Jetzt kommt die Stunde des „wahren”, „edlen”, „unverfälschten”, „humanen” Sozialismus

15. März 2016
Kategorie: Europa | Freiheit | Fremde Federn | Italianità und Deutschtum | Medien | Non enim sciunt quid faciunt | Philosophisches

Aus dem Vorwort von „Kreide für den Wolf“ von Roland Baader.

Im Westen begann die Wende – zu Beginn der achtziger Jahre – relativ unspektakulär mit dem Einschwenken der Sozialisten Mitterrand (Frankreich) und Gonzales (Spanien) auf einen sogenannten „realpolitischen” Kurs; im Osten – ebenfalls vor einem runden Jahrzehnt – mit der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in Ungarn, Jugoslawien und China. Die Rinnsale der Rückwärtsrevolution schwollen alsdann in der zweiten Hälfte des Dezenniums in Ungarn und Polen zu breiten Bächen an und haben, zwischenzeitlich zu einem reißenden Strom geworden, nun den Eisernen Vorhang zerrissen und die Mauer durch das Herz Deutschlands und durch die Herzen der Deutschen sturzflutartig hinweggefegt. Überall in Osteuropa stürzten und stürzen die „Fürsten auf dem Thron der Lüge” im Sturm der Freiheit. Schnell schossen die Schlagzeilen aus dem westlichen Blätterwald: „Kapitalismus schlägt Sozialismus”, „Der Sozialismus ist am Ende”, „Sozialismus vor dem Bankrott”. Einige Autoren hatten dieses Ende längst kommen gesehen: „Die demokratische Weltrevolution” hieß das 1987 erschienene Buch des Staatsrechtlers Professor Martin Kriele, „Sozialismus, Ende einer Illusion” eine schweizerische Publikation 1989, und ein amerikanischer Autor ging sogar so weit, mit dem Triumph der westlichen Ideen „über alle konkurrierenden Ideologien” das „Ende der Geschichte” vorherzusagen. Tatsächlich scheint es so, als habe der Sozialismus nicht nur realpolitisch, sondern auch „wissenschaftlich”-theoretisch restlos abgewirtschaftet. Stimmt es also, daß der Sozialismus am Ende ist?

Meine Antwort: Obwohl alles an dieser Aussage faktisch wahr ist, ist nichts davon wahr in den Köpfen und Herzen der Menschen. Man schaue nur genau hin: Da gewannen in Griechenland die Sozialisten Papandreous trotz der Skandale, Schiebereien, illegalen Waffengeschäfte und finsteren Machenschaften ihres vor Gericht stehenden Führers bei den Wahlen Anfang November 1989 noch Stimmen hinzu; da wählte die jüngste Nation der Erde: das in die Unabhängigkeit entlassene Namibia – zu Beginn des November 1989 die marxistische Swapo mit überwältigender Mehrheit zur Regierungspartei; da redeten alle Köpfe der Oppositionsgruppen in der DDR von einem „neuen”, einem „reformierten”, „besseren” Sozialismus; da posaunte IG-Metall-Steinkühler angesichts der Massenflucht unserer Landsleute über Ungarn, Polen und die CSSR: „Der Bankrott des real existierenden Sozialismus ist nicht identisch mit dem Bankrott des Sozialismus”; da frischte die in den Landtags- und Kommunalwahlen 1989 rasant zulegende SPD ihre Parteiprogramme mit sozialistischen Uralt-Parolen auf; da plädierte Alexander Dubcek, Vater des Prager Frühlings, bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bologna für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz”; da belehrte der saarländische Ministerpräsident, Oskar Lafontaine, (in einer politischen Fernseh-Runde anläßlich des Sturzes Erich Honeckers) sein Millionenpublikum: „Demokratie und Sozialismus sind eine Tautologie, denn Sozialismus ist ohne Demokratie gar nicht möglich”, wobei Altkanzler Schmidt sich beeilte, seinem Parteigenossen eifrig zuzustimmen; und zur Krönung des denkwürdigen Fernsehtages mahnte SPD-Vogel am Abend: „Auch an diesem Tag müssen die Verdienste Erich Honeckers gewürdigt werden.”

Doch dem nicht genug: Erschienen den Medien noch einige Wochen vorher die „kapitalistischen” Kriminalitätsraten in Los Angeles als wesentlich aktueller und wichtiger als das Niederwalzen der Freiheitsregung in China und die Dorfvernichtungspolitik des neofeudalistischen Popanz des Schreckens, Ceausescu, so war in den entscheidenden Wochen des Oktober und November 1989 in ungezählten Gesprächsrunden auf den Bildschirmen nicht ein einziger namhafter Wirtschaftswissenschaftler der freien Welt zu sehen. Während Wendehälse und Pfarrer, Dichter und Konzertmeister, Künstler und Schauspieler, Hausfrauen und Schüler ihre peinliche Schimmerlosigkeit in Hunderten von Interviews über die wirtschaftliche Zukunft des östlichen Deutschland zum besten gaben, hatte man sogar Professor von Berg in den Senkel des Schweigens gestellt. Der Ex-DDR-Wirtschaftswissenschaftler, der seine Bekehrung zum Marktwirtschaftler so freimütig und überzeugend dargestellt und – in einer Sendung zu Beginn der Ereignisse – den Sozialismus mit einem vernichtenden Verbalschlag ausgeknockt hatte – war fürderhin keine Einladung mehr wert. Und auch den tapferen Journalisten Gerhard Löwenthal dürften wir fürs nächste wohl gesehen haben. In einer Talkshow am 10. November 1989, am Tag nach der deutschen Freiheitsnacht, in der die Menschen aus Ost- und West-Berlin zum ersten Mal nach 28 Jahren wieder durch die Mauer gegangen waren, an jenem welthistorischen, überwältigenden Tag, da die Mauer zu fallen begonnen hatte, wurde Löwenthal – nach seiner Bemerkung, man möge ihm einen einzigen Quadratkilometer auf dem weiten Erdenrund zeigen, wo der Sozialismus je funktioniert habe – mit Gift und Galle überschüttet und mit Haßtiraden und Geschmacklosigkeiten niedergebrüllt. In der gleichen Talkshow konnten wir vom Schriftsteller Gregor von Rezzori erfahren, daß die Bundesrepublik nur deshalb eine soziale Marktwirtschaft sei, weil sozialistische Ideen sie dazu gemacht hätten. (Wir werden noch erleben, was die aus der Ex-DDR herüberschwappenden „Ideen” aus unserer Marktwirtschaft machen werden, und wieviele Hundert Milliarden uns der Versuch kosten wird, jenen Ideen-Lieferanten den größten Offenbarungseid der Weltgeschichte zu ersparen.)

Der Sozialismus am Ende? Nein, Freunde: Niemand ist weiter von der Realität entfernt als jene, die glauben, durch den Bankrott der östlichen Herrschaftssysteme liege der Sozialismus in Agonie. Ganz im Gegenteil: Im Gewand des Reformators, des Erneuerers, des vom Stalinismus „gereinigten”, in der Schnell-Waschanlage mit Glasnost und Perestroika gewachsten, von den Betonköpfen befreiten Edel-Erlösers taucht er im neuen Cherub-Gewand wieder auf, gewinnt er durch das theatralische Ablegen seiner Stasi- und Kalfaktor-Fratze, durch das Überziehen einer demokratischen, diskussionsfreudigen und pluralistischen Maske erst so richtig an charismatischer Heilsaura. Jetzt, da er die Maschinenpistole, die Spritze des Gehirnwäsche-Psychiaters, die Tretminen und Schießanlagen, die Elektro-Foltergeräte und den Psychoterror der Einheitslüge ablegt – gezwungenermaßen ablegen muß –, jetzt kommt erst seine Stunde: Jetzt kommt das Speichellecken der „Wohlgesinnten”, das ekelhafte Bekenntnis der Neurenegaten, die Beschwichtigungsformel der „Bedächtigen”, die Medien-Seelenmassage der Flagellanten und Erneuerer. Jetzt kommt die Stunde des „wahren”, „edlen”, „unverfälschten”, „humanen” Sozialismus.

Es kommt – für alle, die es immer noch nicht kapiert haben – die Stunde des Sozialismus, nicht seiner Niederlage. Nur: wie er faktisch aussehen soll, der gute und echte, das wissen seine Priester und Gläubigen halt nicht zu sagen. Der russische soll‘s nicht sein, und nicht der chinesische, nicht der rumänische oder polnische, nicht der bulgarische oder jemenitische, nicht der ugandische oder moçambique‘sche, nicht der äthiopische und nicht der afghanische, nicht der kubanische und nicht der nicaraguanische. Aber welcher dann in Dreiteufels Namen?

Tja, wer so fragt, der hat eben noch nicht das mystische Stadium der Einweihung erreicht, denn – so ein Lehrer meiner Tochter nach dem 9. November – „er (der Sozialismus) ist ja noch im zarten Jugendalter. Schließlich ist er erst siebzig Jahre alt, und als der Kapitalismus noch so jung war, da gab‘s noch Kinderarbeit!”

Über die schrecklichen Irrtümer und Lügen, die in diesem Satz stecken, und mit denen unsere Jugend verpestet wird, werden wir noch zu reden haben. An dieser Stelle nur ein grober Keil auf den groben Klotz: Als die sozialistische Revolution so jung war wie die Industrielle Revolution, da endete bereits ihr erster Gehversuch mit vierzehn Millionen Toten (Zwangskollektivierung), dem größten Massenmord der Menschheitsgeschichte!

Es ist ja verständlich, daß die vom Sozialismus pathologisch Infizierten im Westen ihn nun aus Enttäuschung über die „Blamage”, die er sich jüngst im Osten unseres Vaterlandes eingehandelt hat, in rasender Wut verteidigen. Weniger verständlich aber ist, daß nahezu alle Menschen zumindest an die erste Hälfte des Steinkühler-Satzes (in: „Metall” vom September 1989) glauben: „Die zutiefst humanistische Idee des Sozialismus wird durch staatsbürokratische Systeme pervertiert”, zumindest also an die Mär von der „zutiefst humanistischen Idee”. An sie glauben alle auf Gorbatschow hoffenden Sowjetmenschen, ebenso wie alle auf Solidarnosc setzenden Polen; an sie glauben unsere Landsleute in der Ex-DDR ebenso wie die meisten Bürger der westlichen „kapitalistischen” Staaten, unsere Intellektuellen ebenso wie unsere Politpfaffen (Pfarrer Heinrich Albertz: „Was sich in meiner Kirche getan hat, ist sensationell. Aus der deutschnationalen Kirche von einst ist eine Institution geworden, an der gemessen die SPD eine rechtsreaktionäre Partei ist!”), die Medien-Clique genauso wie ihre permanent vor die Kameras gezerrte Prominenz-Schickeria, ja an sie glaubt sogar die Mehrzahl derer, die „dem System” durch Stacheldraht und Minenfelder entkommen sind. Und auch wenn der „real existierende” Sozialismus nirgendwo auf dem weiten Erdenrund funktioniert (außer man versteht unter „funktionieren” Bankrott, Hungertod und Gulag), so sind die modernen Alchemisten doch davon überzeugt, daß man aus Dreck Gold machen könne (sprich: aus dem theoretisch reinen edlen, humanen – einen ideengetreuen „neuen real existierenden”); man müsse halt nur die richtige „Mischung” finden und dürfe sich nicht stur an ein untaugliches Konzept klammern. Die einfache alchemistische Formel: Mehr Demokratie, Klartext: Alles bleibt beim alten; man redet jetzt nur darüber, um „etwas” zu verändern, wobei man eben herausfinden müsse, was das „etwas” sei. Denn gefunden werden müsse es, das „etwas”, weil man nämlich den „jetzt” real existierenden Sozialismus nicht mehr wolle, aber den schrecklichen, den „kalten” und „unmenschlichen” Kapitalismus auch nicht.

Merke: Was am Kapitalismus „kalt” und „unmenschlich” sein soll, das ist die Tatsache, daß er den Menschen keine Illusionen vorgaukelt von einem irdischen Paradies der Edlen, der „solidarischen” und „neuen” Menschen, sondern daß er sie so akzeptiert wie sie sind: egoistisch und hilfsbereit, verschlagen und offen, dumm und gescheit, faul und fleißig, nüchtern und verträumt. Was am Sozialismus „menschlich” sein soll, das ist in Wirklichkeit nur die Illusion, der Irrtum und der Wahn. Diesseits und jenseits des Wahns aber ist stets er es, der Sozialismus, der kalt und unmenschlich die Fratze der Tyrannei, den Stehkragen der Spitzel, die Hungerödeme des Elends und die Stiefel der Gefängniswärter tragen muß.

Der Wahn aber lebt fort, durch alle Gitterstäbe hindurch; und auch die fettesten Maden im kapitalistischen Speck haben im tiefsten Herzen nur ein Lied: die Internationale.

Dann gibt‘s da noch jene Alchemisten, die hoffen, daß beim vergeblichen Dreck-in-Gold-Verfahren wenigstens Porzellan entstehen möge – wie weiland bei Böttger –, also jene „Mischform” aus einer „Annäherung der Systeme”, von der man sich erhoffen könne, sie sei nur ein bißchen schwanger und werde deshalb weder einen sozialistischen Krüppel noch einen kapitalistischen Homunkulus gebären. Aber dieses Porzellan ist zerbrechlich; es verschönt eine Weile die Tafelfreuden, und beim nächsten Stolperer ist die Pracht dahin. Auch Porzellan ist nicht Gold, sondern nur Dreck, wenn auch etwas haltbarer und ansehnlicher. Jene „mittleren Wege” – wie der jugoslawische, der (bis vor kurzem) ungarische oder portugiesische – haben in die gleiche Misere geführt wie die „rein” sozialistischen, wenn auch auf längeren und weniger steinigen Wegen. Auch hier gilt das alte DDR-Sprichwort: Der Sozialismus ist der längste und mühseligste Umweg vom Kapitalismus zum Kapitalismus. Noch treffender hat der polnische Finanzminister Balcerowicz den faulen Kern des „dritten Weges” herausgeschält (in einem Gespräch mit der Zeitschrift „Polityka” vom Dezember 1989): „Den dritten Weg zwischen Sozialismus und freier Marktwirtschaft mag es theoretisch geben, aber Polen ist zu arm, um ihn zu gehen. Mögen das reichere Länder tun.”

Man könnte an einen aktuellen Text denken, der im Rückblick zeigt, wie es dazu kommen konnte, dass eine angebliche Mitte-Rechts-Partei Deutschland nunmehr in den verdeckten Sozialismus führt, ein Zustand, der nicht nur in alternativen Medien bereits als „DDR 2.0“ bezeichnet wird. Nein, Roland Baaders Text stammt aus dem Jahr 1991, also kurz nach dem Mauerfall und damit aus dem Jahr 1 des Ministerwerdens der Angela Merkel.

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