Bleiben wir einen Moment bei den langen Texten. Man muss kein Sprachphilosoph sein, um zu verstehen, dass das Schreiben von essaylangen Diskursen das Schreib- und Denkvermögen schult, und dass es eine wechselseitige Beziehung mit dem gibt, was ich denke, und dem, was ich schreibe. Orwell hat das ausführlich in 1984 beschrieben. Die Sprache ist die Grenze unserer Welt. Wer viel liest und viel schreibt, der hat prinzipiell einen weiteren geistigen Horizont, einfach, weil er seinen Kopf schult wie ein anderer seine Muskeln. Es geht leichter von der Hand, 2.000 Worte täglich zu schreiben, wenn man dies seit Jahren tut. Jemand, der außerhalb der allernötigsten Anforderungen nie schreibt und nur selten liest, wird damit logischerweise größere Schwierigkeiten haben und es bei kleineren, einfacheren Botschaften bleiben lassen.
Demnach habe ich auch eine ziemlich voreingenommene Meinung dazu, wenn Leute auf 140 Zeichen getrimmt werden sollen. Italo hat es auf den Punkt gebracht. Wir amputieren unser geistiges Vermögen. Bei ICQ habe ich niveauvollere und eloquentere Dispute in den Jahren 2003-2007 gehalten als sie mancher Facebook „Habe Hunger. Was soll ich essen?“-Kommentator jemals erleben wird. Statt Diskussionen beherrschen Smileys, Links und Einzeiler mit ungesund vielen Ausrufezeichen oder mannigfaltigen Pünktchen das Schriftbild, ergänzt um belanglose Links zu noch belangloseren Tönen oder Videos. Das Smartphone bringt ein weiteres Unglück dazu: auf einem Smartphone gibt sich nämlich kaum jeman die Mühe, mal nachzudenken und einen stichhaltigen Text zu verfassen; stattdessen glauben viele, der Internetschriftverkehr sei eine Art bebilderte SMS.
Für mich war das Internet auch immer ein Glück, weil man Zeit hatte, sich seine Antwort genau zurechtzulegen und zu überdenken. Man ist allein durch die Tastatur dazu gezwungen. Andere dagegen sehen diese Barriere nicht, und tippen das einfach ein, was sie auch sagen würden. Man sehe sich nur einmal die Tweets und Facebook-Einträge von Persönlichkeiten wie Klaus Kleber, Til Schweiger und Co. an, deren Beiträge oft auf Grundschulniveau daherkommen. Da werden Worte nicht einmal mit Punkt abgekürzt, manchmal steht dort nur ein einzelner Buchstabe. Aber Hauptsache: ich kann mich der Welt mitteilen!
Und da kommen wir zum nächsten Problem der Unhöflichkeit. Höflichkeit entsteht primär aus dem Umgang mit anderen Personen. Diskussionsforen hatten ihren Namen, weil es zumindest meistens um die Sache, das Thema ging, also eben: die Diskussion. Facebook und Twitter funktionieren jedoch per se anders: sie sind Plattformen des Individuums, einsame Inseln im Meer der Masse, wo jeder Schiffbrüchige um Aufmerksamkeit schreit. Es existiert nicht „das“ vorgegebene Thema. Das Thema ist man selbst. Wer aber sich selbst gewissermaßen als der Grund ansieht, um auf diese Dienste zurückzugreifen, sieht die anderen natürlicherweise nur als Publikum, als graue Masse an, die das eigene Leben beklatschen soll. Diskurs setzt Respekt voraus, Austausch von Meinungen führen zwangsläufig dazu, dass ich mich mit meinem Diskussionsteilnehmer auseinandersetze; bei FB & Co. geht aber das Gespräch nur in eine Richtung. Es ist ein Treppenwitz der Internetgeschichte, dass diese Plattformen als Soziale Netzwerke bezeichnet werden, obwohl sie in ihrer klassischen Sender-Empfänger-Funktion eher den Namen a-soziale Netzwerke verdient hätten.
Wenn der Narzisst die Welt nur um sich selbst kreisen sieht, ist es doch völlig logisch, dass er die Welt für belanglos, ja, sogar von sich selbst abhängig sieht. Menschen sind schwach, verführbar, eitel, und neigen dazu, sich abheben und selbstdarstellen zu müssen. Das ist bei vielen veranlagt. Und die fehlende Gruppe, die der totalen Individualität weicht, die schiere Größe und Weite dieser Plattformen mit ihrer Grenzenlosigkeit verführen dazu, sich selbst auf seiner Insel als Nonplusultra anzusehen.
Der Vorwurf der Medien führt daher auch deswegen ins Leere, weil 90% dieser Journalisten gar kein Internet außerhalb dieser Netzwerke kennt. In den verbliebenen Foren, in Blogs, per Email und auch auf diesem Diarium hier habe ich mir zumindest einen kleinen Teil jener Welt von 2003 gerettet, wo man noch angenehm miteinander parlieren kann. Dass ich im allgegenwärtigen Du dieser Welt immer noch das Sie pflege, bis mir andere das Du angeboten haben, ist für mich eine Form von Höflichkeit und Respekt; und nicht zuletzt macht sie klar, dass ich mit FB & Co. so wenig wie möglich zu tun haben will, weil solche Dienste korrumpieren können. Daneben existiert noch eine Vielzahl anderer Seiten, wo sich ich in den Leserkommentaren immer wieder Restspuren eines solchen Gefühls wiederfinden lassen.
Nur, weil die Quantitätspresse sich auf dem Sklavenmarkt in der miesesten Ecke der Hafenstadt Facebook herumtreibt, heißt das ja nicht, dass dies das Problem der restlichen Netzgemeinde ist, die weiterhin in ihren Refugien lebt.
Ich verweise demnach nochmal auf das Traktat Einsamkeit im kommunikativen Gebrabbel