Die Pharisäer des 20. Jahrhunderts

15. Oktober 2015
Kategorie: Die Euganeischen Anekdoten | Medien

Vor einem großen Laden, der viele Produkte aus biologischem Anbau feilbot, reihte sich einst eine Schlange. Dabei war der Laden kein kleines Bauerngeschäft, sondern ähnelte in seinen Dimensionen jenen Supermärkten, die er eigentlich bekämpfte, weil sie kein grünes Etikett trugen. Das grüne Etikett war eine Auszeichnung, dass alle haben wollten, weil es garantierte, besser zu sein. Denn die Leute kauften nicht nur, weil es gesund war, sondern auch, weil man damit half, besonders der Umwelt. Einige besuchten diesen Laden wie einen Tempel, ähnlich den Pharisäern, die sich immer besonders gern zeigten, um gesehen zu werden und ihr Gewissen zu beruhigen.

Die Pharisäer betonten dann immer, wo sie einkauften und was sie einkauften, denn im 20. Jahrhundert hatte der Konsumtempel den Christentempel abgelöst, und einzig die Predigt war ihnen geblieben. Und die Umwelt zu schützen, das kostete eben etwas mehr; dafür sei man so verantwortungsvoll und vorbildlich, und jene, die das nicht verstanden, waren Kleingläubige. Kein Preis war der Umwelt zu gering. Dafür brachte man sein Opfer dar.

Nun sammelten sich all die Kaufgläubigen nach ihrem Gottesdienst an der Bushaltestelle vor dem großen Geschäft und warteten. Ganz ökologisch. Da sie aber warteten, und mit ihren grünen Kleintelefonen spielten, oder grüne Musik hörten, bemerkten die Pharisäer nicht den Romantiker, der seines Weges ging.

Obwohl die Menge groß war, und ihm nahezu den ganzen Gehweg versperrte, war es nahezu erstaunlich, dass niemand der Pharisäer den Mülleimer an der Haltestelle sah, der umgekippt war und seinen ganzen Inhalt auf Straße und Trottoir verschüttet hatte. Die Pharisäer standen mitten zwischen dreckigen Tüchern, vergilbten Bananenschalen, und streng riechenden Abfällen. Da bemerkte der Romantiker, dass die Pharisäer den Müll gar nicht sehen konnten, weil sie ihn nicht sehen wollten.

Darauf ging der Romantiker zum Mülleimer, richtete ihn auf, sammelte in einem Rutsch den Dreck ein, nickte den Pharisäern zu – und ging. Die aber bemerkten, da sie mit Musik im Ohr in die Luft oder auf ihre Kleinbildschirme starrten – nichts.

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