Einsamkeit im kommunikativen Gebrabbel

14. August 2015
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Medien | Persönliches | Philosophisches

Es ist das angebliche Ende der von den Medien ausgerufenen „Hitzewelle“ (vier Tage über 30°C; als Kind nannte ich das noch naiv „Sommer“), und trotz der Furcht vor den apokalyptischen, ebenfalls von den Propheten der Medienpriesterschaft ausgerufenen Gewitter einer der Abende, an denen sich mein Spaziergang weit nach hinten verschiebt. Mir liegt nun nicht viel daran, den hundertsten Sermon über die digitale Kultur und ihre Ausläufer kundzutun; dennoch kann ich als jemand, der nicht einmal ein Smartphone besitzt, mit gewissen Erkenntnissen nicht hinter dem Berg bleiben.

Wohl nicht zuletzt deswegen, weil mir beim Spaziergang kein Display vor der Nase sitzt.

Aber gemach. Mir gehen bereits seit einiger Zeit Gedanken durch den Kopf, die mal wieder um das Thema „Kommunikation“ kreisen. An erster Stelle steht dabei eine männliche Tugend, die immer mehr in Vergessenheit gerät – und im Zuge der Einführung gleich mehrerer neuer Geschlechter wohl bald völlig vergessen sein wird. Eine Kunst, für die es (zu meinem völligen Unverständnis) bisher keinerlei Diplom; kein Studium; nicht einmal einer Lehre oder eines Schulbesuches bedarf, aber die es allein durch die Weisheit des gemeinen Volkes zu Berühmtheit und Ehre schaffte.

Ich spreche von der erhabenen Kunst des Schweigens. Auf Dieter Nuhrisch: Fresse halten.

Für Bekannte meinerseits wohl eher überraschend: aber ich bin durchaus jemand, der ungerne spricht. Jedenfalls, wenn ich nichts zu sagen habe. Kommunikation entspricht meinerseits zu ca. 1% aus Emotion und zu 99% Information. Wenn ich etwas sagen will, dann ist es mir wichtig. Wenn man wissen will, wie ich mich fühle, muss man mich danach fragen. Ich behaupte mal, dass die Mehrzahl der wenigen noch verbliebenen Männer in Deutschland, die noch nicht kommunikativ umerzogen wurden, ganz ähnlich ticken.

Beispiel: wenn jemand am Tisch genau das sagt, was ich denke, dann stimme ich zu. Vielleicht füge ich noch eine zweite Sicht hinzu. Aber ich werde einen Teufel tun, dasselbe zu wiederholen, und sei es nur mit anderen Worten. Gar von mir gemachte Aussagen zu wiederholen, halte ich darüber hinaus für äußerst nervig.

Eine Beobachtung meinerseits geht dahin, dass eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Menschen einfach nur redet. Nun existieren belanglose Gespräche seit dem Zeitpunkt, als die ersten Ackerbauern aufs Feld gingen, ihre Hirse aussäten, und die gelangweilten Damen daheim über die abwesenden Ehegatten schwatzten oder über das völlig angeberische Leopardenfell von Frau Gronz aus der Kieselsteinallee lästerten. Ganz zu schweigen von den ausstaffierten Brustbinden der Frau des Dorfhäuptlings.

Verlassen wir diesen pseudo-wissenschaftlichen Blick historischerseits auf die Entstehung des Dorftratsches. Es könnte mich zu sehr amüsieren.

Mir scheint mittlerweile, dass dieses „Gerede“ unserer Zeit nicht selten seinen Ausgang aus dem paradoxen Phänomen nimmt, dass wir im Zeitalter des globalisierten Dorfes, der ständigen Online-Chat-Community, von Facebook und WhatsApp („WhatsApp? Was ist daran so toll?“ „Das ist ein Instant-Messenger!“ „Also wie ICQ?“ [Pause] „Was ist ICQ?“), von Tinder, Parship und sonstigen Portalen – nicht mehr reden. Damit ist nicht die direkte, flache Sprachkommunikation gemeint – wäre dies der Fall, so bräuchte es diesen Eintrag ja eben nicht! – sondern eine weitaus tiefere Ebene. Mir geht es um Form und Inhalt, nicht um den Austausch per se. Lippen bewegen können auch Wesen ohne Sprachfähigkeiten.

Ein Symptom der neurotischen Gesellschaft der Jahrtausendwende ist das Gefühl der Einsamkeit. Meines Erachtens hat das kein Autor bisher präziser dargestellt als Michel Houellebecq, dessen Hauptcharakter(e) in den Sog der modernen Konsumgesellschaft so hineingeschlungen worden sind, dass ihnen jedwede Identität, jedweder Lebenssinn und zuletzt jedwede Empfindung fehlt; allen voran die Liebe. Der Teufelskreis schließt sich dadurch, dass alles zusammen zum Symptom der großen Einsamkeit führt; die führt zur Suche nach Sein, Sinn und Liebe, endet jedoch fast immer wieder im erneuten Rausch, den unseren Konsumgesellschaft bietet. Ein kurzer Reiz ist aber eben nur Opium, das für eine gewisse Zeit den Geist zu vernebeln vermag, löst aber nicht die tiefgründigen Probleme. Endstation: Einsamkeit.

Warum nun dieser Einschub? Stimmen verschaffen uns das Gefühl, nicht einsam zu sein. Kleine Kinder reden in der Dunkelheit mit sich selbst, um sich zu beruhigen. Ähnlich ergeht es jenen, die sich für erwachsen halten, und ihre innere Leere mit dem Sammelsurium der modernen Kommunikationswelt bekämpfen. Das belanglose Gespräch wird zum Wundheilmittel. Das geschriebene Wort, das früher in langen Briefen ausformuliert wurde, und Seiten füllte, verkommt zu den 140 Zeichen des „Ich tippe, also bin ich (und du auch!)“.

Das große Gebrabbel ist also nichts weiter als: die große Ablenkung.

Wie konnte es dazu kommen? Bereits weit vor dem digitalen Zeitalter entstand die Vorstellung, dass der Mensch ein inhärent kommunikatives Wesen sein müsse. Einzelgänger galten (und gelten) als merkwürdig, als ausgeschlossen. Leute, die wenig sprachen, sowieso. Introvertiertheit ist insbesondere in einer Gesellschaft, die vom schönen Schein lebt, ein Todesurteil. Ruhige, gewissenhafte Arbeit, wie sie im Mittelalter als anständig galt – aus dieser allzu finsteren Zeit der Intoleranz kommt nicht nur unsere Vorstellung davon, dass „Schweigen Gold“ ist, sondern auch die verschiedenen Orden mit Schweigegelübden – ist daher in doppelter Hinsicht überflüssig geworden. Rufen wir uns in Erinnerung, wie alt die Soziologie ist. Und rufen wir uns in Erinnerung, dass, obwohl der „Single“ als das Symbol unserer Zeit gilt, dieser eben nicht gleichbedeutend mit dem Einzelgänger ist. Der moderne Single ist hipp, weltoffen, hat sexuellen Kontakt mit wechselnden Partnern, geht auf Partys und ist immer „up-to-date“.

In der Tat ist der klassische Einzelgänger das genaue Gegenteil des Singles. Der Einzelgänger hat nämlich kein Problem mit der Einsamkeit. Ja, womöglich ist ihm das „Alleinsein“ sogar ziemlich egal. Damit ist der Einzelgänger auch wirklich „frei“, denn er sitzt nicht abends allein, hilflos, depressiv und „einsam“ zu hause, sondern er genießt die Ruhe, er genießt die Stille, er sammelt Energie. Womöglich hat er einen alten Schreibtisch aus dem 18. Jahrhundert, an dem er sitzt, von dem er nur aus dem Fenster blickt und sinniert; er kann aber auch ein Jugendlicher sein, der möglicherweise stundenlang Musik hört, bis am Morgen die Sonne aufgeht, völlig unbeeindruckt von allen Vorgängen draußen in der Welt. Einsamkeit ist subjektiv.

Im Nebenzimmer dagegen könnte der moderne Mensch vor sich hinvegetieren; er geht auf und ab, weil er gerne etwas tun möchte, es aber aus eigenem Unvermögen nicht kann. Er ist Sklave der Umstände seiner Zeit. Bin ich normal? Bin ich schön? Bin ich erfolgreich? Habe ich (genug) Freunde? Er ist mit all den Fragen belastet, die in der sozialen Gemeinschaft eine Rolle spielen, kurz: er ist unfrei, weil er sich vom Zeitgeist erdrücken lässt. Auf dem Sklavenmarkt der Hafenstadt von Facebook sieht er all die anderen Angebote, wie sie sich herausstellen und schick machen. Seht her! 20 neue Selfies von Fabia. Schaut und „liked“ die tollen Erfahrungen, die Balbus macht. Mein spannendes Leben ist so wunderbar, die ganze Welt muss dran teilhaben, auch, wenn ich gerade in der S-Bahn sitze und nichts zu erzählen habe. Ich habe nichts, rein gar nichts, und selbst das preise ich an!

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