Aus den Selbstbetrachtungen des Römischen Kaisers Marc Aurel, Buch II, 16.
Die Dauer des menschlichen Lebens ist ein Augenblick, das Wesen ein beständiger Strom, die Empfindung eine dunkle Erscheinung, der Leib eine verwesliche Masse, die Seele ein Kreisel, das Schicksal ein Rätsel, der Ruf etwas Unentschiedenes. Kurz, was den Körper betrifft, ist ein schneller Fluß, was die Seele angeht, Träume und Dunst, das Leben ist ein Krieg, eine Haltestelle für Reisende, der Nachruhm ist Vergessenheit. Was kann uns da sicher leiten? Nur eins: die Philosophie. Und ein Philosoph sein heißt: den Genius in uns vor jeder Schmach, vor jedem Schaden bewahren, die Lust und den Schmerz besiegen, nichts dem Zufall überlassen, nie zur Lüge und Verstellung greifen, fremden Tun und Lassens unbedürftig sein, alle Begegnisse und Schicksale als von daher kommend aufnehmen, von wo wir selbst ausgegangen sind, endlich den Tod mit Herzensfrieden erwarten und darin nichts anderes sehen als die Auflösung in die Urstoffe, woraus jedes Wesen zusammengesetzt ist. Wenn aber für die Urstoffe selbst darin nichts Schreckliches liegt, daß jeder von ihnen beständig in einen andern umgewandelt wird, warum sollte man die Umwandlung und Auflösung aller Dinge mit betrübtem Auge ansehen? Das ist ja der Natur gemäß, und was mit der Natur übereinstimmt, ist kein Übel.
Mir fiel heute nach längerer Zeit mein Marc Aurel wieder in die Hände. Teilweise kann ich meine vielen Notizen nicht mehr entziffern, aber dieses Kapitel hatte ich mir dick angestrichen, weil es darauf hinausläuft, wozu Philosophie (nach stoischer Sicht) tatsächlich da ist. Hier geht es nicht um irgendwelche Ideen, wer herrschen soll, oder um Phänomene, schwierige Erkenntnissuche oder Modelle von wahren oder falschen Aussagen. Die nüchterne Antwort lautet:
Strebe nach einem guten Charakter, den du jeden Tag etwas besser bildest.
Es ist immer noch faszinierend, wie dieses kleine Büchlein mich immer wieder in seinen Bann zieht.