Unvollendet

19. November 2015
Kategorie: Beethoven | Historisches | Musik | Zum Tage

Es existieren einige Schlüsselwerke der klassischen Musik, um die kommt man nicht herum. Die „Unvollendete“ gehört mit Sicherheit dazu. Das liegt nicht allein an der Musik selbst, sondern an ihrer Entstehung: der Titel impliziert bereits den Mythos, der sie umgibt. Nachweislich hat Schubert mit der Arbeit im Jahr 1822 begonnen. Warum aber beendete er sie nie, bis er am 19. November 1828 – mit nur 31 Jahren! – verstarb?

Schon ihre Nummerierung ist umstritten. Lange Zeit galt sie als 8. Sinfonie Schuberts. Denn die 7. Sinfonie, die „Große“, war veröffentlicht worden, und die Skizzen zur Unvollendeten erst später im Nachlass Schuberts aufgetaucht. Schubert komponierte die „Unvollendete“ aber bereits vor der „Großen“, sie lag also chronologisch vor der offiziellen 7. Sinfonie. Die deutsche Musikwissenschaft ist mittlerweile dazu übergegangen, die „Unvollendete“ als 7. Sinfonie zu zählen, und die „Große“ als 8. Sinfonie einzureihen.

Um Verwechslungen zu vermeiden, belasse ich es daher bei „der Unvollendeten“ oder der Sinfonie in h-moll. Im Übrigen: auch die letzte Sinfonie, die Schubert beendete, nämlich die eben erwähnte „Große“, wurde erst posthum aufgeführt. Schubert selbst erlebte die Uraufführung der „Großen“ unter der Leitung von Felix Mendelssohn-Bartholdy im Leipziger Gewandhaus nicht mehr. Die erfolgte erst 1839 – elf Jahre nach Schuberts Tod!

Bei der „Unvollendeten“ sollte es noch länger dauern. Erst 1865 kam sie nach Jahren des Vergessens wieder ans Licht der Welt. Johann von Herbeck fand die Partitur bei Schuberts Freund Anselm Hüttenbrenner und ließ sie noch im selben Jahr aufführen. Und schon damals gab das Werk Rätsel auf: denn üblicherweise hat eine Sinfonie vier Sätze. Schubert schrieb aber nur die ersten beiden. Von dem dritten hinterließ er einige Takte, von dem vierten Satz fehlte jede Spur. Wieso arbeitete er in den letzten sechs Lebensjahren nicht daran weiter?

Die Spekulationen überhäufen sich. Einige vermuten, im dritten Satz der Unvollendeten zu große Ähnlichkeiten zu dem in der 2. Sinfonie Beethovens zu finden – der Bonner war Schuberts großes Vorbild. Andere behaupten, der vierte Satz sei tatsächlich beendet worden, und finde sich in der Schauspielmusik zu Rosamunde wieder. Man sollte sich jedenfalls vor Augen halten, das, hätte Schubert seine Ambitionen vollendet, die fertige Sinfonie vermutlich eine Länge von ca. 50 Minuten erreicht hätte. Das wäre zu damaligen Zeiten kolossal gewesen. In der Entstehungszeit von 1822 lag Beethovens Neunte noch zwei Jahre in der Ferne.

Ob das Publikum darauf gefasst gewesen wäre? Schubert hatte lange Zeit den Ruf eines verkannten Künstlers. Das mag nicht vollständig zutreffen, aber was seine Sinfonien betrifft, stimmt diese behauptung. Einerseits war Schubert ein Eigenbrötler, der nicht das Licht der Öffentlichkeit suchte, wie es andere taten; und seine Werke hatten nicht denselben Erfolg, wie ihn die Musikgiganten der damaligen Zeit feierten. In seinem ganzen Leben gab Schubert nur ein einziges Konzert. War Schubert zu selbstkritisch? Möglich. Es entbehrt nicht der Ironie, dass seine drei beliebtesten Sinfonien – die 5., die 7. und die 8. – zu den populärsten Sinfonien der Romantik gehören, ja, die „Unvollendete“ vielen als Vorbereiterin der Romantik überhaupt gilt (wie gesagt, die Neunte Beethovens ist jünger!), aber Schubert niemals die Aufführung dieser Glanzwerke erlebte.

Besonders der erste Satz im Allegro moderato hat sich selbst Laien eingeprägt, wenn sie ihn nur einmal vernommen haben. Er beginnt mit dem Bedrohlichen, Ungewissen, Unheimlichen, das dort in der Tiefe lauert; ihn begleitet jener dunkle Schauer der schwarzen Romantik, der dann in ein volksliedhaftes, melodisches – man mag meinen: pastorales! – Thema übergeht, in die Natur und Landschaft hinausschreitet, bevor in der Ferne ein Donnergrollen wieder in die dramatische Stimmung der ersten Minute zurückleitet.
Da ist eine ganz wunderbare, einzigartige Dramatik von Sehnsucht, Melancholie, Harmonie und Nacht drin, die grollt, fürchtet und liebt.

Im zweiten Satz sticht dagegen Schuberts eigene Klangsprache deutlich heraus. Lyrisch und farbenreich klingt das Andante con moto, das oft „cantabile“, also „singbar“ erscheint. Da sehen wir die andere, die innige Seite der Romantik, die von Glück und Behaglichkeit.

Vermutlich hat niemand diese Stimmung besser eingefangen als Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern. Mit Sicherheit existieren andere, vorzügliche Aufnahmen, doch in dieser dröhnt der Bass, klingt das Volkslied, grollt das Schicksal.

Führt man sich die Geschichte der „Unvollendeten“ und Schuberts Leben vor Augen, so erschließen sich weitere Parallelen. Denn obwohl die Sinfonie zu solcher Berühmtheit gelangte, war sie nicht das einzige unvollendete Werk. Schubert hinterließ satte sechs Sinfonien, die er in unfertigem Zustand hinterließ. So auch eine Sinfonie in E-Dur, die eine spätere Aufführung fand. Aufgrund dieses Durcheinanders zählen die Angelsachsen bis heute die „Unvollendete“ als 8. Sinfonie und die „Große“ gar als 9. Sinfonie.

Man sieht, welches Chaos ein Komponist mit solchem außerordentlichen Schaffen hinterlässt, wenn er zu früh das Zeitliche segnet. Schuberts Leben war – im wahrsten Sinne des Wortes – unvollendet. Dass Schubert mehr denn je durch sein Werk fortlebte, unterstrich der Kritiker Eduard Hanslick, der bei der Uraufführung anwesend war, und folgendermaßen notierte:

Wenn nach ein paar einleitenden Tacten Clarinette und Oboe einstimmig ihren süßen Gesang über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anstimmen, da kennt auch jedes Kind den Componisten, und der halbunterdrückte Ausruf „Schubert“ summt flüsternd durch den Saal. Er ist noch kaum eingetreten, aber es ist, als kennte man ihn am Tritt, an seiner Art, die Thürklinke zu öffnen. Erklingt nun gar auf jenen sehnsüchtigen Mollgesang das contrastierende G-Dur-Thema der Violincelle, ein reizender Liedsatz von fast ländlerartiger Behaglichkeit, da jauchst jede Brust, als stände Er nach langer Entfernung leibhaftig mitten unter uns.

Schuberts „Unvollendete“, gespielt von den Berliner Philharmonikern, unter der Leitung Wilhelm Furtwänglers.

Teilen

«
»