Il Poeta

1. Juni 2015
Kategorie: Antike | Dante | Europa | Freiheit | Hintergrund und Schreibarbeit | Historisches | Italianità und Deutschtum | Mittelalter | Persönliches | Philosophisches | Zum Tage

Ich hätte diesen Beitrag an jedem beliebigen Tag zwischen Mai und Juni schreiben können; denn selbst der Geburtstag ist bei Dante, dem Meister der Zahlenspiele, nur durch ein Rätsel zu erraten – so, wie wir in der Commedia immer wieder kleine Stücke seiner Biographie wieder finden. Trotzdem bleibt der exakte Termin eine Andeutung, wie so vieles in seinem Hauptwerk, was man eben nicht komplett sezieren kann, sondern deuten muss.

Am Anfang ein Geständnis: ich habe vergleichsweise spät zu Dante gefunden, nämlich etwa mit 19 oder 20 Jahren. Die italienische Literatur war für mich immer ferner als die deutsche; selbst in der lateinischen und griechischen habe ich mich bis dahin besser ausgekannt. Als ich zum Studium nach Verona wechselte, kannte ich das Proöm der homerischen Odyssee und von Vergils Aeneis auswendig, und hatte den Faust gefressen. Dante kannte ich zwar, gelesen hatte ich ihn aber nicht; von Manzoni hatte ich nur stellenweise gehört; und die Gedichte von Pascoli oder Leopardi waren mir unbekannt. Selbst Gabriele d’Annunzio, der nur unweit meines Geburtsort seine letzten Tage im Exil verbracht und dort ein mondänes Leben in seiner Villa bei Gardone geführt hatte, war mir viel mehr durch das von ihm errichtete Vittoriale bekannt als durch seine Schriften.

In Verona, wo man als Student des klassischen Bildungsweges an Dante aber nicht vorbei kam, wurde ich bereits morgens um 8:30 Uhr mit ihm traktiert. Dass Dantes Commedia allein mit nichts zu vergleichen ist, was es in Deutschland gibt, wird schon daran ersichtlich, dass in Italien eigene Lehrstühle zum Forschungsfeld „Dante Alighieri“ existieren. Das mag man als Orchideenfach belächeln – tatsächlich führt sich diese Forschung aber bis in Boccaccios Zeit zurück, und ist damit ebenso alt wie die Institution der Universität selbst.

Ich muss wohl kaum hinzufügen, dass sich anfangs meine Begeisterung erheblich in Grenzen hielt, wenn man vor 6 Uhr aufstehen musste, um rechtzeitig die Vorlesung zu erreichen, und ich als notorische Eule mehr Probleme mit der Aufmerksamkeit, als mit dem eigentlichen Verständnis hatte. Während vorne der Professor hochdramatisch von Odysseus’ Folterklage im Inferno sang, hing ich irgendwo in einer der letzten beiden Reihen und erlebte die Höllenszenen in deliriumsähnlichen Sequenzen gepaart mit flackerndem Augenlicht.

Gut, vielleicht hat das auch irgendwie meine Faszination gefördert. An den Gesang des Odysseus kann ich mich jedenfalls bis heute so gut erinnern, dass er bei der Neuauflage des Milione Verwendung fand. Den Kopf hat mir damals wohl nur der Umstand gerettet, dass die Kommilitonin neben mir von dem Spektakel ebenso gelangweilt war.

Und hier kommen wir zum nächsten entscheidenden Punkt: an der Langeweile war weniger ihr Desinteresse schuld, sondern der Umstand, dass selbst für italienische Muttersprachler die Commedia eine Herausforderung darstellt. Auch für Bildungsitaliener, und besonders die, welche nicht das Glück haben, aus Zentralitalien zu stammen. Denn auch, wenn Dantes Italienisch als Vorlage für das später vom Mailänder Manzoni instituierte Standarditalienische gilt, so ist es doch in erster Linie das Florentinisch des 13. Jahrhunderts. Machiavelli liest sich im Gegensatz zu Dante um einiges angenehmer – und das nicht nur, weil es zwischen Prosa und Poesie nochmals einen qualitativen Unterschied gibt.

Hier beginnt allerdings auch meine Hochachtung, die ich vor Dante empfinde. Denn seine Commedia spielt in einer intellektuellen und literarischen Liga, die keiner mehr nach ihm erreicht hat; und das sage ich – ich wiederhole mich – als jemand, der bis dahin die Deutsche Klassik und Romantik für den Höhepunkt hielt. Demnach hatte der Sinneswandel seine Wurzel sicherlich nicht in meiner Italianità, sondern vielmehr, weil dieses Buch ein universelles ist. Um es auf den Punkt zu bringen: nimmt man die homerischen Epen, Vergils Aeneis und Dantes Commedia, dann hat man die gesamte Quintessenz der europäischen Kultur und der daraus schöpfenden Literatur. Jeder Roman, ob von Hugo, Dickens, Manzoni oder Mann ist letztendlich nur eine Fußnote zu diesen drei Werken.

Auch vom inneren Aufbau, von seinen Versen und Betonungen her, lebt die Commedia viel mehr im Geiste Homers und Vergils – und daher ist es ja auch gerade folgerichtig, dass eben letzterer Dante auf seinem Weg durch Inferno und Purgatorio begleitet. Die Ansprüche, die Dante an seinen Leser stellt, machen die Hölle am Anfang vielleicht deswegen auch zu seiner berühmtesten Passage, weil die meisten Menschen, welche die Commedia lesen… sie nie beenden. Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, mit was Dante uns erschlägt: nämlich mit der gesamten Geschichte der Menschheit mitsamt ihren wichtigsten Akteuren, die antike Mythologie und biblische Geschichte eingeschlossen. Die Liste ist enorm und reicht von Fürsten, Philosophen und Schriftstellern bis zu Dantes Weggefährten und persönlichen Gegnern. Wir treffen antike Helden, christliche Märtyrer und Personen aus dem politischen Florenz des Mittelalters. Alles hat eine Bedeutung; alles ist eine Anspielung; und jeder spielt seine Rolle in diesem großen Welttheater zwischen Himmel und Hölle. Wenn man Dante lesen und verstehen will, braucht es prinzipiell ein Vorwissen, das nichts Geringeres darstellt als die Summe der gesamten mittelalterlichen Bildung.

Wo wir beim Mittelalter sind: die Commedia ist Gift für jeden, der mit Mittelalterklischees arbeitet, insbesondere, wenn es um das Wissen selbst geht. Da finden wir den arabischen Gelehrten Averroës im Limbus zusammen mit Saladin und den Gelehrten der Antike – wenn man bedenkt, dass Ungläubige oder Heiden in die Hölle gehören, die Insassen im Limbus aber keine Höllenqualen erfahren, sondern über deren Schicksal erst beim Jüngsten Gericht entschieden wird, dann ist das durchaus bemerkenswert. Vergil kann daher zwar auch nicht das Paradies betreten, aber er wird eben wegen seiner Taten nicht prinzipiell verdammt. Daneben postuliert Dante nicht nur eine kugelförmige Erde, sondern spekuliert auch über ein unbekanntes Land jenseits des Atlantiks – beides ist zwangsläufig, da sich Dante das Purgatorium auf der anderen Seite der Weltkugel vorstellt. Meine Lieblingsanekdote: Mohammed landet im 8. Höllenkreis, aus dem Grund, dass er den Glauben an Gott gespalten habe. Das ist deswegen interessant, weil es voraussetzt, dass der Islam aus der Sicht Dantes wohl eher als eine entfernte christliche Häresie anzusehen ist, und weniger als völlig falsche Religion. „Mohammedaner“ sind also keine Ungläubigen, sondern fehlgeleitete Christen.
Und das sind nur einige Beispiele; für Mathematik, Medizin, Astronomie und Geographie fehlt hier schlicht der Platz.

Da aber heute sinnigerweise fast nur Dantes Hölle rezipiert wird – in unseren Tagen fehlt wohl schlicht der Glaube ans Paradiso – ist es auch kein Wunder, dass die eigentliche Botschaft verloren geht. Denn obwohl wir die Commedia mit Vergil und Dante gleichsetzen, so ist die Protagonistin neben Dante tatsächlich Beatrice. Beatrice ist es nicht nur, die Dante zum und durch den Himmel führt, sondern sie war es, die Vergil vorausgeschickt und Dante erst zu dieser Reise eingeladen hatte. Beatrice ist die Mensch gewordene, christliche Tugend und Kraft, das Sinnbild von Liebe und Spiritualität. Sie Dantes Muse zu nennen, wäre weit unter ihrer Würde; Beatrice ist vielmehr ein Ideal, bei dem selbst der große Dichter auf die Knie geht und wie ein Kind in Tränen ausbricht. Wenn also gefragt wird, ob man die Commedia lesen kann, ohne gläubiger Christ zu sein, so behaupte ich: ja. Aber ob man sie wirklich begreifen und verstehen kann, das wird spätestens ab dem Himmel und Beatrice nicht nur schwierig, sondern gerade in dieser personifizierten christlichen Liebe und Dantes Streben nach diesem göttliche Geheimnis unmöglich. Vielleicht ist das der entscheidende Grund, warum dieses Stück der Weltliteratur seine einstmalige Bedeutung – im Mittelalter neben der Bibel immerhin das meistkopierte Buch – im heutigen Zeitalter verloren hat. Das Gefühl der Sinnsuche kennen wir; aber Dantes Antwort will man nicht mehr hören.

Demnach ist es auch klar, warum Dantes 750. Jubiläum so schlicht ausfällt. Das Interesse an Dante war in Deutschland noch nie sonderlich ausgeprägt; die Franzosen und Briten hatten da schon ein weitaus größeres Interesse, was im Zuge der Romantik und Historienmalerei deutlich wird. Aber es scheint, als sei diese Gestalt, die doch in ihrem Spagat von christlicher und antiker Kultur eine Urgestalt europäischer Kulturkraft darstellt, heute nicht mehr tragbar. Ist uns Dante in der heutigen Zeit zu anstrengend? Zu rätselhaft? Zu undurchdringlich-mittelalterlich? Oder schlicht nicht zeitgemäß? Ist das unser Zeitgeist?
Gute Fragen.

Allerdings wäre es höchst bedauerlich, wenn es der heutige Zeitgeist sein sollte, sich die Fragen nach Liebe und Tod, Sinn- und Wahrheitssuche, klassischer Bildung und Philosophie nicht mehr stellen zu wollen. Dazu bedürfte es aber eben jener Ungemütlichkeit und jenes Querkopfes, den auch Dante besaß; ein Querkopf, der nicht zuletzt aufgrund seines Eigensinns aus der Stadt verbannt wurde. Bis heute trauert Florenz um diesen Verlust. Dante schrieb sein Paradiso eben nicht in Florenz, sondern in Verona.

Es ist daher wieder einmal eine Ironie der Geschichte, dass Dante im 21. Jahrhundert wieder auf taube Ohren stößt. Fragt sich nur, wo das paradiesische Verona als Rückzugsort liegt…

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