Das gefährlichste Tier

8. November 2015
Kategorie: Die Euganeischen Anekdoten | Freiheit | Historisches | Ironie | Philosophisches

Drei Gelehrte fanden sich bei Sommerwetter auf einer Terrasse zusammen. Nach einer gemeinsamen Runde fiel die Frage, was das gefährlichste aller Tiere sei. Der erste, ein Germanist, meinte: »Der Wolf.« Der nächste, ein Politologe, behauptete: »Der Bär.« Der letzte jedoch, ein Historiker, sprach: »Die Honigameise.«

Der Germanist dachte noch nach, als der Politologe bereits einwandte, dass die Ameise doch ein sehr nützliches, effektives Tier sei. Es sei so wunderbar effizient, spezialisiert und formte Staaten, die denen der Menschen nicht unähnlich seien. Alles in allem bewunderte der Politologe die Ameisen für ihre Organisation. Die Natur zeige unglaubliches Geschick dabei, wenn Abermillionen dieser kleinen Tierchen sich absprachen und wie ein Körper funktionierten.

Der Historiker schluckte den Schaum seines Bieres wie gequält hinunter, als er die Worte hörte. Seine Rechte umfasste das Glas, und sein leerer Blick starrte auf den Gerstensaft darin. Der Politologe glaubte, den Kollegen überzeugt zu haben; doch stattdessen holte der Historiker aus:

»Man sieht, wie wenig Sie über die Honigameise wissen«, begann er. »Auf den ersten Blick sind sie alle gleich; und doch sind sie jeweils nur auf eine Sache spezialisiert. Die Honigameisen leben in einem Kollektiv, das aber tatsächlich eine Diktatur ist, in der alle der Königin dienen. Sie haben keinen anderen Sinn als die Expansion ihres Reiches. Abermillionen von ihnen graben Stollen bis in das tiefste Erdreich, nur, um noch mehr zu erobern. In Kammern, tief unter der Erde, sperren sie ihresgleichen ein und füttern sie mit Zuckerwasser; bis die Artgenossen ganz aufgedunsen sind und das Zwanzigfache ihres Körpers erreichen, weil sich der Hinterleib kastaniengroß aufbläht. Es ist eine schiere Qual und Folter: aber zum Wohle des Ameisenstaats! Kein Schwein wird so gemästet oder gequält. Ihre Ressourcenspeicher sind also ganz lebendig; das Leben einer Honigameise ist nur ein Instrument, austauschbar und jederzeit verfügbar, um zur Schlachtbank geführt zu werden. Alte Ameisen werden schlicht gefressen, denn Kannibalismus ist ebenso effizient und logisch.

Und jetzt sehen Sie mich nicht mit großen Augen an, denn Sie wissen ja gar nicht, was passiert, wenn diese Honigameisen Krieg führen. Ja, Krieg, sage ich! Höre Sie nicht auf die Lüge, Tiere führten keinen Krieg, denn der Krieg der Honigameisen ist blutiger und brutaler als alle Feldzüge, die ein Mensch ohne Technologie führen könnte. Sie glauben mir nicht? Nun, wenn ein Honigameisenstaat einen anderen findet, dann kämpfen die Ameisen von Insekt zu Insekt. Sie fallen übereinander her, und reißen sich Beine, Fühler und alle Gliedmaßen aus. Wenn sie in den Stollen der anderen eindringen, kennen sie keine Gnade, sie massakrieren jedes Lebewesen dort unten, zerlegen es und bringen dessen schmackhaften Teile in ihre Kammern. Feindliche Larven werden ebenso zur Kriegsbeute wie die lebenden Zuckerwasserbehälter. Da sie nicht an das Zuckerwasser kommen, trennen sie den Hinterleib ab, und transportieren diese Honigkugeln in den heimischen Bau zurück. Alles verwenden sie nochmals neu. Aus den Gliedern können sie auch neues Baumaterial gewinnen oder als Proviant nutzen, um den nächsten Feldzug zu unternehmen. So geht es immer weiter, in diesem Leben für den Staat und für die Arbeit.«

Daraufhin trank der Historiker sein Bier aus und ließ die beiden Kollegen baff zurück. Der Romantiker, der am Nebentisch die Unterhaltung mitgehört hatte, nahm zwei Weisheiten am diesen Abend nach Hause; nämlich erstens, dass es mindestens eine Tierart gab, die den Krieg kannte und ihn mindestens so brutal führte wie der Mensch; und zweitens, dass der Mensch umso grausamer wurde, je mehr seine Lebensweise jener der Honigameise ähnelte.

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