Die Welt der Vernunft und die Geschichte III

24. April 2015
Kategorie: Die Welt der Vernunft und der Geschichte | Historisches | Philosophisches

Die Vernunft bleibt ein wichtiger Teil der Geschichtswissenschaft (vielleicht sogar der maßgebliche), aber gerade die Erfahrungen in der Betrachtung alter Texte lehrt, wo diese an ihre Grenzen stößt. Um Geschichte zu verstehen, bedarf es daher zugleich Empathie, um die Handlung von Menschen nachzuempfinden – auch, wenn nicht jedem Historiker dieses Einfühlungsvermögen gelingt. „Gerechtigkeit“ ist daher nicht das Urteil eines obersten Richters, sondern salomonischen Weisheit. Einfühlungsvermögen psychologischer Art ist nicht zu verwechseln mit emotionaler Gefühlsduselei oder Romantik, sondern hat die Aufgabe, herauszufinden, was der Antrieb eines Menschen sein kann. Historiker sind nicht selten Biographen.

Niemand hat das besser erreicht als Niccolò Machiavelli. In seiner Florentinischen Geschichte urteilt er hart, aber gerecht, da er versucht, die Handlungsweisen jeder seiner Protagonisten nachzuempfinden, zu veranschaulichen und zu bewerten. Wer einmal die Beschreibung des Ciompi-Aufstands – die Revolte der niederen Wollweber in Florenz – gegen die mächtigen Zünfte und Ratsherrn liest, erlebt dort das scharfe Psychogramm einer ganzen Stadt, man mag meinen: einer ganzen Generation. Als Geschichtsschreiber bedient sich Machiavelli (im Gegensatz zum Historiker) erfundener Reden, die in radikaler Nüchternheit den Kampf um Macht und Interessen aufzeigen, ja, sogar die Antriebe und Zwänge des Menschen selbst. Hier trifft wissenschaftliche Vernunft auf psychologische Menschenkenntnis.

Und dennoch: selbst Machiavelli kann nicht alle Facetten menschlichen Handelns und der Geschichte fassen. Wir stoßen immer an die Grenzen. Anders als viele andere Wissenschaften können wir allein deshalb nichts mit letzter Gewissheit sagen, weil wir niemals alle Perspektiven fassen können: alle Räume, alle Zeiten, alle Menschen. Noch schlimmer: selbst wenn wir es könnten, es wäre schier unmöglich, so Geschichte zu schreiben und zu beurteilen. Schon Christopher Clark stieß bei seinen Recherchen zum Ausbruch des 1. Weltkriegs an die Grenzen des menschenmöglichen. Nun ist der Beginn des 20. Jahrhundert vergleichsweise gut dokumentiert – und dennoch wissen wir, dass Archivbestände mit unwiederbringlichen Informationen, die in der Theorie unser ganzes Bild dieser Zeit umkehren könnten, aus politischen Motiven vernichtet wurden.

Gehen wir einen großen Schritt zurück. Von allem antiken Schriftgut ist nur 1% erhalten. Noch einmal: ein Prozent. Von 100 geschriebenen Büchern ist statistisch nur eines tradiert worden. Dennoch haben wir ein geschlossenes Bild von der Antike – zumindest glauben wir das. Denn tatsächlich haben wir nur ein „Bild“, einen Ausschnitt, eine Vorstellung. Wir können niemals mit Gewissheit sagen: so war es. Wir können uns nur an die Wahrheit annähern. Das ist die von mir bereits erwähnte Demut, die vielen anderen Bereichen der Forschung heute abhandengekommen zu sein scheint, wenn sie alles erklären will.

Viele machen daher prinzipiell den Geisteswissenschaften den Vorwurf, sie seien keine Wissenschaften. Die Gegenfrage muss daher lauten: ist denn die Philosophie eine Wissenschaft? Wer das verneint, der muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass jedwede Wissenschaft nichts weiter als Philosophie ist, die sich im Laufe der Zeit nur spezialisiert und perfektioniert hat. In der Antike existierte kaum ein Unterschied zwischen Mathematikern und Historikern, sie waren beides „Philosophen“. Auch die Universalgelehrten der Renaissance kannten da kaum einen Unterschied – selbst Goethe bemühte sich noch darum, neben seinem literarischen Schaffen eine „Farbenlehre“ zu begründen.

Wer dagegen bejaht, dass die Philosophie eine Wissenschaft sei, oder besser: die Mutter aller Wissenschaften, der wird einsehen, dass die Geschichte eine ihrer schönsten Töchter ist. Philosophie ist prinzipiell undogmatisch, das trennt sie von der Theologie. Weder kennt der Historiker Regelsätze, noch benutzt er Formelsammlungen; auch, wenn sich einige bemühen, ihre „Methoden“ als mathematisches Äquivalent zu vermarkten. Auch das ist Zeitgeist, wenn an die Geschichte der Anspruch gestellt wird, naturwissenschaftlicher zu sein. Das hat Thukydides am Beginn seines Peloponnesischen Krieges weit besser hinbekommen, wo er schildert, wie er bei seiner Arbeit vorgegangen ist.

Das alles zeigt uns, dass wir niemals unsere Vergangenheit vollständig „rekonstruieren“ können, sondern mehrheitlich „konstruieren“. Das spricht uns aber im Gegenzug nicht frei davon, dennoch nach den Fakten, vielleicht sogar der „Wahrheit“ zu suchen; nicht in dem Sinne, dass wir glauben, sie auch zu finden oder zu erkennen, sondern als Antrieb. Das stinkt nach Idealismus; in Wirklichkeit ist es – zumindest für mich persönlich – Pflicht. Ein guter Handwerker gibt sich auch nicht mit dem zweitbesten Produkt zufrieden: erst das macht ihn zum Meister. Wir suchen nach menschenmöglicher Perfektion, das bedeutet nicht, dass wir aber an das Ideal herankommen.

Spätestens an dieser Stelle kommt man um die Sinnesfrage nicht herum. Mathematisch ausgedrückt: Was ist die Funktion von Geschichte? In der Schule begegnet man Aussagen wie „damit man weiß, wie’s früher war“;* „um daraus zu lernen“; oder – mein Favorit – „damit wir nicht vergessen“. Letzteres riecht bereits nach indoktrinierter Staatsmoral eines sanktionierten Geschichtsbildes, das George Orwell nicht besser hätte umschreiben können. Denn wie wir wissen, war Ozeanien mit Eurasien immer im Krieg.

Meine Ansicht? Die Frage ist mal wieder falsch gestellt. Genauso gut kann ich fragen: Was ist die Funktion von Kultur? Was ist die Funktion von Religion? Was ist die Funktion dieser Frage?
Warum also beschäftigen wir uns mit Geschichte, wenn es ein sinnloses Unterfangen zu sein scheint, da wir wohl niemals letzte Gewissheit erreichen? Diese Frage muss in letzter Instanz jeder für sich selbst beantworten – das ist meine ganz persönliche Meinung, die sicherlich nicht die führende Lehrmeinung darstellt, die bereits dafür vorgefertigte Schablonen entwickelt hat. Das Studium der Geschichte kann uns erst darauf eine Antwort geben. Einige Details – die Warnung vor der Überheblichkeit der Vernunft, die Warnung vor Manipulation, das Verständnis für unsere eigene Begrenztheit – klangen hier immer wieder an.

Kann man also tatsächlich aus der Geschichte lernen? Auch das muss ich – mit Verweis auf die großen Probleme der Erkenntnisgewinnung – folgerichtig bezweifeln. Man sollte vielleicht fragen: ist es unmöglich aus der Geschichte zu lernen? Das wiederum verneine ich. Die Mehrzahl der Geschichtsschreiber – dazu einige sehr bedeutende wie Polybios und Machiavelli – haben ihr Werk deswegen niedergeschriebene, damit nachmalige Generationen sich an den Handlungsweisen ihrer Vorfahren orientieren können.

Allerdings haben sich nie die Leute darum gekümmert, an die es gerichtet war. Um Wolfgang Will zu zitieren: „Kann man aus der Geschichte lernen? Ja, man kann. Aber es benötigt viel Fleiß, Disziplin und Intelligenz. Was der Grund ist, warum Politiker nie aus der Geschichte lernen.“

Wieder mal ein Althistoriker. Irgendwie haben die die besten Sprüche.

_________________________
*Spätestens hier frage ich mich, ob viele Menschen nicht ein völlig falsches Geschichtsverständnis haben. Geschichte handelt weniger davon, wie es früher war, sondern davon, warum es heute so ist.

Teilen

«
»