Mehr Machiavelli wagen

1. Juli 2014
Kategorie: Historisches | Machiavelli | Philosophisches

Schaut man in das heute wirkmächtigste Lexikon und sucht nach dem Begriff „Machiavellismus“, findet man folgende Definition:

Machiavellismus ist eine im 16. Jahrhundert aufgekommene Bezeichnung für eine Niccolò Machiavelli (1469–1527) zugesprochene politische Theorie, nach der zur Erlangung oder Erhaltung politischer Macht jedes Mittel unabhängig von Recht und Moral erlaubt ist. Machiavellismus ist zumeist negativ konnotiert und wird als Schlag- und Schimpfwort (gegenüber Gegnern) verwandt. Inwieweit Machiavelli wirklich einen Machiavellismus vertreten hat, ist umstritten.

Der letzte Satz erscheint als der wichtigste. Mein Beitrag an dieser Stelle soll aber nicht auf das unendliche Kapitel des „Machiavellistischen Missverständnisses“ zielen. Dass der Principe nur ein Werk von Machiavelli ist, und zugleich häufig fehlinterpretiert, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Mir soll es an dieser Stelle um einen anderen Aspekt gehen.

Einer der interessantesten Ansatzpunkte zum Verständnis Machiavellis besteht darin, Machiavellis Sicht auf die Dinge nachzuvollziehen. Wie hat Machiavelli die Welt gesehen? Woher kommen seine Ansichten? Was ist der Kern, die Wurzel seiner Methode? Um ein echter Machiavellist zu werden, bedarf es der Fähigkeit, wie Machiavelli die Umwelt zu sehen und zu sezieren. Das erscheint mir insbesondere heute interessant. Wieso? Weil unser Blick auf die Welt entmenschlicht wird. Der Faktor Mensch weicht den Faktoren von Umwelt, von Schicksal, von Berechnung, von Struktur oder anderen Parametern. Kein Sachkundiger käme auf die Idee zu behaupten, dass Barack Obama die Außenpolitik der USA maßgeblich leitet. Vielmehr wird er die administrativen Strukturen, Lobby-Parteien und andere Organisationen dafür verantwortlich machen.

Machiavelli würde dem widersprechen. Denn hinter jeder Gruppe oder Organisation – sogar Staat – stehen Individuen, die agieren. Paradoxerweise ist gerade der „Unmensch“ Machiavelli in seiner Betrachtungsweise zutiefst menschlich. Ein Beispiel: der Einfall der Franzosen in Italien im Jahr 1494 wird als eine der größten Katastrophen der Halbinsel angesehen. Sie zerstörte die 40 Jahre Frieden zwischen den italienischen Staaten, ihre innere und äußere Stabilität, vernichtete die Wirtschaftsgrundlage Unzähliger, verwüstete Landstriche, brachte Territorien für Jahrhunderte unter Fremdherrschaft. Für Zeitgenossen galt dieses Unglück als eine Strafe Gotte. Als unabwendbares Schicksal. Guicciardini, Machiavellis Landsmann und bedeutendster Historiker der italienischen Frühen Neuzeit, bezeichnete Karl VII. von Frankreich als Monster, das in Italien eingefallen sei.

Und Machiavelli selbst? Für Machiavelli waren die Situationen, die sich zuvor ergeben hatten, natürlich die Umstände der Zeit. Das bedeutete aber nicht, dass man diese nicht ändern konnte. Machiavelli zeigt deutlich, dass es Papst Alexander VI., der Kronprinz Alfonso von Neapel und vor allem der Herzog von Mailand – Ludovico Sforza – waren, die Italien in den Abgrund gesteuert hatten, weil es ihrem Interesse gelegen hatte. Sie waren der Lage aber nicht Herr geworden. Machiavelli legt ihre Fehler schonungslos auf. Ihr Niedergang lag nicht am Schicksal allein; es war ihre Unfähigkeit, welche ursächlich dafür war.

Obwohl Machiavelli der Charakter ist, den wir am ehesten mit dem Begriff der Staatsraison verbinden würden, ist er es, der das Individuum als Akteur sieht. Auch in Republiken ist nie von Venedig oder Florenz die Rede, sondern von den Venezianern und Florentinern. Unsere Neigung, Politik als Sache von Ländern zu sehen – was in Phrasen wie „Deutschland sprach sich dagegen aus“ oder „Russland droht“ deutlich wird – wäre Machiavelli fremd gewesen. Er nennt die Täter beim Namen. Ihn interessieren die Akteure hinter den Kulissen.

Detektivisch sucht Machiavelli in seiner Diplomatenzeit demnach danach, was „die Natur“ seiner Gesprächspartner ausmacht, das heißt: ihren Charakter. Wie funktioniert die Persönlichkeit, mit der ich da verhandele? Was will sie? Wie will sie sich darstellen, wie will sie wahrgenommen werden? Was sind ihre Ziele? Und wie kann ich dies nutzen, um mit ihr verhandeln zu können? Welche Motive treiben diesen Menschen an? Und nicht zuletzt – wie kann ich dieses Wissen nutzen, um diesen Menschen einzuschätzen, zu überzeugen oder sogar zu manipulieren?

Das hebt Machiavelli ganz deutlich über viele politische Ideologen, die über Macht philosophierten. Machiavelli interessierten keine Ideologien, keine Weltbilder, keine Strukturen, keine Dynastien, keine Nationen, keine Religionen. Ihn interessierten Menschen. Diese einzuschätzen, und daraus eine praktische Erkenntnis zu gewinnen erscheint simpel – ist aber eine hohe Kunst, die viel mehr mit praktischer Politik zu tun hat als der Liberalismus, der vom Ende der Geschichte träumt, oder den marxistischen Denkschulen, die glauben, dass Geschichte eine Richtung besitzt.

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