Es waren zwei lange Tage. Obwohl ich mich um eine neutrale Haltung und gerechte Urteile bemühe, vermag ich eine persönliche Genugtuung nicht verleugnen. Es ist jenes Gefühl, was ich mir bereits beim Schottischen Referendum von 2014 und einem möglichen Folgeeffekt für die EU erwartet hatte. Die Geschichte überrascht uns erneut mit Ironie: denn es ist eine Merkwürdigkeit sondergleichen, dass ausgerechnet Großbritannien, das wie kein anderes ein ambivalentes Verhältnis zum Kontinent pflegte, zum Schicksalsland der EU geworden ist. Nicht durch die Schotten und den Regionalismus, sondern durch UKIP und den Brexit.
Jeder weiß, wie ich über Schottland denke. Die Erinnerungen sind hellwach, wie damals das Ausscheiden Schottlands aus dem UK als Katastrophe gehandelt wurde. Wie damals Politiker und Medien aus einem Rohr dagegen feuerten. Nun sind dieselben, die damals sich gegen die Selbstbestimmung Schottlands aussprachen, auch gegen den Brexit, also die Selbstbestimmung des gesamten Königreichs gewesen; und es ist erneut diese, ausgerechnet diese Gruppe, die jetzt lang und breit über die Gefahr eines neuen Schottenreferendums und Auseinanderbrechen des UK warnt.
Solche Verbündete will der löwenhafte Regionalist nicht; es ist der opportunistische Abschaum jener, die nur Rache an einer verflossenen Geliebten nehmen wollen, um die Trennung so schmerzhaft wie möglich zu machen. Eine Journalistenjunta beschwört jetzt Schottlands Unabhängigkeit, um den Engländern zu zeigen wo der Hammer hängt. Von dieser Meute will der Löwe sich hier öffentlich distanzieren: sie ist niederträchtiger und verachtenswerter als alle Feindobjekte die sie aufbaut; weitaus schmutziger als Trump, Wilders, Salvini, Le Pen oder wen sich dieses Kartell morgen als Zielscheibe aussucht. Es zeigt täglich, wessen Geistes Kind es ist: wenn die Ehe von Homosexuellen wie in Irland per Referendum erlaubt wird, ist es ein Sieg der Demokratie für diese Personalien – stimmen aber die Briten gegen die EU, dann muss man darüber nachdenken, ob Basisdemokratie eine gute Sache ist; dann hat der Mohr seinen Dienst getan und soll abtreten.
Man kann nicht ein bisschen frei sein, so, wie man auch nicht ein bisschen schwanger sein kann. Wenn Freiheit nur gegeben wird, um das Ancien Régime zu bestätigen, muss man die Systemfrage, oder zumindest das Verständnis der Eliten bezüglich des Demokratiebegriffs stellen.
Aufgrund der gewaltigen Resonanz auf diese Sternstunde der Freiheit, diesen historischen Moment, der sich vor unser allen Augen eröffnet, folgende Gedanken:
Pensiero I: Schottland. Ja, Miss Sturgeon hat es angekündigt, und es ist – wie im letzten Beitrag erwähnt – auch nicht verwunderlich. Ich gehe sogar davon aus, dass einige Schotten darauf spekulierten und zuhause blieben, denn ein Brexit hieß von Anfang an eine Neustellung der schottischen Frage. Plötzlich geben sich viele in den Medien als Freunde der schottischen Sache aus, wo sie dort schon vor zwei Jahren hätten stehen können. Und es sei ja nur gerecht, denn schließlich habe die Mehrzahl der Schotten in der EU bleiben wollen.
Wie allerdings ebenfalls aufgezeigt, lag die Differenz in absoluten Zahlen bei 1,6 Millionen Remain-Schotten gegen 1 Million Leave-Schotten. Damit lässt sich eine Mehrheit finden, ohne Frage. Dennoch bleiben einige Fakten ausgespart, denn während einige Parameter dieselben wie vor zwei Jahren sind, haben sich andere grundsätzlich verändert.
Vor zwei Jahren war das UK Teil der EU. Ein Ausscheiden Schottlands hatte zu Diskussionen geführt, ob Schottland in der EU bleiben, oder seinen Antrag neu stellen müsste. Es war damals ausgerechnet die EU und auch die Medienclique, die hier britische Hilfsleistung betrieb, und forderte, Schottland müsse aus der EU ausscheiden und bis zur Aufnahme auf alle Privilegien verzichten. Das hatte durchaus Einfluss auf das Lager der Befürworter eines schottischen Verbleibs bei London. Nun erklären dieselben Leute, Schottland sei herzlich willkommen in der EU!
Aber: vor zwei Jahren hätte Schottland tatsächlich in der EU bleiben können. Nun, bei einem zweiten Referendum, muss Schottland neu verhandeln, weil Großbritannien bis dahin ausgeschieden sein dürfte – auch, wenn eine Abwicklung noch zwei Jahre dauern dürfte, bräuchte ein „Scoxit“ eine Vorbereitung, Abstimmung und ebenfalls eine Abwicklung. Eine Neuaufnahme Schottlands braucht jedoch Zustimmung aller EU-Länder – und es ist abzusehen, das mindestens Spanien, das seine hausgemachten Probleme mit den Katalanen hat, hier das Veto einlegen wird. Belgien mit seinen aufmüpfigen Flamen hat ähnliches verkündet. Das Damoklesschwert regionaler Abspaltungen nach EU-Austritten hängt in der Luft.
Neben einer unwahrscheinlicheren EU-Aufnahme Schottlands kommt das nunmehr beschworene Argument des fallenden Pfunds. Es mag richtig sein, dass kurzfristig wirtschaftliche und finanzpolitische Probleme auf das Vereinigte Königreich zukommen, und gerade der Sterling ein Grund war, warum Schottland die Union nicht auflöste. Doch bleibt fraglich, wie lange diese Krise andauert. Sollte das Pfund sich wieder fangen, und stattdessen die EU in eine Krise schliddern – ein Umstand, der in der EU irgendwie überhaupt nicht gesehen wird, obwohl sich immerhin das UK von der EU gelöst hat, und nicht andersherum! – dürfte das Argument bis dahin verpufft sein.
Ein Vorteil gegenüber dem letzten Referendum ist definitiv die starke Position der Scottish National Party bei der letzten Parlamentswahl. Andererseits: meiner Ansicht nach war der einstige Chef Alexander Salmond die weitaus charismatischere Persönlichkeit als Sturgeon, dem man einen positiven Neuanfang eines freien Schottlands zutraute.
Pensiero II: London. Wie ausführlich gezeigt, stammten nur 700.000 Stimmen Netto aus dem Gebiet außerhalb von Wales und England. Der Großteil der Millionen Stimmen für den Verbleib kam grundsätzlich aus der Metropolregion London. Medien sprechen jetzt davon, dass der Brexit von den Alten gegen die Jungen, von den Grauen gegen die Bunten initiiert sei. Tatsächlich zeigt sich nirgendwo deutlicher, dass die große Frage in Europa jene von Provinz gegen Capitale, von Land gegen Stadt ist. Würde London als Stadtstaat aus dem UK ausscheiden, wäre wohl allen geholfen.
Pensiero III: Nordirland. Sinn Fein kündigt bereits an, ein Referendum zur Einheit mit Irland abhalten zu wollen. Die Medien sollten sich dabei vor Augen halten, dass auch in Nordirland – in absoluten Zahlen – 100.000 Stimmen den Ausschlag gaben, bzw. 44% für Leave, 56% für Remain stimmten. Es dürften dabei auch einige protestantische Unionisten dafür gestimmten haben, aufgrund des Austauschs mit dem Nachbarland und wirtschaftlicher Verflechtungen. Eine neuerliche Irland-Krise schließe ich nicht aus. Ich halte sogar ein Ausbrechen Nordirlands aus der Union für wahrscheinlicher als das Schottlands. Dennoch: auch hier erst einmal abwarten. Denn:
Pensiero IV: Die EU. Die Medien inszenieren das Schreckgespenst Brexit als Apokalypse Britanniens. Dabei war es ja nicht die EU, die Britannien verlassen hat, sondern andersherum. Die Börsen werden sich größtenteils wieder fangen. Das britische Pfund stürzte am Donnerstag/Freitag zwar ein, aber der Wechselkurs Euro/Pfund liegt derzeit auf dem im April. Umzüge von Banken erwiesen sich überdies als Enten. Es könnte durchaus sein, dass also weniger Albion, als Europa in die Krise gleitet. Ob Nordirland und Schottland dann noch in die EU wollen – bleibt offen. Ein Grund für den Verfall ist im Übrigen weniger faktisch, als psychologisch motiviert und künstlich hergestellt, wie die BBC berichtet:
Ich glaube im Übrigen nicht an eine bedeutende Reform der EU, die diesen Komplex in dieser Form retten wird. Wichtige Zeit ist verstrichen. Der Brexit ist Reaktion, nicht Auslöser. Warum sollte die EU, die der Finanz- und Migrationskrise nicht Herr wurde, plötzlich hier Erfolg zeigen? Jedem ist klar, wie stark Juncker und Merkel verwoben sind; und Berlin hat bisher eher Arroganz oder Hilflosigkeit gezeigt als eine konkrete Antwort auf diese Herausforderungen. Dass man nicht wusste, was auf einen zurollte, „schockiert“ war, kurz: selbst ein Steinmeier wohl nicht gefasst war, kann man hier absehen:
Da sitzt also eine junge Dame, die lieber weiterhin ihre Linie fährt, keine Antworten weiß und sichtlich emotional, statt rational reagiert – ist das die derzeit erwähnte Jugend in den Medien, auf welche die EU baut?* Wundern würde es mich nicht. Da baue ich eher auf Tilo Jung, der bereits am 15. Juni fragte:
Leser Andreas wird sich womöglich noch an die Diskussion auf dem Papsttreuen Blog erinnern, wo man immer wieder auf Leser traf, die unsere Regierenden als kompetenter bezeichneten, wegen Fachwissen und dergleichen. Genau, da sitzen sie: die Übermenschen Nietzsches.
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*Im Übrigen: die nachfolgende Erwiderung von Seibert, hat für mich den Begriff „repräsentative Demokratie“ niemals so abwertend klingen lassen – als sei „repräsentativ“ eine Einschränkung, welche die Demokratie quasi negiere.