Münkler und der Schein

21. Februar 2017
Kategorie: Antike | Das Drehbuch, an dem ich nicht schreibe | Freiheit | Fremde Federn | Historisches | Ironie | Machiavelli | Medien | Palatina | Philosophisches

Es existiert ein Modus der intellektuellen Trollerei. Mich mobben Leute beispielsweise, indem sie mir Artikel von Herfried Münkler schicken. Die Stammbesucher dürften bereits um meine kleine, machiavellistische Fehde wissen. In letzter Zeit half da nur selbstverordnete Ignoranz weiter. Das Buch, welches in Zusammenarbeit mit seiner Frau erschien, und aus dem Schmalspurmachiavellisten ein zahmes Friedensblümchen von Morus’ Gnaden machte, gab mir den Rest.

Dieser Beitrag kommt daher zu spät. Viel zu spät. Einerseits, weil ich begonnen habe, Münkler zu ignorieren; anderseits, weil unter der Kaskade täglich einbrechender Ereignisse keine Zeit blieb. Der Skandal, auf den ich mich beziehe, ist längst vergangen, und womöglich haben einige Geier nur darauf gewartet, dass ich über das Stöckchen springe. Aber ein Löwe kommt nicht, wenn man ihn ruft, er kommt, wann es ihm beliebt, oder auch, wenn man ihn unklugerweise gereizt hat. Heute ist tatsächlich nicht Letzteres der Fall.

Den Stein des Anstoßes finden Sie noch heute im Deutschlandradio, mitsamt Text, der da viel sagend heißt: „Große Teile des Volkes sind dumm“.

Das Traktat bietet eigentlich zu viel Angriffsfläche, zu viel Belehrung, zu viel – in der Tat – populistisches Geschwafel, um es in Gänze zu dekonstruieren. Wie wollen uns daher auf die Kernaussage Münklers konzentrieren und sehen, wie faktisch es hier im Postfaktischen steht:

Deutschlandradio Kultur: Aber das zeigt dann ja doch wiederum ein Versagen, zumindest dann der Elite der demokratischen Partei an, wenn Sie sagen: man kann sich fragen, war Hillary Clinton die richtige Kandidatin? Mir geht’s nur darum, dass man sagt, wir lassen jetzt mal die Wählerbeschimpfung bleiben. Weil, man kann ja auch sagen, die Leute sind einfach dumm und die rennen den Populisten hinterher …
Herfried Münkler: Das sind die ja vermutlich auch.
Deutschlandradio Kultur: … und die sind wütend …
Herfried Münkler: Aber das hilft ja nichts. Also, man kann das den Leuten sagen, aber dadurch macht man sie nicht klüger. Und man macht Menschen, die in diesem Sinne auch vielleicht bösartig sind, dadurch nicht gutartig, dass man sie beschimpft. Das bringt also nicht sehr viel. Das ist vielleicht eine Feststellung. Das ist eine strategische Disposition. Niccolò Machiavelli, mit dem ich mich mal sehr intensiv beschäftigt habe, sagt: Na ja, der Pöbel folgt sowieso immer nur dem Schein. – Das kann man jetzt auch bestätigt finden.
Aber für Machiavelli ist das jetzt nicht etwas, woraus er schlussfolgert, wir müssen den Pöbel verachten, sondern wir müssen deswegen eine kluge Politik machen, dass der Schein nicht gegen uns spielt, sondern für uns spielt. Letzten Endes ist das die Herausforderung für politische Eliten.

Münkler spielt auf das 18. Kapitel aus dem „Principe“ an. Hier auch der Grund, warum ich mich heute doch noch einmal mit dieser Elitenselbstverliebtheit beschäftige, die sich offensichtlich nicht als Besserwisser gerieren will, aber dennoch glaubt, zu den Besserwissenden zu gehören: es handelt sich dabei um eine meiner Lieblingspassagen von Machiavelli, womöglich sogar die Lieblingspassage. Meine Vorliebe dafür kommt auch im ersten Teil des Drehbuchversuchs zum „Principe“ (Nomen est omen) vor, in welchem der ambitionierte Tiberio di Testabella e Braccioleone die Herrschaft über die Stadtrepublik Palatina erringen will. Seine Schwester Antea rät indes:

Antea: Macht, mein lieber Tiberio, erwirbt man nicht nur, indem man gleich einem Löwen seinen Feind erschreckt. Es bedarf auch der Schläue des Fuchses, um ihn zu überlisten.

Im dritten (auf dem Diarium nicht einsehbaren Teil) wird das Motiv aufgenommen und ergänzt:

Tiberio: Nichts ist gefährlicher als die Masse, Antea. Manipuliert man sie, ist sie eine Waffe. Verliert man sie, geht man in ihr unter. Sie bedeutet Kontrollverlust.
Antea: Kein Fürst kann alle guten Eigenschaften auf sich vereinen.

Antea tritt langsam an ihn heran.

Antea: Wer gottlos ist, muss sich fromm geben. Ein Geizhals muss freigiebig
erscheinen. (Pause) Und ein Eremit muss sich umgänglich geben.

Sie bleibt bei ihm stehen, streicht ihm über die Wange.

Antea: Jeder sieht, was du scheinst. Niemanden interessiert, wer du bist.

Erinnert das beides nicht ganz frappierend an Münklers Aussage? Die Erklärung ist einfach, denn sowohl Anteas Einflüsterungen als auch Münklers Aussage beziehen sich auf eben jenes 18. Kapitel, das ich hier etwas ausladender präsentieren möchte:

Wisset also, daß es zwei Arten gibt, zu kämpfen: eine durch die Gesetze, die andre durch Gewalt – das Erste ist die Sitte der Menschen; das Zweite die Weise der Thiere. Oft aber reicht das Erste nicht zu, und so muß zu der zweiten Manier gegriffen werden. Einem Fürsten ist daher nöthig, den Menschen und das reißende Thier spielen zu können. […] Weil es denn nothwendig ist, daß der Fürst sich darauf verstehe, die Bestie zu spielen, so muß er Beides davon nehmen, den Fuchs und den Löwen; denn der Löwe entgeht den Schlingen nicht, und der Fuchs kann sich gegen den Wolf nicht wehren. Die Fuchsgestalt ist also nöthig, um die Schlingen kennen zu lernen, und die Löwenmaske, um die Wölfe zu verjagen. Diejenigen, welche sich allein darauf legen, den Löwen zu spielen, verstehen es nicht. Ein kluger Fürst kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn die Beobachtung desselben sich gegen ihn selbst kehren würde, und die Ursachen, die ihn bewogen haben es zu geben, aufhören. Wenn die Menschen insgesammt gut wären, so würde dieser Rath nichts werth sein. Da sie aber nicht viel taugen und ihr Wort gegen dich nicht halten, so hast du es ihnen auch nicht zu halten: und einem Fürsten kann es nie an Vorwand fehlen, es zu beschönigen, wenn er es bricht. Hiervon könnte man viele neue Beispiele anführen und zeigen, wie viele Friedensschlüsse, wie viele Versprechungen durch die Untreue der Fürsten vereitelt sind, und daß derjenige, der den Fuchs am besten zu spielen gewußt hat, auch am weitesten kommt. Aber es ist nothwendig, sich darauf zu verstehen, wie diese Eigenschaft beschönigt wird, stark in der Kunst zu sein, sich zu verstecken und zu verlarven.

Das ist die erste Hälfte, in der wir in erweiterter Form das hören, was Antea zuerst sagt, und auch eine Andeutung dessen, was Münkler empfiehlt: nämlich, dass die politische Elite den Schein nutzen soll, um kluge Politik zu machen. Lesen wir also weiter:

Die Menschen sind so einfältig und hängen so sehr von dem Drucke des Augenblicks ab, daß derjenige, der sie hintergehen will, allemal Jemand findet, der sich betrügen läßt. Ein einziges neues Beispiel will ich anführen. Papst Alexander der Sechste that gar nichts Anderes als betrügen, dachte an nichts Anderes und fand immer Leute, die sich anführen ließen. Niemals hat Jemand eine größere Fertigkeit gehabt, zu versichern und mit großen Schwüren zu betheuern, und weniger zu halten. Dennoch gelangen ihm seine Anschläge, Hinterlisten nach Wunsch, weil er die Welt von dieser Seite gut kannte. Ein Fürst muß also nicht die vorhin beschriebenen Tugenden haben, wol aber das Ansehn davon. Ich wage es zu behaupten, daß es sehr nachtheilig ist, stets redlich zu sein: aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig, redlich zu scheinen ist sehr nützlich. Man muß sein Gemüth so bilden, daß man, wenn es nothwendig ist, auch das Gegentheil davon vorbringen könne. Ein Fürst, und absonderlich ein neuer Fürst, kann nicht immer alles das beobachten, was bei andern Menschen für gut gilt; er muß oft, um seinen Platz zu behaupten, Treue, Menschenliebe, Menschlichkeit und Religion verletzen. Er muß also ein Gemüth besitzen, das geschickt ist, sich so, wie es die Winde und abwechselnden Glücksfälle fordern, zu wenden, und zwar nicht eben den geraden Weg allemal verlassen, so oft es Gelegenheit dazu gibt; wol aber den krummen Weg betreten, wenn es sein muß. Ein Fürst muß sich daher wohl hüten, daß nie ein Wort aus seinem Munde gehe, das nicht von obgedachten fünf Tugenden zeugt. Alles, was von ihm herkommt, muß Mitleid, Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit, Frömmigkeit athmen. Nichts aber ist notwendiger, als der Schein der letztgenannten Tugend. Denn die Menschen urtheilen im Ganzen mehr nach den Augen, als nach dem Gefühle. Die Augen hat Jeder offen; Wenige haben richtiges Gefühl. Jeder sieht, was du zu sein scheinst; Wenige merken, wie du beschaffen bist, und diese Wenigen wagen es nicht, der Stimme des großen Haufens zu widersprechen, dem der Glanz großer Würde immer für einen Grund der Bewunderung gilt. Bei den Handlungen der Menschen, absonderlich der Fürsten, welche keinen Gerichtshof über sich anerkennen, wird immer auf den Endzweck gesehen. Der Fürst suche also nur sein Leben und seine Gewalt zu sichern: die Mittel werden immer für ehrenvoll gelten und von Jedermann gelobt werden, denn der große Haufe hält es stets mit dem Scheine und mit dem Ausgange. Die ganze Welt ist voll von Pöbel, und die wenigen Klügern kommen nur zu Worte, wenn es dem großen Haufen, der in sich selbst keine Kraft hat, an einer Stütze fehlt. Ein Fürst unsrer Zeit, den ich besser nicht nenne, predigt nichts als Frieden und Treue, und wäre doch um seine Herrschaft gekommen, wenn er sie selbst beobachtet hätte.

Hervorhebungen von mir. Man mag also hier sowohl Anteas Worte als auch Münklers Einlassungen wiederfinden; und doch ist es gar nicht so einfach, wie man zuerst denken mag. Es gibt einen wichtigen Punkt, den man unterstreichen muss; nämlich, wem der Schein gilt. Für Münkler ist ganz klar: dem Pöbel, den einfachen Leuten, die auf Trump reinfallen. Viele Journalisten, die sich ebenfalls zu den „Klügeren“ zählen, wie der Florentiner sie nennt, würden dem wohl zustimmen. Es ist jedoch fraglich, ob bei Machiavelli mit Pöbel auch wortwörtlich dieser gemeint ist, und nicht eher „die Dummen“, das heißt: die Uneinsichtigen selbst. Dumm ist aber nicht nur das einfache Volk, es gibt auch gebildete Dumme. Das Wort ist ja deswegen eine contradictio in adiecto, da nach Machiavelli die Klügeren ihr Wort nicht äußern können, weil „der große Haufen“ ihnen über den Mund fährt. Erst, wenn letzterer keine Stütze mehr hat, hört man auf sie. Realiter aber ist es doch genau umgekehrt: nicht die AfD, nicht Le Pen, nicht Trump sind diejenigen, welche die Mehrheit hinter sich haben, sondern sie sind immer in der Unterzahl und werden von einer großen Bandbreite aus Politik und Medien beschossen. Martin Lichtmesz darf einmal in einem Spartensender an einer Talkrunde teilnehmen, Personalien wie Münkler bekommen stattdessen in Talk-Shows, in der FAZ und im Deutschlandfunk (!) immer wieder Gehör. Wer also ist hier Meinungsbeherrscher und damit tatsächlich Teil des „Pöbels“, den Machiavelli hier anscheinend nicht nur sozial, sondern auch im Grad seiner Intelligenz einteilt?

Das Postulat „Niemand sieht, wer du bist; alle sehen, was du scheinst“ ist daher nicht nur der Unterschicht gewidmet, sondern allen „Uneinsichtigen“. Machiavelli hat schon zu Lebzeiten erlebt, wie auch Gebildete und Reiche auf falsche Anführer hereinfielen. Zeitgenössisch hatte der Florentiner Savonarolas Theokratie erlebt. Historisch existiert für Machiavelli jedoch noch ein ganz anderes Feindbild: nämlich der Imperator Augustus. Letzteres ist deswegen erwähnenswert, weil Augustus als Octavian nahezu alle machiavellistischen Register zieht – er begeht die schlimmsten Übeltaten, lässt dann als Kaiser aber Milde walten. Er regiert im Hintergrund, erhält offiziell die Republik, unterminiert sie aber in Wirklichkeit und bereitet der Monarchie den Weg. Machiavelli erwähnt ihn kurioserweise nicht als Vorbild, obwohl seine gesamte politische Theorie auf antiken Quellen beruht. Ausgerechnet die Ikone der Römischen Geschichte fällt bei ihm der damnatio memoriae anheim.

Der Grund ist einfach: weil Augustus das perfekte Beispiel für eine Tyrannis ist, welche die Republik untergräbt und vernichtet. Nach Machiavelli ist Politik Mittel zum Zweck, und der Endzweck ist Staatserhalt und ein meritokratischer Republikanismus, keine Erbherrschaft. Augustus’ Methode führte das Römische Reich langfristig ins Imperium; für Machiavelli endet die Glanzzeit Roms nicht mit den Soldatenkaisern, dem Christentum, der Schlacht von Adrianopel oder dem Kindkaiser Romulus Augustulus, sondern bereits in dem Moment, da die Republik der Monarchie weicht.

Die Methode, die Augustus dabei anwendet, ist der Schein; die Bürgerarmee weicht endgültig der Berufsarmee unter kaiserlicher Oberhoheit; die Ämter bleiben, haben jedoch keine politische Funktion mehr; der Senat tagt, aber er entscheidet nicht. Die republikanischen Institutionen verkommen zur Staffage. Das ist der worst case, vor dem Machiavelli immer wieder warnt, und weswegen er „den Schein“ nicht per se gutheißt, sondern eben nur unter der Voraussetzung „guter Politik“. Gute Politik – wie sie Münkler nennt – heißt aber, dass zuvorderst die staatliche (republikanische) Ordnung aufrechterhalten werden muss und Politiker das staatliche Wohl vor das Eigenwohl setzen. Zustände, die man heute vermisst.

Dem „Schein“ geht dabei nicht nur das Volk auf den Leim, sondern im Falle des Augustus eben auch die Elite, die sich selbst entmachtet. Auch dies spricht dafür, dass Machiavelli den „Pöbel“-Begriff als übergeordnete Bezeichnung eines „geistigen“ Pöbels verstand – im Principe selbst wird Alexander VI. als Paradebeispiel genannt, der ja nun nicht vom Volk, sondern von der kirchlichen Elite gewählt wurde! Ironischerweise degradiert sich Münkler selbst in dieses Milieu, wenn er glaubt, Machiavelli zu verstehen, aber in Wirklichkeit der herrschenden Elite dient, die sich um republikanische Ideale nicht schert. Auch das ist eine Form von Selbstbetrug, vielleicht einem Schein erlegen, vielleicht kalkuliert; oder Münkler will einfach mehr scheinen, als er ist. Intellektueller, klüger, aufgeklärter als andere, um zum großen Pöbel dazuzugehören, der jetzt auf die Trumps und Mittrumpisten eindrischt.

Unsere Antea, die Tiberio als kleines machiavellistisches Engelchen – oder Teufelchen? – im Ohr sitzt, weiß es da besser. Denn als Antea das Beispiel bringt, geht es nicht etwa um das Volk, sondern um die Elite der Stadt Palatinas, die Tiberio misstraut (bei der Masse handelt es sich um ein Bankett). Politiker müssen zuerst ihre Mitbewerber für sich gewinnen oder ausstechen, wenn sie Macht gewinnen wollen. Die Elite wird immer zuerst Opfer des Scheins, den sie selbst gegen sich anwendet. Daher ist das machiavellistische Zitat hier auch weitaus besser angebracht als gegen die vermeintlich dummen Wähler von Trump & Co.

Diejenigen, welche sich heute für befestigte und sichere Grenzen einsetzen, um die Sicherheit und die Zukunft Europas bangen, welche den Sozial- und den Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit und Gedankenfreiheit in Gefahr sehen, sind aber eben nicht der Pöbel, sondern sie sind eine Minderheit. Die Masse in Politik und Medien kanzeln diese Leute – ob sie nun Di Fabio oder Fico heißen, Scholl-Latour oder Fallaci hießen – immer wieder ab. Sie werden vom Medienhaufen gebrandmarkt und niedergeschrien.

Ist es da nicht in diesem Zusammenhang offensichtlich, wen Machiavelli heute wohl am ehesten mit „dumm“ titulieren würde?

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