Im selben Boot auf stürmischer See

We men and women are all in the same boat, upon a stormy sea. We owe to each other a terrible and tragic loyalty.

Gilbert Keith Chesterton (* 29. Mai 1874 im Londoner Stadtteil Kensington; † 14. Juni 1936 in Beaconsfield).

18 Antworten

Missing Link sagt:

19. März 2017 um 15:12 Uhr

Lieber Herr Gallina, was gefällt Ihnen so an Herrn Chesterton, daß Sie ihn hier zitieren? Seine Ansichten und Äußerungen waren widersprüchlich und und befremdlich. Auch das obige Zitat ist wohl kaum sehr geistreich, sondern eher eigenartig…oder ist mir da etwas entgangen?

Marco Gallina sagt:

19. März 2017 um 15:16 Uhr

Wir scheinen zwei verschiedene Chestertons zu kennen.

PS: Was soll an dem Zitat denn „eigenartig“ sein?

Missing Link sagt:

19. März 2017 um 16:19 Uhr

„Wir scheinen zwei verschiedene Chestertons zu kennen.“
Nein, nein, wir sehen ihn nur mit verschiedenen Augen. Ich glaube, das hier genügt (mir):
https://de.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton
Wobei ich mich natürlich gerne von Ihnen, Herr Gallina, belehren lasse.

„Was soll an dem Zitat denn „eigenartig“ sein?“
Warum sind nur „wir Männer und Frauen“ in dem Boot, und nicht alles „Lebendige“? Warum ist die gegenseitige Loyalität „schrecklich und tragisch“? Ist „die stürmische See“ nicht gerade das Schöne im Leben?

Marco Gallina sagt:

19. März 2017 um 16:35 Uhr

Die Aussage Chestertons ist komplementär zu verstehen, im Gegensatz zum damals aufkommenden Feminismus, der die Geschlechter als konkurrierend auffasst.

Ich teile auch nicht alles von Chesterton. Zum Jahreswechsel 2015/2016 habe ich ihn sogar kritisiert und einen Spruch „Unfug“ genannt. Bei einem Werk von 80 Büchern kann man aber auch nicht alles gut finden, und die meisten Philosophen sind, wenn man sie genau betrachtet, oftmals widersprüchlich für Außenstehende. Ich behaupte, dass ich das als reaktionär-libertärer Mensch auch in einigen Belangen bin (einige würden diesen Bindestrich als ausschließend werten). Es gibt aber einige Dinge, die Chesterton sehr hellsichtig erkannt und formuliert hat, so bezüglich des Verhältnisses zwischen Mann und Frau, dem Islam und Europa, oder auch in der Wirtschaft (wo ich nur bis zu einem bestimmten Punkt mitgehe). Darüber hinaus halte ich ihn im literarischen Bereich außerhalb von Father Brown mittlerweile für fast vergessen, m. E. zu Unrecht.

Dass Wikipedia im Übrigen besonders bei Autoren außerhalb des linksliberalen Milieus keine gute Quelle darstellt, ist hinlänglich bekannt. Schauen Sie nur mal ins englische Wiki. Das ist teils schon ein bemerkenswerter Kontrast.

http://www.marcogallina.de/2016/01/02/ein-gutes-neues-jahr-2016/
http://www.marcogallina.de/2016/11/04/es-ist-furchtbar-darueber-nachzudenken-wie-wenige-politiker-heutztage-gehaengt-werden/
http://www.marcogallina.de/2016/11/05/chesterton-und-der-dorfbaum/
http://www.marcogallina.de/2016/10/08/lepanto/

Imrahil sagt:

19. März 2017 um 18:07 Uhr

Weil Chesterton halt einfach cool ist.

Imrahil sagt:

19. März 2017 um 18:12 Uhr

Übrigens nachträglich: teilweise Einspruch zum Neujahrszitat.

Er hat da natürlich in typischer Chesterton-Manier übertrieben (das ist ein literarisches Stilmittel und kein moralischer Makel!). *Selbstverständlich* kann ein Mensch auch die Gewohnheit haben, seine Vorsätze zum Geburtstag, zum Tauftag, zu Septuagesima, zum Aschermittwoch, zum ersten Advent, zum Namenstag oder zu sonst einem geeigneten Zeitpunkt zu machen. Selbstverständlich kann er in demütiger Selbsteinschätzung es dann für zu viel verlangt halten, zu Neujahr schon wieder welche zu fassen, außer die allgemeinen beim Beichten.

Da würde Chesterton, in präzisierter Form, wohl auch nicht widersprechen.

Dem Tenor seiner Aussage stimme ich aber explizit zu, weil es eben exakt nicht nur eine eintönige Kontinuität gibt.

Marco Gallina sagt:

19. März 2017 um 18:22 Uhr

Ich vermute, dass gerade seine Übertreibungen zu den größten Missverständnissen führen. Siehe „Dorfbaum“. 😉

Die Kontinuität des Feldweges ist ja auch nicht eintönig. Aber ich denke, ich habe sehr genau geschrieben, was mir missfällt: Chesterton schrieb ja explizit, wer keine Silvestervorsätze mache, mache gar keine mehr – ich tue das nie, gerade als Silvesterkind kann ich mich nicht daran erinnern. Vorsätze habe ich aber durchaus, aber eben weitaus langwierigere.

Missing Link sagt:

19. März 2017 um 18:13 Uhr

Lieber Herr Gallina, danke für die ausführliche Stellungnahme, werde mich mit Ihren Hinweisen beschäftigen.

Mira sagt:

19. März 2017 um 17:23 Uhr

Wie würden Sie denn den zweiten Satz verstehen bzw. interpretieren, Herr Gallina? Das ist nicht provokant gefragt, sondern interessiert (das Internet verschluckt solche Feinheiten gerne).

Marco Gallina sagt:

19. März 2017 um 17:42 Uhr

Schicksalsträchtig; einerseits immer wieder im Clinch, weil divers und nicht das Ergänzende, sondern oftmals nur das Trennende erkennend, aber trotzdem gebunden, weil nicht für die Einsamkeit oder gar Konkurrenz gemacht (welche in letzter Instanz zum Aussterben der Menschheit selbst führt).

Marco Gallina sagt:

19. März 2017 um 18:24 Uhr

Spannend im Übrigen zu sehen, dass es immer wieder die Aphorismen sind – ob eigene oder fremde – die hier durchgängig die größten Diskussionen entfachen …

Mira sagt:

19. März 2017 um 18:52 Uhr

In meinem Fall liegt das daran, dass die meisten Blogger beim Posten von Aphorismen ihre eigene Haltung oder ihre Gründe nicht dazuschreiben. Ein Blog ist viel persönlicher als z.B. eine Zeitung und daher schwingt die Frage nach den Beweggründen des Schreibenden viel stärker im Hintergrund mit.

Daher sei Ihnen herzlich gedankt, dass Sie hier auch Rede und Antwort stehen. Das ist nicht bei sehr vielen Blogs der Fall.

Viele Sonntagsgrüße

Marco Gallina sagt:

19. März 2017 um 19:04 Uhr

Leider habe ich auch nicht immer so viel Zeit zur Verfügung; dem Herrn Wolkenspalter bin ich immer noch eine längere Antwort auf eine Frage schuldig. Ein Anlass zum heutigen Zitat ist natürlich der Josefstag als Familientag.

Schönen Sonntag.

Herbert Wolkenspalter sagt:

20. März 2017 um 16:14 Uhr

Ich lese das hier gerade eher zufällig, Herr Gallina. Meinetwegen brauchen Sie nicht explizit zu antworten. Sehen Sie es als Denkanstoß und vor allen Dingen nicht persönlich. Denn es ging eigentlich um ein allgemeines Prinzip, das nicht nur etwas mit Geschichte zu tun hat.

mfg HW

Marco Gallina sagt:

20. März 2017 um 16:52 Uhr

Ich war an dem Tag – eigentlich die ganze letzte Woche – recht beschäftigt, bin es eigentlich immer noch. Meine ausbleibende Antwort soll nicht als Ignoranz oder Arroganz missverstanden werden, manchmal hat man auch nicht „den Kopf dafür“.

Herbert Wolkenspalter sagt:

21. März 2017 um 13:49 Uhr

Ich sehe das überhaupt nicht negativ, Herr Gallina. Teils merke ich bei mir selber, dass zu vieles Schreiben oder Kommentieren die Qualität nicht steigert. Besser, etwas mal eine Weile sacken lassen, aber dafür dann ein fundierteres Gesamtbild haben. Es ist beim Schreiben nicht anders als bei der Kunst: Auftragskunst (gilt auch für selbstgegebene Aufträge) ist nicht dasselbe wie originäre Kunst, die man nicht bestellen kann, die Einer aber spürt, wenn sie aus ihm raus will.

Marco Gallina sagt:

21. März 2017 um 14:22 Uhr

Sehr schön gesprochen!

Ulrich Christoph sagt:

20. März 2017 um 0:34 Uhr

Chesterton war, ungeachtet seines heterogenen Gesamtwerks, vor allem ein Dichter vom Kaliber Dantes (Herr Gallina möge es mir nachsehen!). Ein im Vergleich zu Dante allerdings – physisch und künstlerisch – aus den Fugen geratener Meister der Sprache; er war von einer geradezu gewalttätigen Christlichkeit und verglich das „Universum der Atheisten“ mit einem „Labyrinth ohne Mitte“ –, einem chaotischen, bösen Kosmos mit gnostischen Zügen.
Er sagte einmal, die Sprache sei von Jägern, Fischern und Nomaden erfunden und daher von Grund auf poetisch.

In einem Essay von Jorge Luis Borges über Sprache fand ich folgendes Chesterton-Zitat:
„Der Mensch weiß, dass seine Seele Tönungen birgt, bestürzender, zahlloser und namenloser als die Farbschattierungen eines Herbstwaldes (…). Dennoch glaubt er ernsthaft, daß diese Tönungen in allen ihren Verschmelzungen und Übergängen durch einen willkürlichen Grunz- und Kreischmechanismus wiedergegeben werden können. Er glaubt, daß aus dem Inneren eines Börsianers tatsächlich Geräusche hervordringen, die alle Mysterien des Erinnerns und alle Agonien der Sehnsucht ausdrücken (…).“

Darin steckt schon fast der ganze, inkommensurable Brocken namens Chesterton.
Borges, zu dessen Lieblingsautoren Chesterton gehörte, lieferte in einem Aufsatz über Oscar Wilde dieses apodiktische Urteil über Chesterton:
„(…) das tapfere Werk Chestertons, dieses Prototyps physischer und moralischer Gesundheit, (ist) immer nahe daran, sich in einen Albtraum zu verwandeln. Diabolisches und Horror lauern darin; es kann auf der harmlosesten Seite die Formen des Entsetzens annehmen. Chesterton ist ein Mann, der die Kindheit wiedergewinnen will; wie Chesterton (…) zählt Wilde zu jenen Glücklichen, die der Zustimmung der Kritik entraten können und zuweilen sogar der Zustimmung des Lesers, da der Genuß, den uns der Umgang mit ihnen beschert, unwiderstehlich und dauerhaft ist.“ (Borges, Eine neue Widerlegung der Zeit, Eichborn 2003.) Wer wagte es, da Widerworte zu geben?

Chesterton war wohl „nicht von dieser Welt“; und bezeichnend dafür ist seine in der englischen Wikipedia beschriebene, bevorzugte Methode der Orientierung:
„He had a tendency to forget where he was supposed to be going and miss the train that was supposed to take him there. It is reported that on several occasions he sent a telegram to his wife Frances from some distant (and incorrect) location, writing such things as „Am in Market Harborough. Where ought I to be?“ to which she would reply, „Home“.

Letzteres variiert unverhofft den heutigen Aphorismus: … We (Gilbert and Frances) owe to each other a witty loyalty.

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