Vom Kreislauf der Staaten

26. November 2015
Kategorie: Fremde Federn | Historisches | Machiavelli | Philosophisches

Machiavelli, Geschichte von Florenz, Buch 5:

In ihrem Kreislauf pflegen die Staaten von Ordnung zur Unordnung überzugehn, um dann von der Unordnung zur Ordnung zurückzukehren. Denn da die Natur den menschlichen Dingen keinen Stillstand gestattet, so müssen sie notwendig abwärts steigen, nachdem sie den Gipfel der Vollkommenheit erreicht haben, wo sie nicht ferner aufwärts zu steigen vermögen. Sind sie nun herabgestiegen und durch Zerrüttung aufs tiefste gesunken, so müssen sie, da ferneres Sinken unmöglich, notwendig wieder aufwärts steigen.

So in stetem Wechsel geht es abwärts zum Bösen, aufwärts zum Guten. Denn Kraft zeugt Ruhe, Ruhe Trägheit, Trägheit Unordnung, Unordnung Zerrüttung, wie hinwieder aus der Zerrüttung Ordnung entsteht, aus der Ordnung Kraft, aus der Kraft Ruhm und Glück. Darum haben verständige Männer beobachtet, daß die Wissenschaften der kriegerischen Tapferkeit folgen, und in Staaten und Städten erst Feldherren auftreten, dann Philosophen. Denn wenn gut und tapfer geführte Waffen Sieg gebracht haben, der Sieg Ruhe, so kann der kriegerische Mut durch keine ehrenvollere Friedenskunst geschwächt werden, als durch die Wissenschaften, noch kann die Entwöhnung vom Kriege mit größerer und gefahrvollerer Täuschung bewirkt werden, als durch diese. Dies sah Cato sehr wohl ein, als die Philosophen Diogenes und Carneades als athenische Abgesandte zum römischen Senat kamen. Da dieser bemerkte, wie die römischen Jünglinge ihnen voll Bewunderung folgten, und er den Nachteil erkannte, der seinem Vaterlande durch die Entwöhnung vom Kriegerleben zugefügt werden würde, so brachte er es dahin, daß in Zukunft kein Philosoph in Rom aufgenommen werden durfte.

Auf solche Weise schreiten also die Staaten ihrem Sturze zu, und sind sie gefallen, und ist das Volk klüger geworden durch Unglück, so kehren sie, wie gesagt, zur Ordnung zurück, wenn nicht irgendeine außerordentliche Macht sie völlig erdrückt. So ward, erst durch die alten Etrusker, dann durch die Römer, Italien bald glücklich, bald elend, und wenn auch auf den Trümmern Roms nichts aufgebaut worden ist, das Ersatz gegeben hätte für das Verlorene, das imstande gewesen wäre, Glorreiches zu wirken unter einer geregelten Herrschaft: so erblühte doch so großer Hochsinn in einigen der neuen Städte und Reiche, die sich auf jenen Ruinen erhoben, daß, wenn auch nicht eine Macht die andern überwog, dennoch Ordnung und Eintracht genug bestand, um Italien von den Barbaren zu befreien und zu schützen.

War unter diesen Staaten der florentinische einer der kleineren in Hinsicht auf den Umfang, so war er es nicht in Hinsicht auf Ansehen und Macht. Denn da dieser Staat recht in Italiens Mitte lag, reich war und Angriffe nicht duldete: so focht er die gegen ihn begonnenen Kriege glücklich durch, oder verlieh als Bundesgenosse den Sieg. Sahen nun diese neuen Staaten keine durch langen Frieden gesegneten Zeiten entstehen, so waren sie doch auch nicht gefährlich durch grausame Kriege. Denn wenn man nicht behaupten kann, da sei Friede, wo Nachbarstaaten einander oft mit den Waffen angreifen, so kann man ebensowenig das Krieg nennen, wo die Leute einander nicht töten, wo die Städte nicht geplündert, die Reiche nicht zerstört werden.

Ihre Kriege waren nur Scheinkriege, die man ohne Furcht begann, ohne Gefahr durchkämpfte, ohne Nachteil beendete. So wurde jene kriegerische Tugend, welche anderwärts durch langen Frieden unterzugehn pflegt, in Italien durch die Lauheit des Kriegführens unterdrückt, wovon die Geschichte unseres Landes vom Jahre 1434 zum Jahre 1494 den Beweis liefern wird. Da wird man sehen, wie am Ende dem Ausländer von neuem der Weg gebahnt ward, von neuem Italien in seine Macht gegeben ward. Und werden auch die Taten unserer Fürsten, außen wie zu Hause, nicht, gleich jenen der Alten, ihrer Größe und Hochherzigkeit wegen mit Bewunderung gelesen werden, so werden sie vielleicht nicht geringern Stoff zur Betrachtung bieten, wenn man sieht, wie so edle Völkerschaften durch schwache und schlecht geführte Waffen im Zaum gehalten wurden.

Findet man endlich bei der Beschreibung der Ereignisse in dieser verderbten Welt nicht kriegerische Tapferkeit, nicht Feldherrntalent, noch Vaterlandsliebe des Bürgers zu berichten: so wird man erfahren, mit welchem Trug, mit welchen Listen und Künsten Fürsten, Krieger, Lenker von Freistaaten umgingen, um jenen Ruf zu bewahren, den sie ohne ihr Verdienst erworben hatten. Vielleicht ist die Kenntnis dieser Verhältnisse nicht minder fruchtbringend als die der alten Geschichte.
Denn wenn die eine zur Nachahmung auffordert, so dient die andere zur Warnung.

Italien: eine Halbinsel, die mehr als ein halbes Jahrhundert im Frieden lag und wo – nach Machiavelli – aus der Ruhe Trägheit, aus der Trägheit Unordnung, und aus der Unordnung Zerrütung entstand; diese Zerrütung fand ihren Höhepunkt in den Italienischen Kriegen, auf welche die Einheimischen kaum mehr vorbereitet waren, da sie nur noch den Frieden kannten, sogar das Soldatenleben als solches geringschätzten. Die Beschreibungen im 5. Buch bilden den Beginn dieser Dekadenz, daher stellt Machiavelli diese Philosophie des Kreislaufs der Staaten an den Anfang.

Machiavelli will damit warnen: ich erzähle euch nun, was passiert ist, warum wir Italiener so schwach geworden sind und am Ende Opfer der Ausländer wurden. Dieses Kapitel, das jetzt folgt, soll abschrecken. Denn wer so handelt, wird seine Freiheit verlieren.

Rufen wir uns in Erinnerung, dass auch unser kleiner, mickriger Kontinent Europa nur eine Halbinsel ist….

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