Die Meute im Zug

4. Juni 2016
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Hintergrund und Schreibarbeit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Persönliches

Der Romantiker befand sich auf einer langen Reise, die ihn quer durch Deutschland führte. Natürlich hatte er – ganz ordentlich, wie sich das für die Mentalität dieses Landes gehörte – nicht nur einen Fahrtschein gekauft, sondern auch eine Platzreservierung gebucht. Er bestieg den ihm zugewiesenen Wagon und setzte sich auf seinen Sessel in ein ruhiges Abteil. Es war eine unaufgeregte und ganz ereignislose Fahrt, die nur das Gleiszischen oder Rattern unterbrach. Im idyllischen Wagon schliefen die Fahrgäste, lasen Romane oder unterhielten sich leise über das, was sie in der Zielstadt tun würden.

Dann aber, nach nur einer Stunde, hielt der Zug in einer Großstadt, und Lärm weckte das bis dahin ruhige Abteil. Schon beim Eintreten zeigten sich einige skeptisch darüber, ob die Neuzugänger sich nicht vielleicht verirrt hätten, denn mit ihrem groben Verhalten, den Pappbechern in der Hand und ihrem lauten Gerede passten sie so gar nicht in die Umgebung. Ein alter Professor verzog grantig den Bart, grummelte über das Verhalten; aber seine Frau hielt ihn ab. Das würde sich schon wieder legen; wenn die Fremden erst ihr Gepäck verstaut und ihre Becher leergetrunken hätten, dann würden sie sicher stiller. Der Mann zweifelte das an, verschränkte dann aber nur die Arme – denn es war ja nicht seine Bestimmung, als einzelner, ganz allein gegen die Gruppe anzukommen. Denn in der Tat waren die neuen Passagiere recht stark und außerdem zu acht, und der Professor nur ein sehr dünner, schon älterer Herr und ohne Verbündeten.

Also versuchten die Passagiere das Geschehen zuerst zu ignorieren; es würde schon gut gehen, denn es gab gewisse Normen und Regeln, die jeder einhielt. Alles andere erschien gar nicht vorstellbar für die gutmütigen Menschen im Wagon.

Zu seinem Unmut bemerkte der Romantiker, dass die Chose erst begonnen hatte. Denn die Männer setzten sich auch nicht nieder, sondern blieben teils im Gang stehen, um nicht getrennt zu werden und weiterzugrölen. Irgendwann rief einer dazu auf, laute Musik zu spielen, und bald schon erfüllte der Lärm von Taschentelefonen mit Liedern eher minderer Qualität den Zug. Die anderen Zuggäste schienen darüber viel zu überrascht, weil sich bis dahin keiner vorgestellt hatte, dass jemand wirklich ein solches Verhalten an den Tag legen würde.

Dem Romantiker schien, als hätte eine Gruppe fremdländischer Invasoren ein liebliches Dorf überfallen; und niemand schien sich darum zu scheren, was als nächstes geschehen könnte.

Aber die Mitfahrenden beruhigten sich. Denn: sie waren nicht dafür zuständig. Der Schaffner würde das erledigen; schließlich zahlten sie ja Geld für diese Reise, und das bedeutete, dass eine Autoritätsperson sich darum kümmern würde. Diese würde sie zurechtweisen und dann für Ruhe sorgen. Schließlich war das seine Aufgabe.

Als der Schaffner aber kam, tat er sogar so, als gäbe es das Problem nicht. Er entwertete die Fahrkarten der Meute, mit einem etwas gequälten, aufgesetzten Lächeln. So, als hätte der, der für Recht und Ordnung zuständig war, nichts Besseres zu tun, als sich aus dem Staub zu machen, verließ er den Wagon in zügigem Schritt.

Die Musik spielte, die Stimmen wurden lauter den je, das Gelächter schallte von den Fenstern.

Da wurde es dem Professor zu viel. Der ging in den Nebenwagon und wies den Schaffner auf das Problem hin. Als er zurück in den Unruhewagen kam, musste er jedoch warten. Der Schaffner kam und kam nicht. Da wurde es ihm zu bunt, nahm seine Sachen, und wechselte den Ort; seine Frau folgte, und andere mit ihm. Die übrigen Fahrgäste aber beharrten darauf: sie hofften auf den Schaffner, denn der schaffe das schon – weswegen eine Dame und ein Student ebenfalls zum Schaffner gingen, um ihn an seine Pflicht zu erinnern.

Erst eine halbe Stunde später kam der Verantwortliche. Unter dem Druck jener, die ihn gerufen hatte, wies er die Gruppe auf die Beschwerden hin, und dass sie leiser sein sollten; außerdem müsse die Musik abgestellt werden. Der Schaffner tat also, als hätte er alles unter Kontrolle, doch der Romantiker bemerkte schon bei seinem Rückweg, dass in seiner Miene keine Zuversicht stand. Zu Recht: denn kaum war er weg, da ging das Spiel weiter, und man verhöhnte untereinander die Worte, die der Schaffner gesprochen hatte:

»Du, sei leiser!«

»Nein, du!«

»Seit doch alle mal leiser!«

»Ja, Spaß ist hier verboten!«

So äfften sie das Geschehen nach, und bald spielte die Musik wieder. Weitere Personen verließen ihre Plätze, und gaben den Raum verloren, den sie zuvor selbst besetzt hatten. Es dämmerte ihnen, dass, selbst wenn man die Meute zurechtwies, nur Spott und Hohn folgte, denn in der Gruppe waren sie stärker als die einzelnen. Da die Reise noch viele Stunden dauern würde, und die Lärmenden immer von der Endstation sprachen, war klar, dass man entweder flüchten, oder die Umstände ertragen musste; denn auch ein einzelner Mann, der die Gruppe neuerlich belehrte, wurde von den Störern nur belästigt.

Der Romantiker hatte das Geschehen länger beobachtet, als er es selbst gewollt hatte; einzig die Analyse und die Freude daran, den Schrecken zu beobachten, und wie eine kleine Gruppe einen ganzen Wagon terrorisieren konnte; also kurz, wie jedes machiavellistische Prinzip sich vor seinen Augen bestätigte, hatte ihn länger dort gehalten, als nötig. Auch entging ihm nicht, welche Grimassen die Fremden zogen, wenn Passagiere aus anderen Wagons das Zugabteil durchqueren mussten, weil der Speisewagen auf der anderen Seite lag; und ebenso, wie sie den jungen Frauen nachglotzten.

Hier war nichts zu gewinnen und zu verhandeln; denn es schien, dass selbst wenn vier oder fünf Leute sich verbündet hätten, nichts gegen die Acht auszurichten war. Jedoch: der Romantiker hielt das alles für ganz und gar Unrecht, denn hier hatten ja nicht nur die Menschen, sondern auch das Bahnpersonal – das offenkundig den Wagon mittlerweile mied – versagt, weil es nicht das Recht durchsetzte oder das Verhalten sanktionierte.

Bevor der Romantiker jedoch kapitulierte, suchte er nach dem Schaffner. Der hatte sich in ein Abteil zurückgezogen, wo die Leute Champagner tranken, und scherzte mit den Gästen, ob denn alles in Ordnung sei. Als er den Romantiker sah, war er aber plötzlich sehr beschäftigt, wohl wissend, aus welchem Wagon er kam. Als der Romantiker ihn zur Rede stellte, meinte er nur:

»Was ist denn?«

»Sie wissen sehr wohl, was in Wagon 35 los ist!«, gab der Romantiker recht böse von sich. »Wir alle zahlen viel Geld für diese Reise! Und ich habe extra einen Sitzplatz reserviert. Ich verlange wenigstens eine Ermäßigung für diese Unfähigkeit!«

Der Schaffner aber tat, als hätte er damit nichts zu tun:

»Das ist nicht mein Problem«, wiegelte er ab. »Das ist jetzt schon die dritte Beschwerde – lösen sie doch das Problem selbst!«

»Ich allein – gegen acht? Als ob!«

»Ja, dann müssen sie eben zusammen dagegen angehen!«

»Bevor die Deutschen einen Aufstand machen«, meinte der Romantike ironisch, »trinkt ein Italiener eher bei Starbucks.«

Er beharrte weiterhin auf Preisnachlass, aber dann ging der Schaffner nur noch weg, und warf alle Schuld von sich:

»Wenn sie ihre eigenen Angelegenheiten nicht regeln können, dann sind Sie es selbst schuld.«

Da ballte der Romantiker die Fäuste, über so viel Arroganz; die Fremden im Abteil mochte er verabscheuen, doch die angeblich Mächtigen, die in Wirklichkeit machtlos waren, und andere mit ihren Problemen allein ließen – die verachtete er weit mehr.

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