparkassenangestellte sein könnte, die mit derselben Routine Konten öffnet und schließt.
Feuer und Vision hätte ja eben nicht bedeutet, nun dieses zeitgeistige Konzept zu befördern, sondern sich dagegen zu stellen. Die angeblichen Revolutionäre, diese Kämpfer für „soziale Gerechtigkeit“ können nur in den langweiligsten Kategorien denken, wenn sie eine so banale Sache wie die menschliche Sexualität oder Hautfarbe zum Paradestreitprojekt befördern. In ihrer Welt haben Rekorde, Meisterleistungen und nietzscheanisches Übermenschentum keinerlei Platz. Mit der Mentalität dieser „bunten“ Einhörner erscheint eine Karriere als Finanzbeamter in gesicherten, wohlfühligen Verhältnisse innerhalb eines „safe space“ weitaus logischer als das eines umtriebigen, querdenkenden Künstlers. Dass Merkel diesen Leuten nachgibt, erscheint konsequent, wenn auch nicht beabsichtigt: die Kanzlerin will der SPD ein Wahlkampfthema nehmen, bevor es eines wird. Typischer Trick der ewigen Mutti: statt Wahlkampfthemen zu setzen, werden diese einfach abgeschafft. Symbolisch jedoch ist es allemal.
Ein beiläufiger Treppenwitz, dass jemand wie Jens Spahn als „konservativer Hoffungsträger“ gilt. Man trifft nunmehr immer wieder auf die Behauptung, die „Ehe für alle“ sei ja keine linke Idee, weil ja auch die CDU sie verträte. Heißt, konservativ ist das, was die CDU sagt. Der Konservatismus der CDU lässt sich dabei folgendermaßen hinunterbrechen:
Ich bin gegen Abtreibung, aber halte meine Klappe, weil das ja nicht Mehrheitsmeinung ist.
Ich bin für die traditionelle Ehe, aber das ist ja nicht durchsetzbar.
Ich bin gegen Atomstrom, aber das geht ja eigentlich gar nicht.
Ich bin gegen die Schuldenunion, aber Mutti ist eben anderer Meinung, also stimme ich so.
Dergleichen ist heute die Definition von „konservativ“, folgt man Vordenkerinnen wie Liane Bednarz. Früher nannte man es schlicht Rückgratlosigkeit. Aber im Deutschland einer Kanzlerin Merkel ist Wendigkeit und „Anpassung“ zur Tugend erkoren worden. Alles andere steht unter Verdacht. Merkwürdigerweise wird in der Causa „Ehe für alle“ mit einem abstrusen „Volkswillen“ argumentiert, weshalb dieses Mal im Bundestag die einmalige Neuheit vollführt wird, dass Abgeordnete tatsächlich ihrem Gewissen verantwortlich sind. Warum das Volk hier, aber weder in der Griechenland- noch Flüchtlingskrise gehört wurde, bleibt ein Geheimnis der Regierenden.
Wer Populist ist – so sagen Maas und Merkel – bestimme ich.