Ein „Experte“ zur Katalanischen Frage

20. November 2015
Kategorie: Europa | FAZ-Kritik | Freiheit | Historisches | Medien | Regionalismus

Die neuerlichen Ereignisse bezüglich einer möglichen Unabhängigkeit Kataloniens – die Katalanen werden wohl eine Abstimmung auch ohne Verfassungsgericht durchziehen – hat eine der großen deutschen „Qualitätszeitungen“ dazu veranlasst, ein Gespräch mit dem Historiker Miguel Perfecto zu führen. Eigentlich sollte man von so einem Gespräch erwarten, dass ein Wissenschaftler hier neutral seine Expertise ausbreitet.

Allerdings ist das in einer Staatenwelt, die sich eben nicht am Selbstbestimmungsrecht der Völker, der Volkssouveränität als solcher (Demokratie?) oder Subsidiarität orientiert – zu viel verlangt. So sind Perfectos Antworten durchweg pro-spanisch und anti-katalanisch geprägt. Durchweg herrscht der Ton vor, an allem seien die unkooperativen Katalanen schuld, die zudem keinerlei Grund dazu hätten, sich aufzuregen. Mehr noch: auch ihre Argumente seien inhaltslos.

Dabei nimmt es Perfecto selbst nicht so genau:

Dabei ist Spanien ein multinationaler Staat mit Katalanen, Basken, Galiziern und Andalusiern. Und das ist seit Jahrhunderten so. Katalonien war auch nie ein unabhängiger Staat, der irgendwann diese Unabhängigkeit an Spanien verloren hat. Deshalb trägt zum Beispiel der Vergleich mit Schottland nicht.

Perfecto unterschlägt hier jedoch, dass dem Spanischen Staat zuerst einmal die Personalunion Aragons und Kastiliens voranging. Aragon war nun nicht Katalonien (auch diesen Fehler darf man nicht begehen), aber Katalonien war mit Barcelona das gefühlte Zentrum dieses Landes, das zudem aus dem eigentlichen Aragon (kastilisch), Valencia (der katalanischen Kultur nahe), den Balearen (ebenfalls katalanisch), sowie Sardinien und Sizilien bestand. Diese Ansammlung von verschiedenen „Kronen“ – Sardinien und Sizilien waren eigene Königreiche! – führte dazu, dass der aragonesische König seine Macht dezentralisieren musste. Das war bei einem derart ausgefächerten Gebiet auch gar nicht anders möglich. Seit dem Mittelalter genossen daher alle Landesteile weitreichende Privilegien – heute würde man sagen „Autonomie“.

Hofsprache war übrigens katalanisch. Aragon war demnach ein ebenfalls multinationaler Staat, mit einer katalanischen „Leitkultur“, aber Autonomien für alle Landesteile, die den Erfolg dieses Modells gewährleisteten. Die katalanischen Sonderrechte blieben übrigens bis zum Spanischen Erbfolgekrieg Anfang des 18. Jahrhunderts erhalten – ab da wurde Katalanisch auch als Amtssprache im Königreich Aragon abgeschafft. Das ist etwa dieselbe Zeit, in der England und Schottland vereint werden. Die schottisch-englische Einigung ist tatsächlich anders verlaufen, doch allein diese kurze Geschichte Kataloniens dürfte zeigen, dass es durchaus viele Berührungspunkte gibt.
Gerade als Historiker sollte Perfecto um diese Nuancen wissen, und nicht kategorisch behaupten, die Fälle seien überhaupt nicht vergleichbar.

In Katalonien und Galizien handelt es sich nicht um ethnisch, sondern um kulturell begründete Bewegungen. Sie fordern Autonomie und Respekt für ihre Sprache, Kultur und Traditionen.

Gegenfrage: wodurch identifizieren wir denn den Begriff einer Ethnie und einer Nation? Etwa immer noch durch Abstammung und „Blut und Boden?“ Die Deutsche Nation und auch die Italienische haben ihren Ursprung als – im wahrsten Sinne – „Kulturnationen“. Noch Ernst Moritz Arndt gab auf die Frage: Was ist des Deutschen Vaterland? die Antwort: da, wo die deutsche Zunge klingt!

Es klingt daher wenig überzeugend, Katalonien „nur“ als kulturelles Phänomen zu sehen. Oftmals ist ja gerade die Kultur die Quintessenz einer Volksidentität. Und daraus weniger Rechte für einen souveränen katalonischen Staat abzuleiten, greift auch nicht. Wenn Perfecto oben argumentiert „Katalonien hat es nie als unabhängigen Staat gegeben“ und hier fortführt „Katalanen sind nur eine Kulturgemeinschaft, und kein echtes Volk“, dann hätte auch der Italienische Nationalstaat nach Perfecto nie entstehen dürfen.

Das wäre jetzt aber ein zu großes Fass, um es aufzumachen. Halten wir aber fest: historisch gab es einige, sogar sehr prominente Beispiele, die Perfectos Argumentation allein aufgrund ihrer schiere Existenz widersprechen.

Wir gehen weiter:

Ein Teil der Steuern der Katalanen geht an Madrid und an ärmere Regionen wie Andalusien, Galizien und Extremadura – so wie in Deutschland Bayern Geld an ärmere Bundesländer abgibt. Und irgendwann entwickelte sich diese Idee: „Madrid raubt uns aus, wir wollen nicht für die faulen Andalusier zahlen.“ Es ist ein Separatismus der Reichen, ähnlich wie in Belgien, wo das reiche Flandern das arme Wallonien nicht unterstützen will.

Das nächste Argument, frei übersetzt: die asozialen Katalanen, die wir immer begünstigt haben, wollen nicht mehr zahlen. Das ist nichts weiter als ein „Geldnationalismus“, ohne Wurzel und rechtfertigt keinen eigenen Staat!

Wieder kann man entgegenhalten, dass es bis ins 19. Jahrhundert hinein Aufstände gegen zu hohe Besteuerung oder als ungerecht empfundene Zölle gegeben hat. Das ist ein historischer Fakt, den viele Anti-Regionalisten ausblenden. Denn noch im Mittelalter haben sich ganze Landschaften von ihren Obrigkeiten herausgelöst, einfach, weil sie nicht bereit waren, weiter ausgepresst zu werden. Ungerecht empfundene Herrschaft wird boykottiert. Da kann der König noch so viele Privilegien verteilen – wenn man ihn als unglaubwürdig einschätzt, rebelliert man. Beispiele?

Die Lega Lombarda gegen Kaiser Barbarossa. Die Mailänder und Brescianer hatten einfach keine Lust mehr, dass der Kaiser bei jedem Romzug vorbeikam und die norditalienischen Städte auspresste, sich in innere Angelegenheiten einmischte, Leute einfach absetzte – und anschließend wieder über die Alpen abreiste.

Anderes Beispiel: die Schweiz. Die Eidgenossen waren es vor allem leid, dass die Habsburger ihnen die Alpenzölle nicht überließen, sondern selbst einstrichen. Dieses lukrative Privileg sicherten sich die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Später erweiterte sich dieser Bund um neue Mitglieder. Die Schweiz ist ebenfalls aus „dem Geld heraus“ geboren.

Immer noch nicht zufrieden? Wie wäre es denn mit dem größten Kunstgebilde? Die rebellischen Kolonien der britischen Krone in Nordamerika. Auch die fühlten sich vom König ausgepresst, obwohl sie jahrelang Waffendienst geleistet hatten. England erfuhr kaum etwas von den eigenen Kriegen, lag man doch schön abgeschottet auf der Insel. Die Kolonisten durften dagegen in allen Kriegen gegen die Franzosen hautnah erleben, was es hieß, wenn der Feind vor der Türe stand. Der Lohn? Sondersteuern!

Und heute ist dieses Land, das daraus entstand, das mächtigste der Welt. Waren die Amerikaner eine „Ethnie“? Gab es jemals zuvor ein Gebilde namens „USA“, bevor es gegründet wurde?
Für einen Historiker begibt sich Perfecto hier auf sehr dünnes Eis. Man hört förmlich das Knacken, und wie eine Stiefelspitze bereits in den zugefrorenen See einbricht.

Die katalanischen Separatisten geben sich nicht mit einer Verfassungsreform zufrieden. Sie wollen im Alleingang ihre Unabhängigkeit von Spanien erklären und nicht verhandeln.

Die derzeit in Spanien regierende Volkspartei hat 2006 gegen ein neues katalanisches Autonomiestatut geklagt. Als sie 2010 in Teilen Recht bekam, haben die Unabhängigkeits-Demonstrationen in Katalonien starken Zulauf bekommen.

Natürlich hat die Regierung von Ministerpräsident Rajoy mit ihrer Unnachgiebigkeit auch eine gewisse Verantwortung für die verfahrene Lage. Aber es gab gleichzeitig auch nie eine wirkliche Verhandlungsbereitschaft vonseiten der Katalanen.

Wir halten fest: Perfecto behauptet, die Katalanen wollten nie verhandeln. Die FAZ stellt dagegen richtig, dass man durchaus zu Verhandlungen bereit war, und die spanische Regierung sich selbst ins Aus manövrierte. Erst hier, und nur hier – und mit ganz dicken Abstrichen! – meint der Historiker, dass die Spanier auch ein kleines Fehlerchen gemacht hätten. Das war’s. Danach sind wieder die Katalanen an allem Schuld.

An dem Beispiel kann man auch studieren, woher die Wut der Katalanen kommt. Da steckt nämlich eine tiefe Borniertheit drinnen. Die Katalanen haben über Jahre versucht, mehr Autonomie zu erhalten, doch Madrid legte sich quer. Jahrzehntelang. Nun sind die Fronten so verhärtet, und die anderen waren nie verhandlungsbereit. Genau diese Einstellung hat den ganzen Konflikt doch erst dahin gebracht, wo er heute steht!

Aber das dicke Ende kommt ja erst noch.

Die Separatisten spielen oft mit Wörtern.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel beim Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Darauf berufen sie sich. Aber die UN haben dieses Recht auf Kolonien bezogen. Katalonien ist aber keine Kolonie.

Zuerst einmal: das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist bis heute nirgendwo eindeutig geregelt. Aber zur Erinnerung: es wurde nicht von den UN, sondern zuerst von Woodrow Wilson und dem Völkerbund eingebracht. Und der Völkerbund war mitnichten eine Organisation, welche es als ihr oberstes Ziel ansah, die Welt zu entkolonialisieren. Im Übrigen steht in der Charta der UN auch nichts von Kolonien, sondern nur:

Artikel 1
Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:

[…]

2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;

[…]

Artikel 55
Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, fördern die Vereinten Nationen

a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg;

b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung;

c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion.

[…]

Wenn Perfecto unterstreicht, es handele sich nur um Kolonien, für die das Recht auf Selbstbestimmung gelöste, so ist das de jure Unfug.

De facto ist es das sowieso.

Denn weder waren Kroatien und Slowenien Kolonien Jugoslawiens, noch waren es die Teilstaaten der Sowjetunion, die sich nach dem Zusammenbruch unabhängig machen. Während es im Übrigen ein Königreich Kroatien im Mittelalter gab, haben Slowenien, die Ukraine, Weißrussland und Mazedonien – neben einigen anderen! – keinerlei historische Vorgängerstaaten, und sind einfach nur eben aus diesem Recht der Selbstbestimmung heraus entstanden. Und wie soll es in Zukunft mit einem Volk wie den Kurden weitergehen, die seit Urzeiten einen eigenen Staat wollen? Müssen die erst in einer Kolonie zusammengefasst werden, damit sie endlich jemand hört?

Jemand muss mir bitte erklären, was für eine Existenzberechtigung so ein Gebilde wie das Kosovo hat, bevor er mir mit Katalonien ankommt.

Aber gut, Herr Perfecto spielt eben mit Wörtern. Das ist als politischer Agitator zwar von Vorteil, weicht jedoch seine Autorität als Historiker erheblich auf.

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