Das Drehbuch, an dem ich nicht schreibe (III)

19. Januar 2014
Kategorie: Das Drehbuch, an dem ich nicht schreibe

SZENE III

 

AUSSEN. SAN PAOLO – KANÄLE – TAG

 

Ein Kanal, ähnlich denen von Venedig, sehr idyllisch. Häuser aus rotem Backstein und Gartenmauern, über die sich grüne Pflanzen und Blumen schlängeln, offene Läden, aus denen KINDERLACHEN und GESÄNGE zu hören sind und eine Mutter die Familie ZUM MITTAGESSEN ruft. Das Wasser ist sauber, der Himmel klar. Eine Gondel fährt durch die Wassergasse.
Auf dem Heck steht LIDIA ALBIZZI (24). Lidia hat ein mildes Lächeln, macht eine liebenswerte Erscheinung, ist aber zugleich leidenschaftlich und kann in bestimmten Momenten das Klischee der temperamentvollen Italienerin erfüllen, die mit Backblechen um sich wirft. Lidia ist das Nachbarsmädchen von nebenan, das jeder kennt, und welche ihre Arbeit und ihren Stadtteil über alles liebt; als letztes Mitglied ihrer Sippe versucht sie ihre Familienbäckerei durch die Zeit zu retten.
Auf Lidias Schulter sitzt ANDROMACHE, ein Hermelin und Lidias Haustier, das als Ersatzkatze in der Bäckerei dient.
Im Hausgeschoss über ihr SCHLAGEN zwei Fensterläden auf. ELISABETTA schaut heraus, winkt Lidia zu.

 

ELISABETTA:
Buon Giorno, Lidia! Heute ohne Nebbia unterwegs?

 

LIDIA:
(heiter)
Nicht, wenn ich Bestellungen ausliefern muss. Der Kunde ist König, Elisabeta – und Könige lässt man nicht warten!

 

INNEN. SAN PAOLO – GEIGENBAUWERKSTATT – TAG

In der Geigenbauwerkstatt steht FRANCESCO VIOLINO (39). Auf einem Tisch liegen Holzspäne und Werkzeuge. Er nimmt sein neuestes Instrument in die Hand und spielt eine MELODIE. Hinter ihm KLOPFT es an der Türe.

 

FRANCESCO:
(in seine Musik vertieft)
Giulia, tesoro, würdest du bitte für mich an die Türe gehen?

 

GIULIA VIOLINO (35) streift im Hintergrund vorbei, öffnet die Türe.

 

GIULIA:
Signora Albizzi, welche Freude!

 

AUSSEN. SAN PAOLO – GEIGENBAUWERKSTATT – WASSERSTEG – TAG

 

Lidia steht auf einem Steg am Hintereingang der der Geigenwerkstatt. Sie steht vor der Türe, hinter ihr ist der Kanal, ihre Gondel und die gegenüberliegende Hausseite zu sehen.
Sie hat ein Brett auf beiden Händen liegen, über das ein weißes Tuch gestülpt ist.

 

LIDIA:
(lächelnd)
Buon giorno, Signora Violino. Euer Mann ist abgängig?

 

Hinter ihren Rücken erklingt ein Violinenspiel.

 

GIULIA:
Der Meister probt. Da kann ihn nichts aus der Ruhe bringen.

 

Giulia nimmt das Brett an. Sie nimmt das weiße Tuch weg. Auf dem Brett liegt ein Laib Marzipan.

 

GIULIA:
Albizzi-Qualität, wie immer.

 

LIDIA:
Dafür steht unser Familienbetrieb seit 125 Jahren.

 

Im Hintergrund verklingt plötzlich die Musik.

 

FRANCESCO (OFF):
Vernehme ich da den Geruch von frischem Marzipan?

 

Die beiden Frauen grinsen sich vielsagend an, als bestätigte der letzte Satz das Urteil.

 

AUSSEN. SAN PAOLO – JESUITENSCHULE – WASSERSTEG – TAG

 

Die Jesuitenschule ist ein langes Gebäude, das sich an einer Seite an einem Kanal entlangzieht. Eine Türe mit opulentem Portal führt zum Wasser und zu einem Steg.
Lidia klopft mit einem Türklopfer gegen die Pforte. Neben ihr ruht ein Jutesack.
Aus dem Haus ist KINDERLÄRM zu vernehmen.
Trotzdem bleibt PATER BARTOLOMEO (40) völlig gelassen.

 

BARTOLOMEO (OFF):
Liebe Kinder, nicht auf dem Flur toben. Und Gino, der liebe Gott sieht es gar nicht gerne, was du mit dem Kuschelhermelin von Enrica machst.

 

Die Tür öffnet sich. Lidia und der Pater sind erfreut einander zu sehen.

 

BARTOLOMEO:
Lidia, mein Kind. Der Heilige Paulus muss dich vom Himmel gesandt haben.

 

LIDIA:
(bescheiden)
Ich habe keine Schule besucht, Pater. Mit der Theologie kennt Ihr Euch besser aus.

 

BARTOLOMEO:
Ich bin davon überzeugt, dass dieses Brot himmlisch ist – denn ein Engel hat es gebacken. Das ist Scholastik.

 

Eine Kinderschar im Grundschulalter rennt plötzlich aus der Jesuitenschule heraus, strömt an der Rechten und Linken des Paters vorbei. Darunter FLORENTIN (7), ein schüchternes Mädchen, und GINO (9), ein vorlauter Junge.
Die Rufe LIDIA, LIDIA! Und DAS BROT IST DA! erschallen dazwischen.

Lidia öffnet den Jutesack, aus dem frisches Brot hervorlugt. Die Kinder laufen zum Sack, und bedienen sich darin, in üblichem palatinisch-italienischen Chaos, bis Florentin an die Reihe kommt, sich ziert.

 

FLORENTIN:
Darf ich auch zwei haben?

 

Im Hintergrund beschweren sich die Kinder, dass Florentin alle aufhält. Lidia beugt sich zu ihr hinab.

 

LIDIA:
Nimm dir so viele wie du willst. Es ist genug für alle da!

 

Zaghaft nimmt Florentin zwei Brötchen aus dem halbleeren Sack. Danach kommt Gino, ein Dreikäsehoch, der herausfordernd zu Lidia hochsieht.

 

GINO:
Ich habe gehört, man darf sich auch mehr nehmen?

 

Lidia nickt ihm gütig zu. Gino nimmt ein Brot, steckt es sich in den Mund – und greift dann nach dem ganzen Jutesack, läuft damit zurück in die Jesuitenschule. Die Kindermeute verfolgt den Sack unter ärgerlichen GINO!-Rufen.
Die beiden Erwachsenen bleiben amüsiert zurück. Lidia holt aus ihrer Gondel ein Bündel Papier herbei, den sie dem Pater reicht.

 

LIDIA:
Und das ist für Euch.

 

Bartolomeo nimmt das Geschenk an. Er öffnet es, und erblickt einen Packen Bandnudeln. Er macht eine Segnungsgeste durch ein Kreuzzeichen.

 

BARTOLOMEO:
Der Herr segne San Paolo und der Herr segne Euch, Lidia Albizzi…

 

Sein Blick bleibt auf den Nudeln fixiert. Er geht zurück in die Schule, und lässt Lidia zurück.

 

BARTOLOMEO:
… und er segne auch diese Pappardelle, die schon viel zu lange der reinigenden Kraft des Kochwassers entbehren.

 

AUSSEN. SAN PAOLO – HAUS VON OPA HOPPENSTEDT – WASSERSTEG – TAG

 

Wieder ein Steg an einem Kanal mit einer Haustüre, dieses mal ein einfacher Eingang. OPA HOPPENSTEDT (75), ein schrulliger Greis, vollführt ausladende Armbewegungen, als er die Türe öffnet. Im Hintergrund dröhnt MARSCHMUSIK.
Lidia bietet ihm ein Fladenbrot an.

 

LIDIA:
Eure Focaccia, Signore.

 

OPA HOPPENSTEDT:
(zeternd)
Früher war mehr Rosmarin!

 

Lidia legt ein Säckchen auf die Fladenbrote.

 

LIDIA:
Auch daran habe ich gedacht, Signore.

 

Opa Hoppenstedt ist sichtlich erfreut, und kramt einige Silbermünzen hervor, bei denen es sich um Lire handelt. Er nimmt die Focaccia und das Säckchen an, drückt Lidia die Münzen in die Hand.

 

OPA HOPPENSTEDT:
Hehe. Stimmt so!

 

AUSSEN. SAN PAOLO – DRUCKEREI – WASSERSTEG – TAG

 

Die Druckerei ist ein mehrgeschossiges Gebäude an einem Kanal. Sie gehört dem Wiener BERNARDO DA LOTTI (30) – eigentlich: Bernhard Loewes – der sich als Druckermeister in Palatina niedergelassen hat. Mit blauen Augen und dunkelblondem Bart fällt er unter den Palatinern auf. Er spricht mit einem leichten Einschlag von Wiener Schmäh.
Bernardo öffnet die Türe. Seine Hände sind von Druckerschwärze gezeichnet. Im Hintergrund STAMPFEN die Druckerpressen, DRUCKERGESELLEN laufen, SETZER erledigen ihre Arbeit.
Lidia steht vor ihm, hinter ihr Kanal und Gondel.

 

BERNARDO:
(amüsiert)
Signora Bäckerin?

 

LIDIA:
(im Scherz)
Signore Druckermeister?

 

Bernardo wischt sich an einem Tuch die Hände ab. Lidia hält ihm ein Körbchen hin, in dem zwei berlinerähnliche Krapfen liegen.

 

LIDIA:
Für die Mittagspause.

 

BERNARDO:
(erfreut)
Krapfen – wie in der Wiener Heimat!

 

Bernardo wirft das Tuch weg und stürzt sich auf die Süßspeise, obwohl die Hände noch schwarz sind. Krümel und Marmelade verfangen sich in seinem Bart.

 

BERNARDO:
(essend)
Mit Marillenmarmelade! Köftlif!

 

LIDIA:
Dafür sind Nachbarn doch da. Wir sehen uns, Signore da Lotti.

 

Sie zwinkert ihm zu, will sich zur Gondel hinter dem Steg umdrehen. Bernardo hat den ersten Krapfen aufgegessen, spricht zu ihr, da er den zweiten in der Hand hält.

 

BERNARDO:
Darf man übrigens gratulieren?

 

Lidia wendet sich wieder um.

 

LIDIA:
In der Bäckerzunft wechselt man sich jährlich ab. Irgendwann musste ich mit dieser Wahl rechnen.

 

BERNARDO:
Nicht so bescheiden. Euer Vater wäre stolz auf Euch.

 

LIDIA:
(etwas gedämpfter)
Ja, das wäre er…

 

BERNARDO:
Ihr seid nun die Zunftmeisterin der Bäcker, und damit eine der wichtigsten Repräsentanten der Großen Gilde, Signora Albizzi. Nicht jeder durfte in so jungen Jahren schon im Rat sitzen.

 

Bernardo beißt in den zweiten Krapfen.

 

BERNARDO:
(schmachtend)
Mhm, Zwetschge!

 

LIDIA:
Was will ich schon im Rat und bei den Nobili der Città Antica? Wer braucht den Palatin, wenn er San Paolo haben kann? Wer tugendhaft lebt und handelt, der legt seinen Adel an den Tag.

 

BERNARDO:
Was natürlich nicht ausschließt, dass Ihr früher Besuch vom Palatin erhalten habt.

 

LIDIA:
Ich muss weiter, Signore da Lotti.

 

BERNARDO:
So war es nicht gemeint…

 

LIDIA:
(lächelnd)
Bei den vielen Kunden will ich nicht, dass sich Schlangen vor der Bäckerei bilden. Niemand soll meinetwegen warten.

 

Lidia geht zurück auf ihre Gondel. Erst, als sie sich abstößt, scheint Bernardo klar zu werden, was gemeint ist. Er kaut an seinem Krapfen, und als er etwas sagen will, ist Lidia bereits weggefahren.

 

BERNARDO:
Jessas. Sie weiß es noch nicht…

 

Bernardo sieht ihr nach, isst seinen letzten Krapfen auf – und knallt die Türe hinter sich zu.

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