Die Peinlichkeiten in der Causa Yücel nehmen kein Ende. Noch letztens hatte der neue Außenminister Gabriel vollmundig verkündet, dass Deniz Yücel ein „deutscher Patriot“ sei, und ein Beispiel für „gelungene Integration“. Ob Gabriel dies aus den taz-Berichten über den deutschen Volkstod herausliest, bleibt offen.
Aber dies ist kein Einzelfall. So schreibt WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt einen rührseligen Brief an den türkischen Präsidenten. In jeder Zeile sticht die zur Bescheidenheit umgedeutete Geltungssucht eines Vorstehers der Quantitätsmedien durch, der um die schwindende Bedeutung der eigenen Zeitung weiß, und sich durch diese Adressierung an einen orientalischen Potentaten – nicht nur im Sinne der Freilassung eines Journalisten, sondern natürlich auch der global geltenden Meinungs- und Pressefreiheit – als Leuchtbild der freien Welt aufspielt. In den Redaktionsstuben träumt man von Weltpolitik.
Ob Erdogan das Traktat beantwortet, oder überhaupt zur Kenntnis nimmt, ist ungewiss und eher unwahrscheinlich. Auch fraglich, ob dergleichen überhaupt Absicht ist, und nicht eher der Leserschaft der eigenen und anderen Zeitungen Deutschlands gilt, oder allgemeinem Medienaufsehen, um öffentlich eine weitere Träne nachzuweinen, die das Martyrium Deniz Yücels beschwört. Es bleibt eine Frage der Zeit bis zur Etablierung von Merchandising im Falle von #FreeDeniz.
Einige der schönsten Stellen habe ich folgend zusammengestellt:
Als ich Deniz vor zwei Jahren traf, um ihn zu unserer Zeitung zu holen, wollten wir beide, dass er über Innenpolitik schreibt. Bis wir anfingen, über die Türkei zu sprechen und die Menschen, die dort leben. Mir wurde klar, wie sehr Deniz das Land seiner Mütter und Väter liebt. Deswegen ging er für uns in die Türkei. Er schaffte es, mit seinen Reportagen und Analysen in unseren Zeitungen und online zigtausende Menschen, die von Kultur und Tradition der Türkei wenig wussten, für Ihr Land zu interessieren.
Oder:
Mein Vater war als bayerischer Beamter Ende der 80er-Jahre im Finanzministerium in Ankara, um bei der Modernisierung der türkischen Steuerverwaltung mitzuhelfen. Er erzählt noch heute von dem unglaublichen Fleiß und dem Engagement der Kollegen, die auch am Samstagnachmittag noch selbstverständlich im Ministerium arbeiteten. Er war beeindruckt, dass bereits um 1989 viele Frauen auf wichtigen Positionen im Ministerium saßen.
Jedoch überstrahlt ein Absatz den von Völkerverständigung, One-World-Gedanken und religiöser Toleranz bzw. Akzeptanz (Poschardt kommt nicht umhin, seinen Brief mit einer Koran-Sure zu beenden) getragenen Brief. Der Chefredakteur der WELT zeigt hier sein unglaubliches Verständnis von Kultur, Geschichte und Religion, wenn er schreibt:
Meinen Söhnen zeige ich im Museum, dass jener Landstrich, wo heute die Türkei liegt, eine Wiege unser (sic!) Kultur, Sprache und der Architektur ist. Ich glaube, die Türkei und Deutschland verbindet viel. Nicht nur Millionen von Bundesbürgern mit türkischen Wurzeln, die häufig wie Deniz die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, sondern auch eine wechselvolle Geschichte, in der es beiden Seiten am besten ging, wenn gemeinsame Interessen gewürdigt und gepflegt wurden.
Wie sind diese Textstellen zu interpretieren? Poschardt spricht richtig vom „Landstrich“ wo die Türkei heute liegt. Aber Geographie und historische Kontinuität sind nun einmal in Kleinasien ein zwiespältiges Thema. Ich weiß nicht, welche „Wiege unser Kultur, Sprache und Architektur“ gemeint ist, wenn Poschardt die Türkei damit in Zusammenhang setzt. Kulturhistorisch war das hellenische und byzantinische Griechentum und dessen Verwebung mit der Antike und dem Christentum für Europa von großer Bedeutung. Diese „vor-türkische Türkei“ war mit Sicherheit ein Teil Europas. Aber wie ironisch gesagt: vor-türkisch. Oströmisch-byzantinische Kultur hatte Einfluss auf das Abendland, so auch die Architektur. Dass das Osmanische in irgendeiner Art unser Erbe (Sprache) bereichert hätte, ist mir neu; beim Griechischen denken wir natürlich an die Epen Homers, die zu einem nicht unbedeutenden Teil an der kleinasiatischen Küste spielen. Hier aber eine direkte Linie zur heutigen Türkei zu ziehen, ist in etwa so sinnig wie die Behauptung, der Apostel Paulus, der Heilige Nikolaus oder die byzantinischen Kaiser seien Türken gewesen.
Ebenso fraglich bleibt, was denn Deutschland und die Türkei verbinde; es wird von einer wechselvollen Geschichte fabuliert, bei der mir aber zuvorderst die jahrhundertelangen Türkenkriege einfallen, bei welcher die Habsburger als römisch-deutsche Kaiser mehrmals die Osmanen bezwingen mussten. Man muss schon ein sehr kurzes – und wählerisches – historisches Gedächtnis besitzen, möchte man beiden Nationen und Völkern einen größeren Zusammenhang unterstellen. Der beginnt in dieser Art erst mit der Orientromantik des 19. Jahrhunderts; allerdings ein ferner Romantizismus, der sich aus gemütlichen Biedermeierschreibstuben angenehmer herbeiphilosophieren lässt, als es die tausenden christlichen Soldaten auf den Schlachtfeldern vor Wien oder bei Peterwardein vermochten. Auch Goethe und Lessing lebten bereits in Zeiten, in denen die Türkenbedrohung dem Türkenmitleid gewichen war, wenn man den einstigen Erzfeind des christlichen Abendlandes nicht gleich in lächerlichen Stücken wie dem „Serail“ oder dem „Marcia alla Turca“ die Rolle eines bestehenden, aber nicht mehr ernst zu nehmenden Übels zuordnete.
Es brauchte dann auch das 20. Jahrhundert und eine völlig verfehlte deutsche Außenpolitik – wie sich die Zeiten gleichen! – in denen man wirklich wichtige Verbündete wie Russland verprellte, und sich stattdessen auf den kranken Mann am Bosporus verließ. Dass dieselben Leute, die eine irgendwie geartete deutsch-türkische Geschichte beschwören, zugleich den Völkermord an den Armeniern beschreien (nicht zuletzt seit Neuestem mit indirekter deutscher Beteiligung?) – entbehrt da nicht einer gewissen Ironie. Kurzum: von der wilhelminischen Allianz im Ersten Weltkrieg abgesehen, und einiger netter Erinnerungen an die Bagdad-Bahn, Karl May und einen Istanbuler Gedächtnisbrunnen, nehmen sich die Anknüpfungspunkte deutscher und türkischer Geschichte sehr gering aus. Die beginnt tatsächlich erst mit der Gastarbeitergeschichte in der Nachkriegszeit. Dagegen fällt die Bindung des Heiligen Römischen Reichs zu Byzanz – Stichwort: Theophanu! – weitaus vielfältiger und enger aus, einhergehend mit echtem jahrhundertelangem Wechselspiel zweier kulturell wie religiös tatsächlich naher Mächte. Was die Türken jedoch mit Ostrom gemacht haben, ist allseits bekannt.
Man fragt sich daher dreierlei:
Primo: In welche Museen Poschardt seine Söhne schickt, und welch merkwürdige Geschichte dort unterrichtet wird, oder ob vielleicht der Familienvater nicht ganz bei seiner Entwicklung vom Viertel- zum Halbgebildeten aufgepasst hat;
Secundo: Welche Rückschlüsse sich aus dem Geschichtsbild Poschardts ziehen lassen, wenn dieser behauptet, beiden Ländern wäre es am besten gegangen, wenn diese zusammengearbeitet hätten – was wohl impliziert, dass Poschardt ein großer Freund des späten Kaiserreiches samt seines Eintritts in den Ersten Weltkrieg sein muss;
Tertio: Ob Poschardt – im Bewusstsein der Unterwerfung einer tatsächlichen Wiege von Kultur und Sprache durch die Türken – seinen Brief nicht besser anders oder gar nicht formuliert hätte, eingedenk der Tatsache, dass Erdogan ein großer Freund Mehmeds II. ist? Der Name Notaras geht mir im Kopf herum …