Der Klang der Erinnerung

29. April 2016
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Synästhesie spielt in meinen eher literarisch angehauchten Werken eine bedeutende Rolle. Das Überkreuzen der Sinne untereinander ist Kernstück der Romantik. Üblicherweise betone ich dabei den Geruch; denn der olfaktorische Sinn hat heute zumeist seine Rolle eingebüßt, da Auge und Ohr herrschen. Alle unsere technischen Spielereien sind darauf ausgerichtet – zusammen mit dem Tastsinn. Der Duft – und im geistigen Sinne: der Duft der Erinnerung – spielt daher für Italo eine außerordentliche Rolle. Ähnliches gilt für Faustino, der Venedig in erster Linie mit dem Geruch der Heimat verbindet:

Er schritt aus der Dunkelheit, löste sich aus dem Schatten. Lichtschein fiel ihm nach, begleitete seinen Rücken. Ein Geruch lag in der Luft. Ein Geruch, den die Fremden lästig empfanden, Gestank nannten. Weil sie ihn nicht schätzten, nicht wussten, dass dieser der wohlige Geruch der Heimat war. Das Aroma von Salz, Fisch, Meer und Seegras in den Kanälen.
Der sommerliche Duft Venedigs.

Daneben existiert jedoch auch ein Klang der Erinnerung.

Es ist bezeichnend, wie unterbewusst viele Sinneseindrücke von uns bereits als Kinder wahrgenommen und gespeichert werden. So unterbewusst, dass man erst nach Jahren bemerkt, was einem fehlt, wenn man es dann hört. So einen „Klang der Erinnerung“ gibt es immer, wenn ich wieder in Italien bin:

Jeden Abend spielte die Taufkirche meiner Heimatgemeinde dieses Stück. Etwas verfrüht, nämlich eine Minute vor 20 Uhr statt punktgenau. Und jedes mal, wenn ich dieses bestimmte Stück, eben einen „Carillon“ höre, in seiner Verspieltheit und Heiterkeit, merke ich erst, wie und wann ich ihn in verschiedenen Situationen meines Lebens vernommen habe. Nicht der Schlag der Uhr, sondern das Glockenspiel bestimmt das Leben. Und nicht nur, dass dieses eine Spiel sich mir eingeprägt hatte, und etwas Vergleichbares in irgendeiner deutschen Stadt gehört hätte – selbst in Italien bin ich unzufrieden mit anderen Kirchen, die den Carillon zu langsam, zu leise oder sonstwie spielen, aber eben nicht so schön wie diese eine Kirche. „Campanilismo“ – Glockenturmmentalität – im wahrsten Sinne. Unsere Glocken sind die besten.

Oder wollen Sie etwa behaupten, dass diese lahme Ente so schön schlägt wie San Michele? Das schläft ja beinahe bei 1:00 ein.

Und was soll das sein? Madonna della Pace ist größer als San Michele, trifft aber oftmals den Ton nicht einmal richtig. Stümper! Genau so wie diese viel zu helle Version. Das schrillt ja in den Ohren:

Noch einmal. So, und nicht anders muss sich das anhören:

Heimat ist da, wo das Ave Maria de Lourdes richtig bimmelt.

Addendum: Das „Ave Maria de Lourdes“ ist ein bekannter Glockencarillon, basierend auf dem großen Lourdeslied (hier in deutscher Version).

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