Sie wollten jetzt nicht anerkennen, was sie früher verspottet hatten

12. März 2020
Kategorie: Europa | Fremde Federn | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Non enim sciunt quid faciunt

Im 31. Kapitel der „Promessi sposi“ bricht die Pest in Mailand aus. Alessandro Manzoni hat dieses Kapitel sehr historisch und auf Quellen basiert geschrieben. Vieles davon kommt nicht unbekannt vor. Hier ein dritter Auszug, der allerdings chronologisch zwischen dem zweiten und dritten liegt. Nicht ganz unähnliche Erfahrungen mehren sich derzeit zuhauf.

Da jedoch nach jeder gemachten Entdeckung die Behörde den Befehl gab die Sachen zu verbrennen, die Häuser zu schließen und die Familien nach dem Krankenhause zu bringen, so ist daraus leicht abzunehmen, wie groß der Zorn und die Lästerungen aller gegen sie sein mußten; »der Adel, die Kaufleute, das niedere Volk, alle wollten sich überzeugt haben«, sagt Tadino, »daß es Plackereien ohne Grund und ohne Zweck wären«. Hauptsächlich fiel der Haß auf zwei Aerzte, den genannten Tadino und den Senator Settala, den Sohn des Oberarztes; er ging so weit, daß sie durch keine Straße mehr gehen konnten, ohne mit Schimpfworten, wo nicht gar mit Steinen angegriffen zu werden. Und gewiß war es seltsam und verdient bemerkt zu werden, daß diese beiden Männer, die sich auf alle Weise anstrengten, eine entsetzliche Plage abzuwenden, die sie seit mehreren Monaten herannahen sahen, von allen Seiten nur auf Hindernisse stießen, zugleich die Zielscheibe der Schmähungen waren und Feinden des Vaterlandes gleichgestellt wurden: pro patriae hostibus, sagt Ripamonti.

Dieser Haß ging auch zum Theil auf die übrigen Aerzte über, die, gleich ihnen von dem Dasein des Contagium überzeugt, zu Vorkehrungen riethen und ihre schmerzliche Gewißheit andern mitzutheilen suchten. Von den Verständigeren wurden sie der Leichtgläubigkeit und des Eigensinns beschuldigt; für die Meisten war es ein offenbarer Betrug, eine angestiftete Kabale, um von dem allgemeinen Schrecken Nutzen zu ziehen.

Der beinahe achtzigjährige Oberarzt Lodovico Settala, welcher Professor der Heilkunde an der Universität zu Pavia gewesen war, dann der Moralphilosophie zu Mailand, der Verfasser vieler, damals hochgeschätzter Schriften, berühmt durch die Einladungen, die von der Universität Ingolstadt, Pisa, Bologna und Padua an ihn ergangen, die er alle zurückgewiesen hatte, war gewiß einer der angesehensten Männer seiner Zeit. Zu seinem wissenschaftlichen Ruhme gesellte sich der eines musterhaften Lebens und zu der Bewunderung das Wohlwollen wegen seiner großen Menschenliebe, mit der er die Armen heilte und ihnen wohlthat. Das Gefühl der Achtung aber, das seine Verdienste uns einflößt, wird dadurch gestört und getrübt, daß der arme Mann, der sich gerade in dieser Zeit hätte darüber erheben müssen, die gewöhnlichsten und verderblichsten Vorurtheile seiner Zeitgenossen theilte; er war ihnen voraus, aber ohne sich von dem großen Haufen zu entfernen, wodurch ein solcher Mann das Unglück herbeizieht, und oftmals des Ansehens, das er sich in anderer Art erworben, verlustig geht. So groß nun auch das Ansehen war, dessen er genoß, so reichte es doch nicht hin, um in diesem Falle die Meinung von dem zu besiegen, was die geistreichen Menschen gemeines Volk und die Dummköpfe ein achtungswerthes Publikum nennen; es konnte ihn nicht einmal vor der Erbitterung und den Beleidigungen des Theiles derselben schützen, der am schnellsten dazu schreitet, sein Urtheil durch Thätlichkeiten zu beweisen.

Eines Tages, als er in einer Sänfte unterwegs war, um seine Kranken zu besuchen, begann Volk sich um ihn zu versammeln und schrie, er sei der Wortführer unter denjenigen, die mit Gewalt die Pest hier haben wollten; er versetze mit seiner finstern Miene und mit seinem garstigen Barte die Stadt in Angst und Schrecken, und alles nur, um die Aerzte zu beschäftigen. Das Gedränge und die Wuth nahmen zu; die Sänftenträger sahen die Gefahr vor Augen und brachten ihren Herrn in einem befreundeten Hause in Sicherheit, das zufällig in der Nähe war. So ging man mit ihm um, weil er mit klaren Augen gesehen, weil er seine Meinung ausgesprochen und viele tausend Menschen vor der Pest hatte erretten wollen; als er aber mit einem seiner zu beklagenden Gutachten dazu mitgewirkt hatte, daß eine arme Unglückliche gefoltert, mit Zangen gezwickt und verbrannt wurde, weil ihr Herr an seltsamen Magenschmerzen litt und ein anderer Herr früher heftig in sie verliebt gewesen war, da erntete er bei dem Publikum neues Lob über seine Weisheit ein, und was unerträglich zu denken ist, neue wohlverdiente Titel.

Gegen das Ende des März aber wurden zuerst in der Vorstadt des Thores Orientale, dann in allen Vierteln der Stadt die Krankheiten und Todesfälle immer häufiger, von seltsamen Erscheinungen, von Krämpfen, Herzklopfen, Schlafsucht, von Raserei begleitet, mit den schrecklichen Kennzeichen der schwarzblauen Flecken und der Pestbeulen; der Tod erfolgte meistens schnell und gewaltsam, nicht selten auch plötzlich, ohne irgend eine vorhergehende Anzeige von Krankheit. Die Aerzte, welche sich bisher gegen das Contagium erklärt, wollten jetzt nicht anerkennen, was sie früher verspottet hatten; da sie aber für das neue Uebel, das schon zu allgemein und zu offenbar geworden, um darüber hingehen zu können, einen bezeichnenden Namen finden mußten, so nannten sie es bösartiges, pestartiges Fieber; ein elender Vergleich, eine Wortspielerei, die nur zu viel Unheil hervorbrachte; denn indem sie sich den Schein gab, die Wahrheit zu erkennen, bot sie alles auf, den Glauben daran nicht aufkommen zu lassen, daß das Uebel durch Ansteckung sich fortpflanze. Die Obrigkeit erwachte wie aus einem tiefen Schlafe und fing an, den Anzeigen und Vorschlägen der Gesundheitsbehörde ein wenig mehr Gehör zu geben, ihre Verordnungen zu befolgen, auf die Absperrung der Häuser und auf die Contumaz, die diese Behörde vorschrieb, zu halten. Sie verlangte auch fortwährend Geld, um die täglich anwachsenden Kosten des Lazarethes und so vieler anderer Dienstleistungen zu bestreiten, und forderte es von den Decurionen, bis daß es entschieden wäre – was, wie ich glaube, niemals anders als durch die That geschah – ob solcherlei Kosten der Stadt oder der königlichen Schatzkammer zur Last fallen müßten. Auch der Großkanzler machte auf Befehl des Statthalters, welcher die Belagerung des armen Casale von neuem unternommen hatte, den Decurionen Vorstellungen; der Senat drang darauf, die Stadt mit Lebensmitteln zu versehen, ehe sich das Contagium noch mehr darin ausbreite und ihr den Verkehr mit andern Ländern abschnitte; zugleich möchten sie auf Mittel denken, um einen großen Theil der Bevölkerung, dem es an Arbeit fehle, zu unterhalten. Die Decurionen suchten durch Anleihen und Auflagen Geld anzuschaffen, und von dem, was sie zusammenbrachten, gaben sie einen Theil der Gesundheitsbehörde, einen Theil den Armen; auch kauften sie Getreide ein und halfen zum Theil dem Mangel ab. Aber die größten Drangsale waren noch nicht gekommen.

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