Italia, Italia…

15. September 2016
Kategorie: Europa | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien

Im deutschen Treibhausbiotop mag man nicht so ganz erkennen, was andernorts in der EU vor sich geht, wenn es nicht schon zu spät ist. So rückt Italien nunmehr wegen der Finanzkrise in den Vordergrund – wieder einmal, muss man betonen. Aber es wäre eine Täuschung, wollte man sich nunmehr wundern, denn streng genommen ist Italien seit den 70er Jahren beständig in der Krise.

Das Jahr 2016 ist allerdings ein neuer Kulminationspunkt seit den späten Monti-Jahren. Wir erinnern uns: im November 2011 wurde Berlusconi „gegangen“, Italien bekam eine „technische“ Übergangsregierung bis zur Wahl 2013. Während in Deutschland und anderen Ländern diese „überparteiliche“ Regierung gefeiert wurde, sahen die Mehrzahl der Italiener diese als eine Art „EU-Statthalterschaft“ an. Der Rücktritt Berlusconis – man mag zu ihm stehen wie er will: er war immer noch italienischer Ministerpräsident – wurde als von der EU erzwungen angesehen, die wie schon in Griechenland zuvor nunmehr Italien die Pistole auf die Brust setzte. Einige argwöhnten auch, Italiens zögerliche Zustimmung zum Libyenkrieg der NATO habe dabei eine Rolle gespielt; wiederum andere misstrauten Montis Vernetzung mit Goldmann Sachs, jener Finanzgruppe, zu der auch EZB-Chef Mario Draghi gehört.

Man mag dies Verschwörungstheorien nennen oder „irreale Befürchtungen“, aber im Diskurs der Apenninhalbinsel ist es ganz üblich, das „cui bono?“ zuerst zu nennen, da nichts ohne Vorteilsnahme durch eine bestimmte Fraktion geschieht. Insofern sahen Linke wie Rechte, Zentralisten wie Föderalisten, Nationalisten wie Regionalisten, Liberale wie Kommunisten eine Einmischung von „außen“ als Motiv an. In einer Nation, wo alle gefühlte zehn Kilometer eine eigene Stadt mit eigener Kultur und eigener Geschichte beginnt, kann man solche Mentalitäten nicht genug betonen.

Nun kommt dieses Jahr 2016 die Krise, derer wegen Monti einst das Heft übernahm, „plötzlich“ wieder. Böse Zungen könnten behaupten, Sie wurde unter Monti nur anders diskutiert als davor und danach; ihre neue Erscheinungsform ist aber in ihren Facetten zahlreicher. Neben Bankenkrise, Haushaltsdefizit, Überschuldung und Jugendarbeitslosigkeit kommen einige entscheidende Faktoren hinzu, welche Anno 2011 nicht griffen und umso drastischer wirken:

Primo: Ein Referendum, welches das politische Schicksal Italiens entscheidet.
Secundo: Die Migrationskrise.
Tertio: Der Aufstieg des Movimento 5 Stelle mit seinem Anführer Beppe Grillo.
Quarto: Der Argwohn der Italiener gegenüber der EU und ihren Institutionen, inklusive Euro.

Im Gegensatz zu sonst zäume ich das Ross von hinten auf. Italien war in den 2000ern eines der EU-freundlichsten Länder, das einen Zusammenschluss am ehesten begrüßte. Die Union galt als optimistisches Zukunftsprojekt, als Vision. Vielleicht spielte latent das Kulturbewusstsein eine Rolle, das Römische Reich wiederzubeleben, so wie bei vielen Deutschen das latente Bedürfnis eine Rolle spielte, den eigenen Nationalismus zugunsten eines EU-Nationalismus abzulegen; es soll hier nicht näher erörtert werden.

Seit der Euro-Einführung ist Italien jedoch jenes Land, das als einziges ärmer geworden ist. Eine schon lange in Italien kursierende Statistik, welche auch Grillo vom M5s immer wieder „instrumentalisiert“ (das sagt man doch so im deutschen Anti-Populisten-Sprech, oder?) wurde, schaffte es heute sogar in die Welt. Wir rufen uns in Erinnerung, dass Lira und Mark eigentlich nur drei Nullen trennte. Die Sprüche der schwäbischen Großmutter und der ligurischen Nonna ähneln sich daher: in Deutschland habe man bei den Einkaufspreisen statt Mark einfach Euro hingeschrieben, in Italien nur drei Nullen gestrichen. Eine gefühlte, doppelte Teuerung des Ursprungspreises, das Konzept, die Argumentation ist diesseits wie jenseits der Alpen dieselbe. Der Euro, der von seiner Kaufkraft doppelt so viel wert sein müsste, wurde in Italien ebenso als „Teuro“ wahrgenommen.

Mit der Monti-Regierung manifestierte sich dann diese „Brüsseler Einmischung“ unauslöschlich im italienischen Geist, befeuert durch eine deutsche Bundeskanzlerin, an deren Wesen ganz Europa genesen sollte. Man nahm es Deutschland schon übel, dass man in Griechenland vor allem französische und deutsche Banken retten musste – Italien ist subventionsbereinigt immer noch drittgrößter EU-Zahler, auch, wenn das oft vergessen wird – weshalb man Vorteilsnahme vermutete; das war aber nichts gegen die sonstigen Belehrungen aus Berlin, die viel eher das italienische Gemüt erhitzten, besonders, wenn Deutschland lieber mit Polen (und auch das nicht mehr lange), Frankreich und Großbritannien redete, und man sich ansonsten nur zu den größeren Gipfeln traf. Wie so mancher deutscher Bürger verächtlich vom „Club Med“ oder den „Olivenländern“ sprach, so fühlte sich Italien oftmals auch von Deutschland behandelt – obwohl es mit 60 Millionen Einwohnern, 20% Beteiligung an den Rettungsschirmen, Gründungsmitglied der Gemeinschaft und viertgrößter Volkswirtschaft in der EU mit Sicherheit diese Rolle auch objektiv nicht verdient hat.

Dass „Super Mario“ Draghi mit der EZB-Geldschleuder immer wieder indirekte Kredite für die südlichen EU-Länder verteilte, und damit expressis verbis Italien half, steht wiederum auf einem ganz anderen Blatt. Aber wann werden Menschen jemals komplett von Fakten und Objektivität geleitet? Der gefühlte Verlust der Unabhängigkeit und die ebenso emotional verstandene Bedrohung der eigenen Lebensart spielt für den Italiener eine größere Rolle als Geld. Und sie hat dramatische Konsequenzen, da jede italienische Regierung es tunlichst vermeidet, volle EU-Linie zu fahren, da sie sonst an den Wahlurnen abgestraft wird.

Dabei gilt auch hier Ähnliches wie anderswo: die Italiener kritisieren nicht eine europäische Gemeinschaft als solche, sondern deren Form. Wie eine neue Gemeinschaft aussehen könnte, erscheint jedoch viel unklarer als in Deutschland, wo vermehrt nach der Stärkung eines Nationalstaates gerufen wird. Von einer regionalen Föderation bis hin zum zentralistischen Neu-Rom ist derzeit alles drin; von der Rückkehr zur Lira wird bei der Lega Nord und Grillo ebenso gesprochen wie von einem möglichen Süd-Euro oder einer totalen Euro-Aufweichung (die ja de facto schon längst im Gange ist).

Das zweite Thema, aus dem die Oppositionsparteien Profit ziehen, ist natürlich die Migrationskrise. Dabei überrascht es, wie wenig diese in deutschen Medien Beachtung findet – wie im Übrigen auch schon 2014 und 2015, bis das Problem an der eigenen Grenze ankam. Derzeit lungern hunderte afrikanische Zuwanderer an den Übergängen bei Ventimiglia und Como-Chiasso herum. Frankreich hat seinen Zugang bei Nizza bereits geschlossen – so viel im Übrigen zu Schengen und dem de facto Zustand der Union. In deutschen Medien spielten dabei sowohl die Ausschreitungen in Ventimiglia wie auch die Zeltlager von Como so gut wie keine Rolle. Es bedarf dabei weder italienischer, noch alternativer Medien, um sich zu informieren, es reicht die NZZ als größte Schweizer Zeitung, in der tagtäglich darüber berichtet wird. In den deutschen Tageszeitungen dagegen – so gut wie nichts.

Die italienische Infrastruktur droht unter dem derzeitigen Strom zu kollabieren. Die britische Times nannte Mailand bereits einen Flaschenhals, der bald brechen könnte – weil all die Migranten von der Grenze dorthin zurückströmen. Die Italiener sind weitaus weniger in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe engagiert, und auch die italienischen Organisationen weitaus weniger mit staatlicher Unterstützung alimentiert als die deutschen.

Entscheidend ist jedoch nicht zuletzt das Gefühl einer fehlenden Zuständigkeit für das Migrationsproblem. Dies hat mehrere Ursachen. So war Italien grundsätzlich kein Land, das die Nato-Intervention in Libyen unterstützte, sondern erst im letzten Moment umschwenkte, um die amerikanischen, britischen und französischen Verbündeten nicht zu prellen. Italien hatte mit Libyen wirtschaftliche Verträge und nicht zuletzt ein Abkommen mit Gaddafi, welches Italien zusicherte, die Migration einzuschränken. Der Diktator hatte vor seinem Sturz gedroht: „Wenn ich nicht mehr bin, wird Europa schwarz werden.“ Der Satz wurde in italienischen Medien oft wiederholt und hat sich in das Gedächtnis eingegraben. Den Italienern war schon vor dem Ausbruch des Krieges, den insbesondere Sarkozy anzettelte, bewusst, dass der Menschenstrom erneut anschwellen würde.

Seitdem fühlt man sich als europäischer Idiot. Leute, mit denen ich verkehre, betonen immer wieder, dass Engländer, Franzosen und Amerikaner gebombt hätten, und die Italiener nun die Drecksarbeit machen dürften. Zwar helfe die EU mittlerweile mit zusätzlichen Schiffen – aber es sei schwer verständlich, wieso bspw. deutsche Schiffe afrikanische Flüchtlinge retteten, und sie dann in Sizilien absetzten, nur, damit dann italienische Behörden das Problem übernähmen. Insbesondere, da die meisten Migranten sowieso nicht in Italien bleiben wollten.

Eine neue Wendung bekam die Krise mit der Einladung Merkels. Viele der Ankommenden wollen dezidiert nach Deutschland. Es stellt sich ein Phänomen ein, das schon die baltischen Staaten prognostizierten: eine Verteilung oder Quote in der EU hätte kaum Aussichten, da die Flüchtlinge nach Deutschland wollen. Sie würden einfach weiterziehen. Umso mehr fragt man sich in Italien, wieso man sich mit den Massen aufhalten soll, wenn Deutschlands Hilfe an den südlichen Nachbarn bisher kaum auffiel, und die Leute sowieso weiterreisen wollen. Italien hatte bereits 2011 ein europaweites Mittelmeerprogramm aufstellen wollen, für einen gemeinsamen Grenzschutz – dazumal hatte sich Deutschland quergestellt. Heute, mit über fünf Jahren Verspätung, ringt man sich dann doch zu einem neuen Projekt, nämlich „Sea Guardian“ durch, um die überlasteten italienischen Kräfte zu unterstützen. Wie lange es dauert, dass diese Maßnahme greift, steht in den Sternen.

Renzi steht daher unter Druck. Die Konferenz mit Merkel und Hollande auf einem Flugzeugträger, die zwar in den Medien thematisiert, aber nicht analysiert wurde, könnte bereits einen Deal enthalten haben, dass Deutschland ein Kontingent aus Italien übernimmt, bevor die Grenzen brechen – oder (aus Kanzlersicht) schlimmer, sich Renzi dem Anti-Merkel-Lager in Europa anschließt. Renzi muss hier liefern, sonst verliert er seinen Kopf beim italienischen Wähler. Grillos Movimento 5 stelle hat sich als totale Opposition zu Renzi, zur Politikerkaste und zur EU aufgebaut. Die Lega trötet ins selbe Horn. Rom und Turin gingen als wichtigste Zacken in Renzis Krone verloren, dazu noch andere Gemeinden bei den Kommunalwahlen. Dass Virginia Raggi derzeit so unter Breitseitenbeschuss deutscher und italienischer Medien steht, obwohl nicht einmal drei Monate im Amt, hängt mit der aufgehetzten Stimmung im Land zusammen; man scheltet Raggi, meint aber in Wirklichkeit Grillo, der vor seinem größten Coup steht.

Ende des Jahres steht Italien ein wichtiges Referendum ins Haus. Renzi hat dessen Ausgang mit seinem Amt verwoben. Erinnerungen an den Brexit und Cameron werden wach. Abgestimmt wird über eine Reform des Zwei-Kammernsystems. Italien leistet sich ein Abgeordnetenhaus und einen Senat, beide Kammern muss jedes Gesetz passieren, was in der Vergangenheit für Blockaden gesorgt hat. Für eine effektivere Gesetzgebung will Renzi den Senat zu einer Vertretung der Regionen abstufen, die nicht mehr jedes Gesetz aufhalten kann. Ein Bundesrat mit geringerer Kompetenz.

Obwohl ein weit verbreiteter Konsens besteht, dass die Reform als solche eher positiv, den negativ zu werten ist, haben sich die Oppositionsparteien hinter dem „Nein“ verschanzt, um Renzi zu stürzen. Es wird damit zur Entscheidung über den Kurs einer ganzen Nation, denn Neuwahlen würden den Sieg des Grillo-Lagers und eine mögliche Blockade des Parlaments bringen; neue Konzessionen in Form eines Anti-EU-Kurses (bzw. weitere Auflockerung der fiskalischen Gegebenheiten), mehr Protektionismus und auch eine dezidierte Anti-Merkelpolitik dürften folgen, um neue Koalitionspartner zu finden. Die Stimmung, die dem M5s und Raggi entgegenweht, sind Ausläufer des Sturms gegen Grillo, der derzeit das Lager des „No“ führt. Ihm stehen die regionalistische Lega Nord, die Nationalisten der „Fratelli d’Italia“ und die Linksextremen zur Seite. In den landläufigen Medien würde man das „Querfront“ nennen.

Die Summe dieser komplexen Sachverhalte bringt eine Würze in die italienische Krise, die es so noch nicht gab. Und sollte das Referendum ein Plebiszit gegen Renzi werden, sind Neuwahlen unausweichlich. Das würde für das Jahr 2017 nicht nur bedeuten, dass wir einen neuen amerikanischen und österreichischen Präsidenten haben; es bedeutete auch Wahlen in den drei wichtigsten EU-Staaten Frankreich, Italien und Deutschland, sowie zusätzlich den Niederlanden – womit die italienische Krise die europäische verstärken, und je nach Ausgang ein weiterer Sargnagel im EU-Projekt und der Merkelhegemonie werden könnte.

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