San Faustino. 15. Februar. Ein Datum, das für die meisten nur der Tag nach Valentinstag ist. In Italien der Tag der Singles, nach dem Tag der Verliebten. Faustino, das ist ein unbekannter Heiliger außerhalb der Provinz Brescia, der in Deutschland nur deshalb Bekanntheit besitzt, weil sich die Formen „Faustinus“ und „Faustus“ davon ableiten, und damit der Name jenes Charakters, der durch Goethe zu einer der wichtigsten Figuren der Literaturgeschichte wurde.
Faustino, das ist für mich weitaus mehr. Das ist mein erster Charakter, der mich seit dem Sommer 2003 in Thionville begleitet, zusammen mit seinem großen Rivalen. Faustino, das ist jener nachdenkliche, rationale, wieder zynische Teil meiner selbst und aller Menschen, die kritisch hinterfragen, ob denn nicht die ganze Welt aus dem Lot und verrückt sei. Faustino, das ist der melancholische Norditaliener im Gegensatz zum fröhlichen südlichen Temperament, das kultivierte, das gebildete, das gelehrte, das philosophische, das feine Italien, welches die meisten Leute nicht kennen, weil sie bei der Nennung der Halbinsel an Pizza, Pasta, Berlusconi und Mafia denken.
Faustino geht weit über das hinaus, was jeder andere meiner Charaktere im Laufe seines Lebens vermag. Er muss sich und die Welt überwinden, und am Ende seines Wirkens sogar noch weit mehr. Faustino ist ein Held, und will es nicht sein; muss es aber sein, weil er ansonsten schuldig würde. Und eben weil Faustino mehr sieht, mehr begreift und mehr überstehen muss als jeder andere meiner Charaktere, ist er für meine Philosophie so wichtig.
Manche können mit meinem Humor leben. Viele halten ihn ja gerade für stilbildend. Einige könnten ohne ihn. Wieder andere finden ihn völlig deplatziert. Damit ist jener unpassende, groteske Humor gemeint, den Laura beim Vorsteher von Wudang begegnet; jener, dem Faustino auf dem Vierwaldstätter See antrifft; und viele andere Episoden, bei denen meine Charaktere anscheinend auf Geschehnisse treffen, die völlig aus dem Rahmen fallen. Ich wurde mal gefragt, warum ich sie nicht streiche, da sie mir auch schon Absagen brachten.
Die Antworten geben die Geschichten selbst. Die Welt, das ist ein Irrenhaus. Es spielt keine Rolle, ob es Hofintrigen, blutrünstige Geheimorganisationen, perfide Genies oder verrückte Charaktere sind. Der Effekt wird durch völlig deplatzierte Momente verschärft. Es hat System. In meinen Geschichten geht es um Erkenntnis, um „Wahrheit“, um das, was wir fassen können. Bevor wir wissen können, ob etwas echt ist, müssen wir wissen, ob unsere Umwelt überhaupt existiert. Descartes hat bisher die verständlichste Form dessen geliefert, was als gesicherte Basis von Selbstbewusstsein gelten kann: ich denke, also bin ich. Ansonsten könnte alles ein schlimmer, böser Traum sein, oder gar Trugbilder eines Dämonen, die mir eingeflüstert werden, wenn ich in Wirklichkeit an einem Stuhl gefesselt bin, und mein ganzes Leben nur (alp)träume.
Der Humor ist daher das letzte Mittel, um die Groteske, um das Untragbare dieser Welt zu bekämpfen. Der Mensch bekämpft damit die Unerträglichkeit des Lebens. Insbesondere die Italiener, die wie kein anderes Volk besetzt, unterdrückt und betrogen wurden, haben diesen Spott zum Volkssport erhoben, weil sie Jahrhunderte daran gewohnt sind. Die Wurzeln des Sarkasmus liegen darin. Faustino ist eine ironische Figur, weil er ein ironisches Schicksal hat, mit ironischer Haltung dies erträgt und damit bekämpft. Obwohl heroisch, neigt er auch zur Selbstironie, wenn er seine eigene Rolle bezweifelt.
Wenn demnach in den Löwenbüchern oder venezianischen Novellen bizarre Ereignisse oder Sprüche auftauchen, ist dies nicht zuletzt ein Weckruf. Wir können uns nicht sicher sein, ob diese Welt existiert. Wir können uns auch nicht sicher sein, ob die Charaktere nicht nur träumen. Und wir sollten uns in Acht nehmen, Dinge als absurd zu brandmarken, wenn wir selbst nicht wissen, was die Wahrheit ist. Die Welt ist grotesk, die der Löwen ist es umso mehr. Das hat aber nicht immer mit einem flotten Gag zu tun. In Geschichten, in denen es um nichts mehr als die Suche um Wahrheit geht, können wir nicht sicher sein, ob die Wurzeln eines Baumes, von dem wir nur den Stamm sehen, nicht in Wirklichkeit Tentakel sind.
Der Irrsinn der Geschichten ist daher Teil der Realität, die wir nicht fassen können. Was die Wahrheit ist, das weiß nicht einmal Faustino. Aber der Sinn seines Tuns ist es nicht, die Wahrheit zu wissen, sondern die Wahrheit zu suchen – mit allen Hindernissen, ob im Bereich des Möglichen oder Unmöglichen, die allen Wahrheitssuchenden im Weg stehen. Zum Großen und Ganzen, zu dem die Wahrheit gehört, kann eben nicht nur das Rationale gehören. Die Groteske ist daher zwingend, kein Beiwerk. Denn sie stellt uns vor die Frage, ob das, was vor uns liegt, tatsächlich existiert, und das Schicksal uns Steine in den Weg legt – oder wir nur träumen…