Sunniten und Schiiten: Ein Dreißigjähriger Krieg? (III)

7. Januar 2016
Kategorie: Historisches | Machiavelli | Medien | Sunniten und Schiiten: Ein Dreißigjähriger Krieg?

Dass der Iran und Saudi-Arabien keiner rein machtpolitischen, sondern auch einer religiösen Agenda folgen, wird daran deutlich, dass der Iran noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts ein freundliches Verhältnis zum Erzrivalen pflegte. Dabei sei unterstrichen, dass der Iran im Kalten Kriegen nicht nur moderner, sondern auch toleranter war als Saudi-Arabien: der Iran erkannte den Staat Israel bereits an, lange bevor andere muslimische Staaten nachzogen. Der Schah schickte Briefe an König Faisal, in denen er diesen zur Modernisierung seines Landes aufforderte. Dieser Wechsel ist folgendermaßen als Anekdote überliefert:

Der iranische Schah an König Faisal:
Please, my brother, modernize. Open up your country. Make the schools mixed women and men. Let women wear miniskirts. Have discos. Be modern. Otherwise I cannot guarantee you will stay on your throne.

Der saudische König Faisal an den Schah:
Your majesty, I appreciate your advice. May I remind you, you are not the Shah of France. You are not in the Élysée. You are in Iran. Your population is 90 percent Muslim. Please don’t forget that.

Es war dann auch zuletzt der Schah, der von den radikalen Islamisten um Ayatollah Chomeini 1979 gestürzt wurde, und das bis heute bestehende Mullah-Regime errichtete. Dieser Umsturz ist allerdings symptomatisch für die gesamte muslimische Welt des Nahen und Mittleren Ostens, wo die Säkularisierung und „Verwestlichung“ auf ganzer Linie gescheitert ist. Zu Zeiten des Schahs definierte sich der Iran als moderner Nationalstaat; in dem Moment, da er sich schiitisch-islamisch definierte, war die neuerliche Rivalität mit Saudi-Arabien unumgänglich.

Dazu sei gesagt, dass Saudi-Arabien dagegen nie säkulare-moderne Ansätze hatte. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man denkt, 1979 sei das Fanal für die heutigen Entwicklungen. In Wirklichkeit war das starrköpfigste und islamischste Regime immer dort, wo auch die Heiligen Stätten Mekka und Medina liegen.

Denn tatsächlich fand der Wendepunkt im Iran weitaus früher statt. In den 50er Jahren hatte der Iran eine frei gewählte, demokratische Regierung nach westlichem Standard. Damals gewählter Premier war Mohammad Mossadegh. Der wurde durch eine MI6/CIA-Operation gestürzt, weil der Iraner es gewagt hatte, die eigenen Ölquellen verstaatlichen zu wollen, was nicht im Interesse der angelsächsischen Besitzer war. Stattdessen unterstützten die Amerikaner die Einsetzung des Schahs, bis dieser 1979 gestürzt wurde. Schon dazumal war die Regierung des Schahs höchst umstritten.

Zu Beginn des Kalten Krieges einte alle Staaten des Nahen Ostens eine gewisse Aufbruchsstimmung in „modernere“, nationalere Zeiten. Der ägyptische Präsident Nasser ist ein Paradebeispiel. Statt der islamischen Identität wurde eine „nationale“ beschworen: als Ägypter, als Syrer, als Iraker etc. Die Bewegung des Panarabismus hatte großen Zulauf; es blühte die Idee einer großen arabischen Nation im Nahen Osten. Auch die palästinensische Unabhängigkeitsbewegung begann schließlich nicht als islamistischer Terror, sondern als Befreiungsfront mit nationalistischem Terror.

Dieser „westliche“ Weg hatte deswegen Zulauf als Modell, da man sich durchaus der „Rückständigkeit“ in ökonomischer und politischer Hinsicht bewusst war. Man wollte die Rezepte des Auslands kopieren, um wieder selbst an Bedeutung zu gewinnen; entweder mit amerikanischer oder sowjetischer Hilfe. Die Amerikaner hatten dabei als wichtigste Schachfiguren die Türken, Israelis und Iraner aufgebaut; es war daher folgerichtig, dass die Araber in der Mitte sich mehrheitlich auf sozialistisch-sowjetische Hilfe verließen. So entstand beispielsweise der Assuan-Staudamm mithilfe sowjetischer Ingenieure, und die Baath-Partei Saddam Husseins im Irak und Hafiz al-Assads in Syrien beruhte auf laizistisch-sozialistischen Fundamenten.

Die Nahost-Staaten waren daher Stellvertreter im globalen Kalten Krieg. Doch gerade die Intervention ausländischer Mächte war ein Grund für ihren Untergang. Die Niederlagen gegen das amerikanisch gestützte Israel schürten Selbstzweifel, ob der Nationalismus wirklich das Allheilmittel war. Der Sturz Mossadeghs war nur ein Beispiel, bei welchem die Amerikaner zeigten, dass ihnen nicht Demokratie oder nationale Selbstbestimmung, sondern imperialer Einfluss wichtiger war. Aufgrund der Künstlichkeit der im Nahen Osten entstandenen Staaten lebten verschiedene Konfessionen, Religionen und Ethnien in Vielvölkerstaaten, die nur durch die Armee zusammengehalten wurden.

Die autoritär agierenden Herrscher wussten um die Fragilität ihrer Kunststaaten und bevorzugten insbesondere Minderheiten an der Staatsspitze, um nicht von der Mehrheit gestürzt zu werden. Divide et Impera nach altem Muster, wie es schon die Briten in ihren Kolonien praktiziert hatten. Im mehrheitlich schiitischen Irak waren alle wichtigen Positionen von einer sunnitischen Clique besetzt; Saddam Husseins Vertreter Tarek Aziz war chaldäischer Christ. Im mehrheitlich sunnitischen Syrien herrschten dagegen die alawitischen al-Assads; die Alawiten gelten als schiitische Abspaltung. Auch hier hatten Christen und andere Minderheiten bedeutenden Einfluss.
Umso verständlicher, dass gerade heute diese Minderheiten den Rachegelüsten zum Opfer fallen.

Dass die Staaten aber nun einmal so stehen, wie sie heute stehen, ist auf die britische und französische Mandatszeiten zurückzuführen, als die Kolonialmächte die Grenzen dieser Staaten teils willkürlich zogen. Im Osmanischen Reich hatten diese Territorien gewisse Autonomien besessen; die neuen Herren zogen dagegen ihre Grenzen nach eigenen Interessen. Einzig im Libanon versuchten die Franzosen, einen mehrheitlich christlichen Staat zu schaffen, was allerdings aufgrund dessen fragmentarischer Zusammensetzung aus maronitischen, orthodoxen und katholischen Christen, sowie Sunniten, Schiiten und Drusen von Anfang an ein Hasardeurstück war. Der Libanon war daher mit seinem fürchterlichen Bürgerkrieg, der die ehemalige „Schweiz des Orients“ zum Armenhaus machte, das Vorspiel des heutigen Großkonflikts. Es ist mal wieder bezeichnend, dass diese – ebenfalls von außen durch Syrien, Israel und Palästinenser – hereingetragene Katastrophe als Vorbote völlig ausgeklammert wird.

Im echten Dreißigjährigen Krieg gab es interkonfessionelle, aber keinerlei interreligiösen Auseinandersetzungen; ethnische Konflikte, die das heutige Chaos im Morgenland bestimmen, sowie Kriege zwischen Clans und ethnischen Minderheiten sind diesem Krieg des 17. Jahrhundert völlig unbekannt. Gerade an diesem entscheidenden Punkt hinkt der Vergleich wieder ungemein. Das Motto, das im Reich das konfessionelle Gefüge prägte – cuius regio, eius religio – ist hier oft umgekehrt. Noch heute herrscht in Bahrein eine sunnitische Familie über eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung.

Die oben erwähnte Einmischung der Amerikaner und der SU in interne Angelegenheiten, der Misserfolg der panarabischen Bewegung, die Niederlagen gegen Israel und die Präsenz von US-Truppen im Land der Heiligen Stätten führte zu einem allgemeinen Ohnmachtsgefühl – nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Eliten. Bald schon bereute man die eigene Selbstaufgabe. Weder Osten noch Westen schienen die Antwort zu haben. Unter diesem Eindruck verstärkten sich radikale islamische Strömungen, insbesondere im Herzland des Islam. In Saudi-Arabien hatte sich bereits im 18. Jahrhundert die Wahhabiten gebildet, eine radikale Spielart der Sunna. Seit der Gründung der saudischen Herrschaft standen sie dem Königshaus sehr nahe und fanden reichhaltige Unterstützung.
Die Wahhabiten selbst bezeichnen sich nur als Sunniten – oder als Salafisten.

Dieser neue Islamismus wurde an den Universitäten und Koranschulen vorbereitet und fand bald neue Anhänger. Ziele waren (und sind) die Wiederaufrichtung eines islamischen Großreichs nach Vorbild der ersten Kalifen; man kann dies auch als Antwort auf den gescheiterten Panarabismus und die ausländische Vormundschaft verstehen. Zum ersten Mal kamen diese neuen Gotteskrieger in Afghanistan zum Einsatz, wo sie den sowjetischen Einmarsch in den 80er Jahren aufhalten sollten – mit finanzieller Unterstützung der amerikanischen CIA.
Dass die Islamisten bereits damals nicht nur „Tod der Sowjetunion“, sondern auch „Tod Amerika!“ riefen, ignorierte man damals noch.

Weit mehr als das Ayatollah-Regime in Teheran kann diese salafistische Re-Islamisierung der muslimischen Welt als Reaktion auf die ausländische Intervention und Dominanz, sowie als Initialzündung jenes Konfliktes verstanden werden, der heute immer greifbarer und offensichtlicher wird. Denn der Iran hat – trotz aller Medienpropaganda – seit 40 Jahren keinerlei Anzeichen zur Welteroberung oder zur Israelvernichtung gezeigt, von ein paar lauten Brüllereien und viel Geschwätz abgesehen. Dafür fehlt dem schiitischen Paria in einer mehrheitlich sunnitischen Welt auch einfach der Rückhalt. 90% der Muslime sind Sunniten.

Die radikalen Islamisten dagegen, die seit den 80ern die Koranschulen und Universitäten infiltriert haben, und die junge Generation für sich gewinnen, deren Großväter noch im nationalen Begeisterungssturm die „Modernisierung“ begrüßt hatten – gewannen im Laufe der letzten 30 Jahren nicht nur einen bedeutenden physischen Zulauf, sondern auch bald eine „kulturelle Hegemonie“, wie es der Marxist Gramsci beschrieben hätte.

Raum für diese gewalttätige Expansion gaben wieder einmal ausländische Eingriffe. Am bedeutendsten war der amerikanische Angriffskrieg im Irak 2003, der ein fragiles Staatsgefüge in Chaos und Bürgerkrieg stieß. Die ersten, die danach für Probleme sorgten, waren nicht etwa die schiitischen Ayatollahs und die ihnen zugehörige Bevölkerungsmehrheit, sondern die sunnitische Minderheit, die um ihren Status im neuen Irak fürchtete. Die Attentate gingen zumeist von Sunniten aus und waren gegen Schiiten und Christen gerichtet. Das chaotische Zweistromland wurde bald zum perfekten Trainingslager für die Islamisten, die durch den Einmarsch der Amerikaner im Irak und Afghanistan ihre Ideologie mehr denn je bestätigt sahen. Dass hier der national-säkulare Irak Saddam Husseins von islamistischen Fundamentalisten beerbt wurde, kann symbolisch für den Wechsel der Ideologien im Orient stehen. Ähnliches wiederholte sich in Libyen, wo Engländer, Franzosen und Amerikaner erneut eingriffen. Und in Syrien, wo die Amerikaner ganz offen islamistische Gruppen unterstützten, wie sie es schon in den 80ern in Afghanistan taten.

Bleibt nur die Frage: was hat das alles mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun?

So gut wie nichts. Es ist überhaupt nicht vergleichbar. Der Dreißigjährige Krieg kannte keine ethnischen Konflikte; er kannte auch keine fragilen Kunststaaten, deren Bruch zu offenem Chaos führte; ihm waren Umstürze durch Geheimoperationen unbekannt; und er besaß keine Konfession radikaler Terroristen, die das Gemeinwesen und die europäische Außenpolitik vor offene Fragen stellte. Keine Parallelen, nirgends.

Außer, wir setzen Amerika mit dem frühneuzeitlichen Frankreich gleich, das seinen Nachbarn nicht in Frieden leben lassen wollte, weil es um eigene Machtvorteile fürchtete. Oder wir verweisen darauf, wie Frankreich Dänemark gegen das Reich anstachelte, ähnlich wie es die Amerikaner mit ihren Spielfiguren taten. Oder wir verweisen auf einen direkten Einmarsch ohne Kriegsgrund wie bei Frankreichs Invasion im Jahr 1635 und Amerikas Angriffskrieg im Jahr 2003.

Allerdings ist ja nun imperialistisch-machiavellistische Politik nichts, was nur den Dreißigjährigen Krieg auszeichnen würde.

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