Leser Andreas fragte vor einiger Zeit, ob der Löwe mehr zu Raggi und einen Ausblick geben könnte; das Versprechen löse ich nunmehr ein.
Virginia Raggi ist nunmehr Bürgermeisterin der italienischen Hauptstadt; eine Sensation, die sich aber schon vor dem zweiten Wahlgang ankündigte, weil Raggi im ersten Wahlgang bereits als stärkste Kandidatin hervorging, und Teile der ausgeschiedenen Rechten ihre Wahl empfohlen; wohl vor allem, um den sozialdemokratischen Gegenspieler von Raggi, Giachetti, zu desavouieren. Giachetti gehört dem Partito Democratico (PD) an. Der Chef des PD ist Matteo Renzi, zugleich Ministerpräsident Italiens.
Das ist alles nicht ganz unwichtig zu wissen, weil der PD bereits im Wahlkampf in Raggi die stärkste Konkurrentin witterte. Hier steht nun ein Ausflug in die komplexe Parteiengeschichte Italiens an:
Der PD ist im Grunde ein relativ junges Parteienbündnis der linken Mitte, das in den 2000er Jahren entstand. Damals schlossen sich verschiedene Parteien des linken Spektrums zusammen: sowohl ehemalige Kommunisten, die nach dem Ende des Kalten Krieges gemäßigtere Positionen einnahmen, als auch Vertreter der Sozialisten, deren Partei sich nach dem Sturz des Parteienkartells Anfang der 1990er aufgelöst hatte; dazu kamen noch andere Splittergruppen und auch der linke Flügel der Christdemokraten. Bis heute ist der PD immer noch nicht völlig geeint: Premier Renzis Vergangenheit liegt bei den Christdemokraten der linken Mitte, und nimmt heute größtenteils Positionen ein, die eher an die rechte Mitte denken lassen. Ihm gegenüber stehen alteingesessene Parteienkader mit Beziehungen, so in Gewerkschaften, Banken und staatlichen Unternehmen, denen der Kurs des relativ jungen Ministerpräsidenten oftmals aufstößt.
Obwohl also der PD im Grunde eine „neue“ Partei ist, bleibt er jedoch Fleisch vom Fleische der alteingesessenen Linken. Im besten Sinne: ein neuer Schlauch mit altem Wein darin.
Dies ist nicht unwichtig bezüglich Roms zu wissen, wo die Vorgänger des PD lange Zeit das Heft in der Hand hatten. Seilschaften und Kontakte halten sich in Rom; und selbst das kurze Intermezzo unter einem Bürgermeister von Mitte-Rechts beendete Korruption und Vetternwirtschaft nicht – stattdessen arrangierte man sich mit den Verhältnisse und tat dasselbe nun für die eigenen Klienten.
Die Römer wählten daraufhin wieder einen Vertreter des PD – der aber nach zwei Jahren bereits über einen Skandal fiel. Ignazio Marino, Raggis Vorgänger, trat im Oktober 2015 zurück. Bis zu Raggis Wahl wurde Rom kommissarisch regiert.
Warum erwähne ich das? Weil die Leute der beiden großen Parteien immer noch an den Schaltstellen sitzen. Und dass die Mafia ebenso wie die Kurie ihre Günstlingswirtschaft fortsetzen und Einfluss auf das Geschehen in der Hauptstadt nehmen, ist ein offenes Geheimnis.
Deshalb hatte der Movimento 5 stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) diesen Erfolg. Man wählte nicht mehr links, nicht mehr rechts, sondern eine unbescholtene Gestalt, die endlich den Augias-Stall ausmistet. Der Druck ist entsprechend hoch: die Wähler wollen keinen Filz, keine Skandale mehr. Eine nahezu unmögliche Aufgabe.
Virginia Raggi gab sich im Wahlkampf sehr volksnah. Keine Prestigeprojekte mehr, sondern Geld für marode Schulen, Schlaglöcher und mehr Busse. Rom soll eine Fahrradstadt werden, um Smog und Verkehr einzudämmen. Dabei ist Rom mit 10 Milliarden Euro verschuldet. Raggi hat daher auch nicht davor zurückgeschreckt, die Heilige Kuh des Establishments zu schlachten: zum Schock der Eliten will sie die Bewerbung Roms zu den Olympischen Spielen zurücknehmen. Für Renzi ein Affront, der sich damit natürlich ein Denkmal setzen will – und für die vielen dubiosen Kanäle, in denen das Olympiadengeld eigentlich versickern sollte. Raggi dürfte sich mit dieser Entscheidung viele Feinde gemacht haben, die von dem Riesengeschäft profitieren wollten, hätte doch der Nationalstaat dann Millionen locker gemacht.
Bereits im Wahlkampf lasteten ihr PD-nahe Zeitungen an, sie sei eine Lügnerin, hätte mit Berlusconi Kontakte, hätte Gelder veruntreut – und vieles mehr. Das dürfte sich auch nach Amtsantritt nicht ändern. Es existiert keine M5S-nahe Zeitung in Italien, die Partei kommuniziert vor allem über das Internet und kümmert sich wenig um die traditionellen Medien. Das Fernsehen wird immer noch von der staatlichen, PD-nahen RAI und den Privatsendern Berlusconis dominiert.
Unter diesen Voraussetzungen sieht der Löwe einen undankbaren, steinigen Weg für die schöne Juristin, die – glaubt man ihr – nur in die Politik eingetreten ist, um ihrem Sohn ein besseres Leben zu verschaffen. Wie viel Wahres an solchen Mythen ist: geschenkt. Raggi dürfte so ziemlich jeden gegen sich haben, der Einfluss am Tiber besitzt und seine Pfründe davonschwimmen sieht.
Ein völliges „Reinemachen“ erscheint mir daher so gut wie unmöglich, da sich Raggi kaum mit allen anlegen kann. Wie soll man auch gegen eine Bürokratie ankommen, die stark von den Amtsträgern der Vorgängerparteien gekennzeichnet sind? Von der Mafia, die definitiv in die große Politik eingebunden ist, ganz zu schweigen. Spannend in diesem Fall: Raggi hat sich sehr schnell mit Papst Franziskus getroffen. Zumindest in Kirchenbelange – welche im Übrigen von ihrer Partei stetig kritisiert werden – scheint sie sich nicht einmischen zu wollen. Es gab mal Zeiten in Italien, da bestimmte Kardinäle als Schattenminister tätig waren…
Summa summarum: Raggi wird ohne Kompromisse ihre Amtszeit nicht überstehen. Vor allem bei der desolaten Lage der Stadt. Wie das genau ablaufen soll: völlig offen. Ich vermute, dass das heiße Eisen der Olympia-Bewerbung durch eine Volkabstimmung gelöst wird, bei der Raggi darauf spielen kann, dass die Bürger die Veranstaltung ablehnen. Renzi und Konsorten können schließlich nicht gegen den Willen des Volkes argumentieren. Dafür ist die politische Lage zu angespannt. Der M5S würde dann noch mehr Zulauf erhalten.
Anzumerken sei dennoch: selbst kleine Erfolge dürften in so einem Moloch wie Rom hoch angerechnet werden. Sollte Raggi wenigstens ein paar Zeichen setzen können, dass sie die Lage der gebeutelten Römer verbessert, wäre das für viele Wähler schon gut genug. Und wer den römischen Sumpf austrocknen kann, empfiehlt sich noch für weit höhere Aufgaben. Beppe Grillo, der Chef des M5S, kann nämlich nicht für ein politisches Amt kandidieren, da die Parteiordnung dies verbietet. Und wer den Initiator dieses politischen Projekts einmal beerben wird, ist bis heute keine ausgemachte Sache. Raggi bekleidet derzeit das wichtigste politische Amt, dass der M5S bisher erobert hat – und könnte bei Erfolgen einigen Parteikollegen recht gefährlich werden.