SZENE IV
INNEN. VILLA TESINO – WOHNSAAL – TAG
Ein dunkler Saal mit Marmorboden. Licht dringt nur von einem Fenster im Hintergrund ein, das durch Vorhänge zu drei Vierteln zugezogen ist. Es ist Tag, aber dadurch erscheint es wie Abend.
RAFFAELE DI TESINO (30) betrachtet eine Wand. Raffaele ist ein kühler Charakter mit melancholischem Einschlag, der zum Pragmatismus neigt, um seine Ziele zu erreichen – die aus der Wiedergewinnung seines Grafentums und Machtgewinn bestehen. Gibt sich in der Öffentlichkeit charmant, kann aber manchmal hochnäsig wirken.
Raffaele hält ein Glas Wein in der Hand. Sein Blick ist auf das Familienwappen der Tesino gerichtet, das die gesamte Wand vor ihm einnimmt. Es ist schwarz, im Zentrum prangt eine silberne Lilie.
Im Schatten der Seitenwand steht ALBERTO, Raffaeles Berater.
RAFFAELE:
Wie lange ist es her, Alberto?
ALBERTO:
Zehn Jahre, zwei Monate und siebzehn Tage, vostra Grazia.
Raffaele nimmt einen Schluck Wein.
RAFFAELE:
Ihr rechnet in so mathematischen Begriffen. Für Euch besteht auch die Zeit nur aus Minuten und Stunden. Das bedeutet aber nicht, dass Ihr wisst, was Zeit wirklich bedeutet. Selbst das tiefste Schwarz ist nie eindeutig.
Raffaele fährt mit der Hand über die schwarze Wappenfarbe.
RAFFAELE:
Alles ist Zwielicht.
ALBERTO:
Ich weiß jedenfalls so viel, als dass die Schwärze Nichts ist.
Raffaele dreht sich zu Alberto.
RAFFAELE:
Nichts? Wisst ihr, was Nichts ist?
Raffaele öffnet seine freie Handfläche.
RAFFAELE:
So viel. Das ist die Hilfe der Franzosen, die man meiner Familie damals geleistet hat.
Raffaele nippt am Wein, schaut zum Wappen.
RAFFAELE:
Die Franzosen, deren Lilie wir in unser Wappen aufgenommen haben.
ALBERTO:
Das bestätigt nur, was ich Euch gesagt habe. Nichts. Schwärze. Alles dasselbe, vostra Grazia.
RAFFAELE:
Es gibt noch weniger als nichts, Alberto. Das Gegenteil der Existenz ist nicht das Nichts. Sondern, wenn man etwas wegnimmt.
Raffaele geht zu einer Karte. Sie zeigt die territorialen Verhältnisse Italiens zur Zeit der Italienischen Kriege. Dabei sind die habsburgischen und französischen Gebiete hervorgehoben.
RAFFAELE:
Das ist in Italien seit 50 Jahren der Dauerzustand. Fremde Mächte, die sich auf unsere Kosten bereichern. Die Franzosen auf der einen Seite im Nordwesten…
Raffaeles Hand fährt über Frankreich, die Lombardei und Mittelitalien.
RAFFAELE:
… die Spanier im Süden…
Raffaeles Hand fährt über Sardinien, Sizilien und Neapel.
RAFFAELE:
… Österreich im Nordosten.
Raffaeles Hand deutet auf die österreichischen Erblande.
RAFFAELE:
Leider regiert auf spanischem und österreichischem Thron ein Habsburger. Italien wird von ihnen eingekreist. Erwürgt. Erstickt.
Raffaele macht eine Handbewegung zu den Ländereien Spaniens und Österreich, die auf der Karte ein Band ergeben.
RAFFAELE:
Denn das Haus Habsburg hat mehr genommen, als es jemals gegeben hat. Keiner hat dies mehr erfahren müssen als das Haus Tesino.
Raffaele wendet sich von der Karte ab, widmet sich wieder Alberto.
RAFFAELE:
(selbstbewusst)
Palatina dagegen ist ein Fels in der Brandung der Italienischen Kriege. Ein Paradies für Flüchtlinge aus allen Staaten. Freidenkern. Künstlern. Selbst für andere Religionen.
ALBERTO:
Und vor allem: für politisch Verfolgte.
Raffaele hebt die Mundwinkel beim letzten Satz, schwenkt den Wein im Glas.
RAFFAELE:
(wissend)
Das ist die Kunst des Zwielichts. Noch sieht alles danach aus, als würden die Habsburger dominieren. In Palatina. In Italien. In Europa. Aber niemand weiß, wann die Dunkelheit der Nacht beginnt.
GERÄUSCHE erklingen. Alberto und Raffaele drehen sich zur Saaltüre um. Der Diener PIERO tritt ohne Ankündigung ein.
RAFFAELE:
(düpiert)
Habe ich etwas von „herein“ gesagt?
PIERO:
Signore di Tesino, ich bin untröstlich, aber der Minister Amilcare dell’Ulivo wünscht Euch zu sprechen.
RAFFAELE:
(erstaunt)
Amilcare dell’Ulivo? Ihr meint den Amilcare dell’Ulivo? Der Vertraute des Dogen Buonavista?
PIERO:
Ganz recht, der und kein anderer!
RAFFAELE:
(argwöhnisch)
Was führt einen Nobile aus den Zwölf Familien Palatinas zu einem Nobile „dritten Ranges“?
Das Gespräch wird von Schritten unterbrochen. AMILCARE DELL’ULIVO (42) tritt ins Licht. Amilcare ist ein Vollblutpolitiker, hinter dessen freundlicher Fassade ein verschlagener Fuchs steckt, der seine Schachzüge weit voraus plant. Er ist ein Opportunist, der selbst eine borghettinische Ziege zum neuen Dogen machte, um die Machtbasis der Ghibellinen zu sichern und Braccioleone zu verhindern.
Amilcare schaut hinab auf seine Handschuhe, die er auszieht.
AMILCARE:
Politik, di Tesino. Politik.
Amilcare wendet den Blick zu Raffaele.
AMILCARE:
(listig)
Habe ich bereits meine Liebe zum Haus Frankreich bekundet?
RAFFAELE:
Bisher habe ich Euch jedenfalls noch mit keiner Lilienkokarde herumlaufen sehen.
AMILCARE:
Die Umstände erfordern es.
Amilcare faltet konspirativ seine Hände, und schaut Raffaele vielsagend an. Der schnippt nach einem weiteren Glas Wein für den Gast.