Jedes Mal, wenn ich aus Italien nach Deutschland zurückkehre, erscheinen mir Kontraste und Differenzen schärfer. Je länger ich in Deutschland weile, desto selbstverständlicher werden mir die Dinge, die irrsinnig sind. Nicht so sehr, weil ich sie akzeptiere, sondern kapituliere. Dem normativ Faktischen kann man nicht entgehen; und einem Machiavellisten stünde es auch nicht an.
Ein genuin teutonisches Merkmal ist der Zwang zur Konformität, wie ich bereits im Böhmermann-Artikel andeutete; eine Anwandlung, die liberales Denken – wahrhaft liberales Denken! – im Keim erstickt. Im Gegensatz zu den sozialistischen Gegenspielern, die sich auf die Banner schreiben, den Neuen Menschen zu schaffen, und dafür in den kulturell-hegemonial eroberten Bildungsstätten den richtigen Nachwuchs heranzüchten, hat der echte Liberale ein großes Problem. Kollektivisten jedweder Art haben keinerlei Skrupel, ihre Gesinnung autoritär durchzusetzen; dem Liberalen muss aber eben dies aus Prinzip zuwider sein, denn es widerspräche dem Konzept der Freigeistigkeit, andere Leute seiner eigenen Denkart angleichen zu wollen.
Ein nicht geringer Teil der kollektivistischen Ideale wird in Deutschland unter dem Deckmantel von Gleichheit und Demokratie verkauft; es geht aber noch weiter, bis in die Details des Ästhetischen und Alltäglichen. Ich möchte mich daher auf ein Thema konzentrieren, wo die tiefen Gräben zwischen Italianità und Deutschtum offen zutage treten.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass viele Befürworter der Buntheit und „Diversity“ im Grunde die größten Spießer von allen sind. Gerade weil man den Müll trennt; weil man überall Windräder will; weil der „Atomkraft? Nein Danke!“-Aufkleber auf dem Auto prangt; weil es das Understatement dessen gilt, was „man sagen darf“ und was nicht; weil Bio gut ist und weil etwas gar nicht geht, kurz: Nazi ist. Schwarzweißmuster, die man durchgängig der Gegenseite unterstellt, aber eben in ihrer Anwendung den Grundstein einer Gemeinschaft bildet. Denkschemata der Kleingeistigkeit, die noch offenbarer auftreten, sehen wir uns ein uraltes Kampfthema zwischen Ausoniern und Germanen an.
Ich spreche von Mode.
Seit den alten Tagen der norditalienischen Seidenspinner, Tuchhändler und Damastweber ist Italien ein Hort der guten Kleidung. Mailand ist die Modestadt schlechthin. Symptomatisch und als bedeutendes Omen erscheint bereits die geographische Stiefelform des Landes.
Die Deutschen haben dagegen ein mentales Problem mit diesem Lebensbereich. In Italien fallen mir immer wieder Frauen auf, die vielleicht nicht in der obersten Liga der Attraktivität mitspielen, sich aber zu inszenieren wissen. Ein ausgefallenes Sommerkleid kann – verbunden mit erhabener Gangart – Grazilität und Eleganz erreichen. Durch Extravaganz sticht auch eine unscheinbare Person hervor. Die Italienerinnen legen dabei eine künstlerische Phantasie an den Tag.
Eine, die mir allerdings erst dann wieder auffällt, wenn ich in deutschen Fußgängerzonen junge Frauen in den Zwanzigern sehe, die in ihrem Kleidungsstill allesamt austauschbar wirken. Noch schlimmer: insbesondere jene, die denken, sie seien ausgefallen, hätten einen eigenen Stil oder seien „cool“ – wie diverse Subkulturen, deren jüngster Spross, die Hippster, bereits wieder abstirbt – sind in Wirklichkeit alles andere als „divers“. Trends nachzulaufen macht einen nicht individuell. Stil und Klasse schließt Originalität ein, die „passt“.
Um ein Beispiel zu nennen: in Deutschland scheinen junge Damen, wenn sie nicht im genannten Massenstrom schwimmen, derzeit ein großes Interesse zu besitzen, ihren Körper entweder mit Metall oder abstrusen Haarsträhnen zu entstellen. Auch merkwürdigste Modeartikel wie Kopfbedeckungen, Handtaschen et cetera gehören dazu.
Andererseits kann ich mich bis heute bei einer Museumstour an eine Besucherin erinnern, die mir vor allem deswegen im Gedächtnis blieb, weil sie einen sonderbaren Hut trug. Er war auffällig, kontrastierte auch mit der restlichen Kleidung. Aber: er stand der jungen Frau. Er machte sie interessant, verlieh ihr einen Hauch Mystik, ohne lächerlich oder bewusst provozierend zu wirken. Der Gesamteindruck harmonierte. Da war keine reine Lust am Auffallen, sondern eine Balance von Geschmack und Extravaganz – und das macht guten Stil aus.
Eine seltsame Mentalität bevölkert dagegen heute die deutschen Straßen, die jedwede Art der Diversität preist, solange sie sich bloß an die herrschenden, politischen Vorstellungen hält. Kleidung betonte früher den Unterschied der Geschlechter und fundamentierte ihre Identität; sie machte auch ohne Marken klar, welcher Gesellschaftsschicht man angehörte; heute befindet sich alles im großen Schwamm der Gleichmacherei, in der Jungen und Mädchen ihre Kleidungsstücke unmerklich tauschen könnten, und Mittelschichtssöhne mit unförmigen Jeans und Kapuzenpulli herumstreunen.
Dass eine Frau dagegen einen Rock tragen könnte, wirkt deplatziert, ja, grenzt an Ketzerei. Er bedeutete heute eine Revolution gegen dominierende Vorstellungen, die ich hier nicht ausbreiten möchte. Der Rock ist kein Kleidungsstück mehr, sondern politisch geworden; er ist nunmehr ein „Symbol“. Die Ästhetik spielt keine Rolle, wenn sie im Verdacht steht, reaktionär zu sein.
Zynisch gesagt: Andersartigkeit ist im Kollektiv strikt verpönt. Wer aus der Reihe tanzt, gilt als verdächtig. Gut gekleidete Menschen werden sofort der Angeberei bezichtigt; teure Kleidung gilt als Ausdruck von sozialer Ungleichheit; Frauen mit Röcken sind reaktionär, dumm oder sogar dazu „gezwungen“, diese zu tragen. Warum können nicht alle Menschen mit Kapuzenpulli, Jeans und Turnschuhen herumlaufen? Oder wenigstens so progressiv, dass sie sich die Haare blau färben, Frauen Stiefel, und Männer Röcke tragen?
Ich habe bereits während meiner Schulzeit in Deutschland dieses Programm am eigenen Leib gespürt, wenn ich wegen meiner Kleider aufgezogen wurde. Eine Erfahrung, die mich lange prägte. Gekleidet gemäß väterlicher Italianità musste man sich einige Sprüche gefallen lassen. Irgendwann ging ich dazu über, mich vielleicht nicht schlampig, aber doch eher zurückhaltender zu kleiden.
Dass ich dennoch immer noch einen eigenen Stil wahrte, merkte ich dann zu Universitätszeiten. Auch da eher unscheinbar, aber eben klassisch gekleidet. Studentinnen attestierten durchaus Eleganz. Auch, wenn das gar nicht meine Absicht war; es war für mich eben Normalität. Dass ich aber auch hier aus dem Bild fiel, ist mir bis heute bewusst; nur, als Student juckte mich das weit weniger denn als Schüler, da der kollektivistische Anpassungsdruck in diesen Lebensjahren weitaus geringer ausfiel.
Ganz abgesehen davon, dass ich sowieso als eigensinnig oder arrogant wahrgenommen wurde, und solcherlei Angelegenheiten dann auch keine Rolle mehr spielten. Ich bilde mir zumindest ein, immer ein „Original“ gewesen zu sein. Da ich auch gerne meine Meinung kundtat, die so gut wie nie dem Konsens entsprach, und Themen beackerte, die keiner nehmen wollte, hielt ich mich wenigstens in geistiger Hinsicht schon für eigenwillig genug.
Freilich kann ein Mischling das besser verstehen, als ein Vollblutitaliener wie mein Vater, dessen Berührungen mit Deutschland immer redundant blieben, wenn es nicht gerade das Bier betraf. Ich konnte ihm niemals diese Mentalität erklären; vielleicht wollte er sie auch nicht verstehen; vielleicht konnte er es nicht. So besuchte ich ihn einmal eben in jener Studienzeit, und es kam zu einem schicksalhaften Kleiderkauf, der so ziemlich alles zu diesem Thema zusammenfasste, was man zusammenfassen kann.
Anbei sei erwähnt, dass mein Vater sich auch noch in vorangeschrittenem Alter recht extravagant gab. Mit 70 trug er lilane oder purpurrotfarbene Jeans; sportliche Hemden mit irgendwelchen Aufdrucken von Polo-Spielen oder argentinischen Gauchos; und natürlich Schuhe in der Art der vorletzten Jahrhundertwende, die per Hand individuell angefertigt wurden.
Mein Vater mochte D’Annunzio. Freilich ohne über ihn irgendetwas wirklich zu wissen. Allerdings hatte er dessen Exilvilla in Gardone besucht, und sich besonders erstaunt über dessen Modegeschmack gezeigt. Ich bewunderte an D’Annunzio immer dessen Vitalität und den Anspruch, nicht nur Kunst zu schreiben, sondern sie selbst zu leben; mein Vater dagegen stets dessen Frauengeschichten, sowie dessen hunderte Paar maßgeschneiderte Schuhe und Kleider, die man bis heute besichtigen kann.
Als wir dazumal spazieren gingen, wollte mir mein Vater etwas kaufen; man mag sich nach den vorherigen Bemerkungen vorstellen, dass ich, zurückhaltend im Gemüt, solchen Anwandlungen eher aus dem Weg zu gehen versuchte, um den paradiesvogelartigen Auswüchsen zu entgehen. Mein Vater meinte darauf, dass ich mich viel zu klassisch, oder besser: langweilig kleide. Ich sei um einiges jünger als er, wirkte aber immer so ernst.
Da die Sache zu eskalieren drohte, machte ich ihm klar, dass man sich natürlich so oder so in Italien kleiden könne; liefe jemand in dem Aufzug meines Vaters am Gardasee herum, würde das kaum jemanden stören, im Gegenteil, die modeaffinen Italiener würden das wohl wertschätzen. Lilafarbene Hosen wären jedoch in Deutschland schon ein Grund, dass man ihn schief ansähe. Auch die extravaganten Schals, die mein Vater zu tragen pflegte, würden in Deutschland eher einen dummen Spruch nach sich ziehen, oder sonstiges Geplapper in Richtung Homosexualität (merkwürdigerweise gerade von den Leuten, die sich für Schwulenrechte einsetzten).
Ganz Analytiker und Historiker, der ich war, zählte ich ihm gegenüber auf, dass Extravaganz in Deutschland nichts Gutes, sondern eher etwas Verdächtiges sei; wer aus der Reihe tanzte, wurde eher gemieden. Im akademischen Milieu durfte man mit Sandalen und Pferdeschwanz rumlaufen, aber wehe, man legte sich eine Moncler-Jacke zu. Das sei kein Novum: schon die venezianischen Finalrelationen – den Abschlussberichten venezianischer Gesandte in Deutschland – zeigten in der Renaissance auf, dass die Italiener die schlechte Kleidung der Deutschen und deren fehlendes Modebewusstsein kritisierten. Auch Machiavelli notierte dies. Die Antworten der Professoren meiner Universität waren natürlich typisch: Stereotype, die man immer wiederholte, und noch vom römischen Geschichtsschreiber Tacitus stammten. Szenen, bei denen ich mit dem Kopf auf die Tischkante schlagen konnte, weil das kein Klischee, sondern bis heute gelebte Realität war. Aber das sollte man erst einmal den Deutschen erklären!
»Wenn du in Deutschland aus der Reihe tanzt, dann bedeutet das deinen sozialen Tod. Wenn du eine andere Meinung hast, meiden sie dich. Und wenn du dich auffallend kleidest, ob nun besonders elegant oder teuer – wirst du sanktioniert«, meinte ich damals mehr oder minder, und kam zum Schluss: »Wenn ich mir so etwas anziehen würde, wie du es mir rätst, würden mich 80% der Deutschen auf irgendeine Art und Weise ausgrenzen, ob aus Neid, Vorurteilen oder anderen Gründen.«
»Bleiben 20% übrig«, antwortete mein Vater selbstsicher, ganz Kaufmann, der er war. »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn 20% aller Deutschen meine Kunden wären.«
Ich bin nicht gewöhnt, rhetorische Duelle zu verlieren; daher prägen sich Niederlagen bei mir umso mehr ein. Ich habe dazumal nichts antworten können. Weil mein Vater jener Ausdruck italienischer Originalität und Ignoranz war, die ich vielleicht immer bewundern, aber nie erreichen würde. Bis zu dem Tag dachte ich immer, ein unverbesserlicher Sturkopf zu sein: eigensinnig, unbeirrbar, meiner Linie folgend und gegen den „Mainstream“. Für meinen Vater war ich aber nichts anderes als das, was ich Kommilitonen vorwarf: ein schwacher Mitläufer. Und das, obwohl ich bereits für deutsche Verhältnisse aus dem Rahmen fiel.
Erst da wurde mir wieder bewusst, wie stark ich mich in Deutschland sozialisiert hatte; und wie stark das anarchische, eigensinnige Element der Italianità damit kontrastierte. Für mich lag in seinen Worten auch zugleich eine urtümliche, männliche Selbstsicherheit, die heute mehr denn je vermisst wird; eine Souveränität, die nicht massenkompatibel sein will, sondern nach Ecken und Kanten sucht. Eine, die dem Lebensgefühl der heutigen Jugendlichen völlig widerspricht, die mehr als alle anderen Generationen (der globalen Facebookisierung sei dank) gefallen möchte, auf die Masse abzielt – oder zumindest auf die Mehrheit. Dass jede Eigenwilligkeit und Originalität sich bereits in Details äußert, viele aber keine Details mehr besitzen.
Mein Vater bleibt für mich bis heute in vielen Dingen ein einsamer Wolf; in seiner Meinung, seinen Gewohnheiten, seinen Wegen, seiner Lebensart. Zu letzterem gehörte auch die Mode.
Dagegen bin ich bis heute nur ein domestizierter Hund. Aber als Mischling unter reinrassigen deutschen Schäferhunden dann doch schon wieder zu unkonventionell…