Schon in meinem Visegradartikel vom Anfang des Jahres prognostizierte ich eine mögliche Entwicklung des Kontinents weg von einer Zentrale hin zu einer Ansammlung verschiedener Krafträume. Die Visegradstaaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn spielen dabei als eigene Union in der Union bereits eine Vorreiterrolle. Die mangelnde Effizienz der Brüsseler Bürokratie, die nur unzureichende Antworten gibt und sich im Angesicht von Problemstellungen katastrophalen Ausmaßes als unflexibel zeigt – erscheint chancenlos. Kleine Bündnisse, wie die Beneluxstaaten oder Visegradstaaten, die sich schnell und konsequent treffen können um wirkliche Lösungen zu vereinbaren, könnten dagegen eine Antwort auf die Krise des Kontinents bilden.
Diese Form Europas bedeutete eines „mehrerer Geschwindigkeiten“. Nicht alle Mikro-Unionen in der Makro-Union würden jeden Schritt mitgehen, sondern mit Bedacht wählen, wie eng sie den Bund schließen wollen. Es bräuchte dann auch keiner Abstimmung aller Mitgliedsstaaten mehr. Mitteleuropa aus Deutschland, Frankreich und Benelux – womöglich auch Italien und Österreich – bildete dann einen kerneuropäischen, stark integrierten Komplex, um den sich ein Mantel loserer Vereinigungen gruppierte. Das wäre nicht das non plus ultra der derzeit existierenden Union, aber es wäre die Lösung für jene, die auf lange Sicht einen echten Bundesstaat wollen, ohne das Gesamtprojekt zu riskieren. Dieses „karolingische Europa“ hätte immerhin 240 Millionen Einwohner und bildete den wichtigsten Wirtschaftsraum der Welt; dazu eine Einflusszone, in der man die Integration erst nach Jahrzehnten langsam und stetig vorbereiten könnte.
Dies wäre eine Theorie, um der real existierenden Union am nächsten zu kommen; frei jeglicher Ideale, wie „mein“ Europa aussehen müsste.
Allerdings kümmert man sich in Brüssel nicht um realistische, sondern um ideologische Lösungen, die nicht etwa auf die Umstände, sondern nur auf die eigene Agenda achtgibt. In der Manier unzufriedener Teenager, die alles jetzt, perfekt und absolut wollen, muss nun die gesamte Union einen Riesensprung nach vorne machen. Parallelen zu anderen großen Sprüngen sind natürlich (nicht) beabsichtigt.
Fassen wir die Ereignisse nach dem Referendum über den Nichtverbleib des Vereinigten Königreichs zusammen: anscheinend möchte die EU das Ausscheiden des UK so schnell wie möglich hinter sich bringen. Man will die EU nicht lockern, sondern enger schnüren. Als Antwort auf eine Wahl, bei der es vor allem um Bevormundung ging, ist man in Brüssel der Meinung, das Problem durch noch mehr Bevormundung zu lösen. Das ist konsequent. Da die Elite bisher gezeigt hat, was sie von der Intelligenz des Wählers hält, tut sie das komplette Gegenteil dessen, was letzterer wünscht.
Es reicht, nur drei der Überschriften auf FAZ.NET am vergangenen Sonntag zu lesen: Juncker will Brexit für Euro-Vollendung nutzen. Am Rand Europas wird die Luft dünn. Wer raus sein will, muss leiden.
Ich rufe in Erinnerung: das sind die unabhängigen Quantitätsmedien im Deutschland des Jahres 2016. Drohinstrumente, Verlautbarungsorgane, wenn man sich diese Überschriften ansieht. Das Volk hat das Vertrauen der Politik verloren, nun werden Tatsachen geschaffen; und wer jetzt nicht mitmarschiert, bekommt Ärger. Die Rhetorik erinnert an die Zeit der letzten beiden europäischen Großreiche, die ebenfalls England und Russland zu ihren Todfeinden erklärten.
Der Historiker in mir fügt hinzu: kurz vor dem entscheidenden Fehler.
In der Hoffnung, dass es jetzt nicht zum dritten Vaterländischen Krieg kommt, erscheint Brüssel im politischen Wahn, nun das zu vollenden, was andere begonnen haben: die Union wird nun komplett sein, oder sie wird nicht mehr sein. Wer nicht will, fliegt. Man will der bisherigen „EU mit multiplen Währungen“ ein Ende bereiten. Heißt in letzter Konsequenz: auch so Spitzenwirtschaften wie Rumänien und Bulgarien werden bald in den Genuss der europäischen Währung kommen. Muss der Löwe ausführen, dass er selbst Griechenland in finanzpolitischen Aspekten für ein kleineres Übel hält als das einstige Transsylvanien auch noch draufzusetzen?
Der Wunsch nach der festgezurrten Union, deren Alptraum gerade der Hauptgrund für die Brexiteers war, gibt letzteren Recht. Es geschieht genau das, was hier und woanders kritisiert wurde: eine völlig unberechenbare Union waltet und schaltet mit unbekanntem Ausgang. Was jetzt von der Presse als großer Wurf und Antwort auf das Ausscheiden Britanniens gefeiert wird, war doch genau das, was UKIP-Mann Farage seinen Landsleuten ersparen wollte. Eine selbsterfüllende Prophezeiung. Und keiner scheint es zu merken, außer die gescholtenen Unterstützer von „Leave“, die man nun richtig abstrafen will. Die Geschichte hat ihnen Recht gegeben – in nicht einmal einer Woche.
Die EU-Granden haben schon immer betont, dass es für sie ein Europa „mehrerer Geschwindigkeiten“ nicht geben dürfte. Die Aussage ist deswegen grotesk, weil die EU seit Einführung des Euro immer eine Gemeinschaft mehrerer Geschwindigkeiten war: nämlich eine mit und ohne gemeinsame Währung. In einer Zeit, in der alles nach Dezentralisierung und Lockerung schreit, mit der Abschaffung der letzten Nationalwährungen zu drohen, wird unberechenbare, zentrifugale Kräfte freisetzen, welche die ganze Union komplett auseinanderwirbeln könnten.
Denn statt des oben skizzierten Szenarios einer Abwicklung und geordneten Umgestaltung des Projekts hin zu mehreren Krafträumen, wird die EU mit dieser Provokation die Machtblöcke geradezu erzwingen. Dann allerdings womöglich nicht mehr als Ummantelung, sondern als unabhängige Gebilde.
Schon am „Black Friday“ nach der Wahl antwortete ich auf die Frage, wer als nächstes austräte: Dänemark. Auch auf einem sozialen Netzwerk habe ich mich so bereits geäußert. Die Antwort mag irritieren, weil derzeit Frankreich und die Niederlande präsenter in den Medien erscheinen. Bei Dänemark spielen jedoch drei Faktoren eine Rolle:
Primo. Dänemark besitzt im Gegensatz zu Frankreich und den Niederlanden keinen Euro. In der Tat ließ sich die Regierung in Kopenhagen sogar einst zusichern, diese Währung nicht übernehmen zu müssen (Opt-Out). Ähnliches gilt für das Nachbarland Schweden, wo per Volksvotum der Euro verhindert wurde, das aber diese besondere Opt-Out-Klausel nicht besitzt.* Beide Länder werden wie die Visegradstaaten an den „Rand gedrängt“, ihre nationalen Währungen aufzugeben. Dies dürfte eher auf Gegenwehr als Zustimmung stoßen. Vor allem machte es den Ausstieg einfacher, da man keinen Währungsübergang bräuchte (im Gegensatz zur Niederlande und Frankreich).
Secundo. Dänemark war/ist – wie die übrigen skandinavischen Staaten, aber nicht Visegrad – mit Großbritannien eng verflochten. In wirtschaftlichen Belangen, eben in besonderer Weise bei der Abwehr der Euro-Einführung, aber auch hinsichtlich der Verteidigung liberaler Wirtschaftsbestimmungen, arbeiteten beide Länder eng zusammen. Nun fehlt dem kleinen Dänemark der große Fürsprecher und sieht sich isoliert. Die Dänische Volkspartei, immerhin zweitstärkste Fraktion im Parlament, stellt die EU-Mitgliedschaft offen in Frage. Die DV begrüßte im Übrigen den Brexit als gute Entscheidung für Großbritannien – mit der Idee im Hinterkopf, dasselbe einläuten zu wollen. Die im Aufschwung begriffenen Schwedendemokraten im Nachbarland äußerten sich ähnlich.
Tertio. Im Unterschied zu Visegrad und Schweden besitzt Dänemark ein drittes Argument: die gemeinsame Grenze mit Deutschland und die eher zurückhaltende Position in der Migrationskrise. Eingekeilt zwischen zwei Ländern mit „Refugees welcome“-Agenda trifft es die Dänen nicht am besten. Der Weiterzug nach Schweden verebbt womöglich, weil auch dieses in der Zukunft einen Kurswechsel vollziehen wird, sollten die Schwedendemokraten erneut Gewicht erlangen; viel bedeutender ist jedoch das Verhalten des unberechenbaren Nachbarn Deutschland. Dass Deutschland einerseits die EU verengen will, andererseits aber verantwortungslos die eigenen Grenzen vernachlässigt, dürfte in Kopenhagen schon länger mit Argwohn betrachtet werden. Die Grenze zu Deutschland ist kurz; eine Rückerlangung der Kontrolle über die nationalen Grenzen, wie sie in Großbritannien zum Brexit führte, könnte auch am Belt zum schlagenden Argument ausgebaut werden.
Man mag einwerfen, dass Dänemark im Gegenzug ein anderes Problem besitzt: nämlich die deutsche Minderheit in Nordschleswig, bzw. die dänische Minderheit in Südschleswig. Allerdings: wenn in Tirol das Schließen der Brennergrenze im Zuge der neuen Migrantenwelle anscheinend beschlossene Sache ist, wird man wohl auch hier „Prioritäten setzen“.
Ein entscheidendes Moment des Wahlsieges von „Leave“ war es, den Briten eine hoffnungsvolle Zukunft zu versprechen, statt hysterische Angstmacherei zu betreiben. Was wären die positiven Perspektiven für Dänemark und den restlichen Norden? Speziell Dänemark hat eine besondere Beziehung zu einem anderen skandinavischen Land, nämlich Norwegen – das nicht zur EU gehört. Sprachlich und historisch eng verflochten, gehörte Dänemark bis 1973 der Europäischen Freihandelsassoziation an, deren Bund heute nur noch aus der Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island besteht; 1973 stieg im Übrigen nicht nur Dänemark aus der Assoziation zugunsten der EU aus, sondern auch Großbritannien. Finnland und Schweden vollzogen diesen Wechsel 1995.
Es wäre daher strategisch nicht auszuschließen, dass Dänemark sich seiner eigenen Vorreiterrolle als Nordische Macht entsinnt, und mit einem eigenen Nordbündnis aus Norwegen, Island und Grönland die Dänische Union wiederbegründet, die bis 1814 den Nordseeraum beherrschte. Möglicherweise könnte hier auch die alte Verbundenheit zu Großbritannien wiederaufleben. Sollte es in Schweden zum erhofften Politikwechsel kommen, und das immer euroskeptischere Finnland Konsequenzen ziehen – die Wahren Finnen sorgen schon länger für Unruhe – dann wäre auch eine Rückkehr zum Zustand der Freihandelsassoziation von 1973 möglich, ergänzt um einige stärkende Faktoren, wie sie heute Visegrad vorgibt (bspw. gemeinsame Grenzkontrollen im Angesicht der Massenmigration).
Ähnlich wie Visegrad wäre bei den skandinavischen Staaten eine Balance und eine historische wie kulturelle Verwandtschaft gegeben. Einen gemeinsamen Mythos, nämlich den der Union von Kalmar, hätte man ebenfalls – auch, wenn diese Union insbesondere den Schweden heute in eher unangenehmer Erinnerung zurückbleibt. Allerdings stört auch die Polen in Visegrad nicht, dass sie historisch betrachtet zeitweise Juniorpartner der Ungarn waren.
Natürlich spielt hier Spekulation eine große Rolle. Aber Politik besteht aus dem Abwägen von Möglichkeiten und rationalem Handeln im Angesicht der Umstände. Die Dänen wären jedenfalls schlau, würden sie sich diese Möglichkeiten vor Augen führen, und sie zumindest gemeinsam mit den Schweden und Finnen Brüssel als Drohung vorwerfen, um eine engere Union zu verhindern. Sollte Juncker ernstmachen, dürfte es zumindest in Dänemark ein Votum geben. Bei einem Ausstiegszenario könnte sich damit ein zweiter Block etablieren; im Angesicht eines Ausstiegs des Nordens, aber des Einstiegs Bulgariens und Rumäniens (sowie vielleicht noch der Ukraine?) in die Währungszone dürften dann aber selbst die Romanischen Länder Italien und Spanien überlegen, ob sie nicht besser ebenfalls aussteigen. Österreich dürfte dann schon längst sein Heil in einem neuen Balkanbund suchen oder sich als fünftes Mitglied der Visegrader abkapseln.
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*Es gab nur ein einziges anderes Land in der gesamten EU, welches die Out-Opt-Klausel besaß – und das war das Vereinigte Königreich.