Nigel Farage, der Chef der UKIP, die bekannt für ihr Unabhängigkeitsverlangen ist, zeigte sich nach der gestrigen Wahl skeptisch: er glaubte, Britannien würde knapp mit „Remain“ stimmen. Er zitierte damit die verbreitete Meinung in den Medien, die das Lager jener, die in der EU bleiben wollten, einen Vorsprung von etwa 5% prognostizierten. Die Sache schien sicher. Das verleitete einige Zeitungen dazu, das Ergebnis voreilig zu drucken: das Vereinigte Königreich bleibt in der EU. So in der Gazzetta del Mezzogiorno, eine der wichtigsten Zeitungen Süditaliens.
Allein diese Voreiligkeit weckte Misstrauen. Wie schon einmal erwähnt: vieles erinnerte an die letzten britischen Parlamentswahlen. In diesem Falle galt das für die Selbstsicherheit der Medien, die damals „ein enges Kopf-an-Kopf Rennen“ verlautbarten. Es kam anders. Damals wurde David Cameron mit haushohem Vorsprung gewählt. Wir erinnern uns: eine der Versprechungen des Premiers war, eben jenes Referendum abzuhalten, das in der Nacht vom 23. Auf den 24. Juni ausgezählt wurde.
Wie auch in anderen Fällen, sind mir bloße Behauptungen zuwider. Ich will Fakten und Quellen. Da ich am Freitag einen freien Tag hatte, konnte ich es mir gönnen, BBC World zu schauen und der Berichterstattung beizuwohnen, die – im Gegensatz zur germanischen Hysterie – so unglaublich nüchtern und seriös rüberkam, dass ich jederzeit lieber meine Zwangsgebühren an den BBC als die hiesigen öffentlichen Sendeanstalten abführen möchte. Aber das ist ein völlig anderes Thema.
Als Farage, der Hauptexponent von „Leave“, die Niederlage zu sehen glaubte, war ich schon um Mitternacht, bei Schließung der Wahllokale (23 Uhr britischer Zeit) höchst optimistisch. In Schottland, das unbedingt in der EU bleiben wollte, war die Wahlbeteiligung erstaunlich gering geblieben. Am Ende sollten nur 67% der Schotten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. In Wales waren es 71%, in England 73%. Nur im ebenfalls eher EU-freundlichen Nordirland sollte die Wahlbeteiligung niedriger ausfallen (63%). Das waren Zahlen, die bereits hellhörig machten, aber weder von Politik, noch Presse gebührend betrachtet wurden.
Hier spielt mal wieder die Unkenntnis regionaler Befindlichkeiten eine große Rolle. Natürlich tendieren die Nordiren eher zur EU, aufgrund des Austauschs mit der Republik Irland. Nordirland ist zusammen mit Gibraltar jenes Territorium, das überhaupt eine Landgrenze mit einem EU-Mitglied besitzt. Die schottische Pro-Europa-Bewegung ist legendär. Warum aber Wales in vielen Berichten als europaaffin bewertet wurde, erschließt sich nicht. Natürlich existiert auch in Wales eine regionalistische Partei; die Waliser sind allerdings mental weitaus näher an den Engländern, nicht zuletzt, weil ihre Verbindung zu England historisch weitaus länger andauert als die bspw. Schottlands. Wales ist wie England vom Umbau der alten Standorte der Industrialisierung betroffen. Viele „white workers“ sehen sich als Benachteiligte der letzten Jahre und Jahrzehnte. Diese soziale Gruppierung sollte beim Brexit den Ausschlag geben.
Denn die Wahlauszählung begann unter diesem Vorzeichen. Der Nordosten Englands, Heimat von Labour und alter Industrie-Standorte, der dem Remain-Lager zugerechnet wurde, wählte Leave. Sunderland, wo man einen Vorteil für die EU angenommen hatte, wählte mit 61% deutlich den Ausstieg. In Newcastle gewann zwar Remain, aber nur mit einem hauchdünnen Vorsprung. Stimmen, die hier nicht für Remain gewonnen wurden, waren entscheidend. Ähnlich verhielt es sich im walisischen Falle, wo nur drei Wahlkreise mehrheitlich für Remain stimmten, und selbst dort nicht besonders deutlich. Mit Ausnahme des gelben Remain-Londons war Britannien südlich Schottland blaues Leaveland. Auch Alba konnte da aufgrund der geringen Bevölkerung und Wahlbeteiligung kaum etwas beisteuern: 1 Million Schotten wählten immerhin den Brexit, 1.6 den Verbleib. Summa Summarum „nur“ 600.000 Stimmen, die das Pro-Lager aus den Highlands erobern konnte. In Nordirland lagen die Remainers 100.000 Stimmen vorne. Also insgesamt 700.000 Stimmen, die der Großraum London außerhalb Englands und Wales zusätzlich für die eigene Agenda gewinnen konnte.
Am Ende siegte der Brexit mit rund 1,3 Millionen Stimmen Vorsprung – heißt, Schottland und Nordirland waren nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Es sind daher vier Beobachtungen hervorzuheben:
Primo. In Schottland hat Remain zwar klar mit 62% der Stimmen gewonnen. Dennoch war auch hier die EU-Skepsis verbreiteter als gedacht. Der Brexit führt sich damit also auch auf einen Teil der europaskeptischen Schotten zurück, die entweder zuhause blieben, oder für Leave stimmten. Beim Schottland-Referendum hatten 84% der Schotten abgestimmt, dieses Mal nur 67%.
Secundo. In Wales mag der Regionalismus zwar im Aufschwung begriffen sein, er ist aber im Gegensatz zu dem im Schottland wohl eher europaskeptisch geprägt. Es ist davon auszugehen, dass diese Europaskepsis gegenüber Föderalisierungsbestrebungen oder gar Separation überwiegt, weswegen das Vereinigte Königreich, dessen Zerfaserung man bereits voraussagt, sich um diesen Teil keine Sorgen machen dürfte.
Tertio. Entscheidend für den Ausgang der Wahl waren nicht so sehr überzeugte UKIP-Wähler oder „rechte“ Tories, sondern die enttäuschte Stammwählerschaft von Labour – sowohl in Wales, als auch in Nordostengland (und womöglich auch in Schottland). Diese „white workers“ sollten von Labour, das eine starke Remain-Kampagne fuhr, überzeugt werden. Dies wurde dagegen von den Wählern als Bevormundung verstanden. Bei der BBC sprach eines der Labour-Mitglieder davon, dass das eingetreten sei, vor was man jahrelang gewarnt habe: der Kontakt zum kleinen Mann sei völlig abgebrochen. Die Leute fürchteten sich vor der Immigration, besonders der unkontrollierten (womit unausgesprochen jene von Frau Merkel initiierte gemeint war). Diese Menschen als „Rassisten“ abzustempeln, treibe sie nur noch mehr von Labour davon.
Quarto. Medien sprechen von einem innenpolitischen Votum, das außenpolitische Wirkung habe. Das ist nur bedingt richtig. UKIP, die auf Unabhängigkeit gerichteten Tories und die genannten (Ex-)Labourmitglieder wollten nicht nur dem britischen Politestablishement einen Denkzettel verpassen, sondern der Bevormundung per se. Dieser gilt nicht nur der nationalen, sondern auch der EU-Ebene. Die Menschen fühlen sich nicht mehr von „denen da oben“ vertreten. Das Treten von Medien und Politik eben auf jene Schicht hat den Trend beschleunigt. Es ist „Populismus“ im wahrsten Sinne des Wortes – das Volk sucht sich volksnähere Alternativen (oder jene, die es dafür hält). Die Rückerlangung von Kontrolle erscheint dann realistischer, wenn man sie wieder „nach Hause“ holt. In diesem Sinne war Merkel die beste Wahlhelferin von Brexit-Befürworter Boris Johnson und UKIP-Chef Nigel Farage: sie war das Schreckgespenst der Bevormundung und Ohnmacht.
Es war demnach für mich auch nicht überraschend, um 4:00 Uhr ins Bett zu gehen, und heute Morgen das Ergebnis zu sehen. Das Brexit-Lager hatte bereits am Anfang geführt, obwohl dies aufgrund der Wahlorte für das EU-Lager hätte gelten müssen. Obwohl erst 120 Wahlkreise ausgezählt waren, erschien es offensichtlich, dass Remain bisher viel zu viele Stimmen hatte „liegen lassen“, als diese noch rückerobern zu können. Der Trend war deutlich.
Mir kam in der Nacht auch nicht zuletzt der Gedanke, die Schotten könnten sich bewusst zurückgehalten haben, um einen Brexit zu forcieren. Wie angekündigt, würde dann automatisch ein neues Referendum über die Unabhängigkeit anschließen. Und genau das war es, was auch Miss Sturgeon als Vorsitzende der Scottish National Party bereits heute Morgen ankündigte.
Dabei blieb es nicht. Eine Kettenreaktion brach los, eine, wie sie Schulz leugnet; David Cameron, mit Sicherheit nicht der unerfolgloseste Premier der britischen Geschichte, machte Nägel mit Köpfen und trat zurück. Die Welt schrieb einen vernichtenden Artikel: Wie David Cameron aus Versehen Europa opferte. Er ist typisch für die deutschen Quantitätsmedien, die mal wieder nichts kapiert haben. Um es zu zitieren:
Es war eine beispiellose, grandiose Fehlkalkulation. Ein epochales Beispiel für den Schaden, den ein einzelner Politiker anrichten kann, wenn er seiner eigenen Karriere zuliebe das Schicksal seines Landes aufs Spiel setzt. In Camerons Fall hat er gleich die Zukunft eines ganzen Kontinents aufs Spiel gesetzt.
Geht es hier wirklich noch um Cameron? Passt das nicht vielmehr auf die völlig verfehlte EU-, Außen- und Migrationspolitik der deutschen Bundeskanzlerin, die ja bewiesenermaßen ausschlaggebend beim Votum war? Kein Wort! Die Deutschen Medien geben sich weinerlich, angriffslustig, spielen schlechte Verlierer und wissen selbst nicht, ob sie nach einer vollzogenen Scheidung heulen oder fluchen sollen. Die eigentliche Verursacherin, die in Berlin sitzt, ist weiterhin sakrosankt. Und Juncker in Brüssel, der soeben eines der vier wichtigsten Mitglieder und zudem fundamentales Finanzierungsmitglied der EU ziehen lässt, hätte ebenso viel Grund zurückzutreten wie Merkel und Cameron.
Es zeigt sich eine absolut strategielose, inkompetente und unbedarfte Politik. Offensichtlich wird: es gibt, wie bei Merkel immer, keinen Plan B. Dinge sind alternativlos und in Stein gemeißelt. In Berlin und Brüssel schien man wie in den Zeitungsredaktionen zu denken, wieder mit einem blauen Auge davonzukommen – obwohl die Zeichen in Österreich bei der Bundespräsidentenwahl und in Italien bei der Kommunalwahl deutliche Signalwirkung besaßen.
In ihrer Überzeugung, das Ende der Geschichte zu kennen, einer Welt oder EU, die immer weiter zusammenwächst, mit ihrem finalen, unabwendbaren Schluss, haben die Politiker Europas keinerlei Gespür mehr für Strategien; weil ihr Denken alternativlos ist, haben sie per se keine Alternativen. Die Ideologie hat das praktische Handeln ersetzt. Nichts zeigt deutlicher, als diese Reaktion und Ohnmacht, dass wir es nicht mit Machiavellisten, sondern Traumtänzern zu tun haben, die nicht die einfachsten Prioritäten einhalten können; statt sich jahrelang um ein kleines Halbinselland wie Griechenland zu kümmern, hat man nicht ansatzweise denselben Aufwand für das Vereinigte Königreich betrieben, um dieses einzubinden und zu halten. Das sind 9 Milliarden Euro, die in Zukunft fehlen werden; das ist die militärische und diplomatische Komponente, und der besondere Draht nach Washington – und die Erfahrung einer Diplomatie, die ein „Empire“ aufbaute und leitete, und mit dem Commonwealth immer noch ein unvergleichliches Netzwerk besitzt.
Wenn also Klaus Kelle schreibt…
Die Welt wird nicht untergehen, und die Europäische Union auch nicht.
… so ist dem ersten zuzustimmen, dem zweiten nicht. Doch, diese EU wird in der Form, wie wir sie heute kennen nicht nur untergehen, sie ist schon dabei. Der Brexit ist auch nicht der Anfang vom Ende – der Anfang vom Ende fand in den Jahren 2008 bis 2015 statt, als Deutschland, das mächtigste Land des Kontinents, seiner Hegemonialrolle nicht gerecht wurde, und das europäische Projekt in vielerlei Hinsicht gegen die Wand fuhr. Es war Deutschland, das der EU seinen unkontrollierbaren Charakter gab, weil Regelungen nicht eingehalten wurden. Hätte Deutschland mit dem Grexit ernst gemacht, statt immer wieder zurückzurudern, dann hätte es keinen Brexit gegeben; und hätte Deutschland sich bei der Migrationskrise nüchtern und politischer Vernunft offen gezeigt, dann hätten die Briten Deutschland auch nicht für einen Hippie-Stadt gehalten. Mit Hippies kann man feiern, einen Verein gründen dagegen nicht. Der Erosionsprozess ist im vollen Gange, und die Hinterfragung des Status quo aus Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und sogar Italien durch mögliche Referenden deren offensichtlichstes Zeichen.
Großbritannien feiert heute nicht nur einen Independence Day, wie ihn Farage und Johnson nennen, sondern eine zweite Glorious Revolution. In ihrer Geschichte hatten die Briten nur eine einzige von Gewalt gezeichnete Phase, nämlich die vom Bürgerkrieg bis zum Ende Oliver Cromwells, die sich mit den Schreckenskapitel anderer Länder verglichen noch harmlos ausnehmen. Es kannte sonst keine Gewaltumstürze, keine Revolutionen, keine totale Besetzung, keine Zerstörung. England revolutionierte sich nie, es evolutionierte, und das mit Understatement statt Gewalt. Der Brexit ist damit ein Kapitel typisch britischer Geschichte, die immer ihren eigenen Weg ging: europäisch geprägt, aber nicht europäisch bestimmt.
Natürlich: die Wirtschaft wird jetzt rebellieren. Das Finanzzentrum London war und ist eine gelbe Remain-Insel im blauen Leave-Meer. Ginge es nach den dortigen Banken, der Elite, all jenen Einflussreichen, wäre das Ergebnis anders ausgefallen. Die alte Frage danach, ob Freiheit und Geld wirklich einander entsprechen, oder man nicht eher immer das eine für das andere opfern muss, stellt sich nirgendwo so brennend wie hier. Ich halte es da mit Peter Winnemöller, der treffend bemerkte:
Börsen sind doch ohnehin politische Zicken.
Noch vor Tagen fragte ich mich, ob das UK eine Sternstunde der Menschheit nutzt. Es würde eine werden; die Frage blieb, ob eine Sternstunde wie bei Konstantinopel, oder bei Waterloo. Im Nachhinein nicht überraschend, dass es letzteres werden sollte – denn Waterloo liegt bekanntlich bei Brüssel.
Und die Sternstunde, die wir erlebten, ist eine der Freiheit.