Causa Hingst

28. Juli 2019
Kategorie: Medien | Non enim sciunt quid faciunt

Hochstapler haben nicht erst seit Claas Relotius Konjunktur. Eben jenes Magazin, dessen Edelfeder Ende 2018 die Journalistenwelt erschütterte, als herauskam, dass die Mehrheit seiner Reportagen frei erfunden war, hatte kurz davor einen anderen Fall aufgedeckt. Martin Doerry vom Spiegel schrieb im Oktober 2018 einen Artikel darüber, dass der jüdische Gemeindevorsteher von Pinneberg – Wolfgang Seibert – gar kein Jude war. Pinneberg hielt Vorträge, setzte sich für den interreligiösen Dialog ein und befeuerte eine „Protestantisierung“ des jüdischen Gemeindelebens. Spätestens 2014 hätte man eigentlich merken müssen, dass irgendetwas an der Sache faul war, als Seibert einem Muslim „Kirchenasyl“ gewährte. Seiberts Vorfahren waren keine Juden, die angeblich in Auschwitz getöteten Verwandten evangelisch. Als Ansprechpartner der taz reichte es aber dennoch, um in der Vergangenheit gegen echte Juden – wie jene der Chabad-Bewegung – zu polemisieren

Fast vergessen ist da schon der Fall Irena Wachendorff. Wachendorff galt lange Zeit als medialer Flankenverstärker von CDU-Mann Ruprecht Polenz; damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags. Als „Vorzeigejüdin“ durfte sie dann auch die israelische Politik kritisieren und Polenz bei ähnlichen Seitenhieben unterstützen. Die „deutsch-jüdische Lyrikerin und Friedensaktivistin“, wie man sie allerorten im Internet bezeichnet fand, schwang verbal den ganz großen Hammer, schließlich habe sie sogar in den Israeli Defence Forces (IDF) gedient. Und natürlich: auch Wachendorff war eine Tochter von Holocaustüberlebenden. Was dabei alles rumkam, können Sie hier noch einmal nachlesen. Das Ende war dasselbe: Wachendorffs Vater war evangelischer Wehrmachtsoffizier, ihre Mutter erwiesenermaßen weder jüdisch, noch in Auschwitz. In der Jerusalem Post gestand sie den größten Teil ihrer Lügen – inklusive der Beteiligung am Libanonkrieg – ein. Ungeachtet der offensichtlich politisch insinuierten, pseudo-jüdischen Flankendeckung für Ruprecht Polenz, dem es um die Fundamentierung seiner Israelkritik ging, ist letzterer heute wenig dafür bekannt, verbal abgebaut zu haben. Im Gegenteil.

Letzteres sei erwähnt, weil auch die Causa um Marie Sophie Hingst aus ganz bestimmten Gründen in diese Aufzählung passt. Nicht nur, weil es sich um eine sog. „Kostümjüdin“ (Broder dixit) handelt. Hingst hatte über ihren Blog „Read on my dear, read on“ Bekanntheit erlangt. Dort beschrieb sie Erinnerungen an ihre jüdische Großmutter und setzte ihren toten Verwandten ein Denkmal, die in Auschwitz umgekommen seien. Hingst ging aber als promovierte Historikerin noch einen Schritt weiter, als sie der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem Dokumente zu 22 getöteten Juden aus Auschwitz zukommen ließ, allesamt Verwandte von Hingst. Mit ihrem Blog machte sie solche Furore, dass es für eine Auszeichnung zur „Goldenen Bloggerin 2017“ langte. Ein Jahr später folgte von der „Financial Times“ ein Preis für einen Essay. Mit ihren Artikeln zum Aufklärungsunterricht männlicher Flüchtlinge, den sie in einer deutschen Kleinstadt betrieben hätte, schaffte sie es in die Zeit und Deutschlandfunk Nova.

Aber auch hier: alles geflunkert und gelogen. Derselbe Martin Doerry, der Wolfgang Seibert auffliegen ließ, schnappte sich auch Hingst im Verband mit der Historikerin Gabriele Bergner. Der tragische Ausgang: Hingst wurde am 17. Juli von der Polizei in ihrer Dubliner Wohnung tot aufgefunden. Die Zusammenhänge dazu stehen in der Irish Times am besten beschrieben.

Medien spekulieren jetzt (wieder einmal) über das gestörte Verhältnis zwischen Juden und Deutschen, über krankhafte Auswüchse oder dem Hang dazu, das Opfer im Tätervolk sein zu wollen. Dabei wird ein Gedankengang wenigstens leicht geschnitten: nämlich, dass in einer Gesellschaft, in der das Opferdasein Bonuspunkte bereithält, verletzlich wird für Hochstapler, die sich keiner Kritik mehr aussetzen müssen. Ihre „Identität“ macht sie heilig. Das gilt im Übrigen schon lange nicht mehr für den Holocaustüberlebenden allein: im Gegenteil ist die jüdische Identität in den letzten Jahren von neueren „Trends“ überholt worden. Ein Hinweis mag sein, dass Polenz in der „Causa Wachendorff“ seine Kostümjüdin vor allem dazu verwendete, um die Ungerechtigkeit Israels zu zelebrieren. In einer Bundestagsrede, just zu der Zeit, als Wachendorff entlarvt wurde, machte Polenz klar, dass wahre Rechtsextreme sich dadurch auszeichneten, große Israelfreundschaft vorzutäuschen, um umso gezielter gegen Muslime zu hetzen. Dass Polenz selbst eine falsche Jüdin benutzte, um eine israelkritische Politik zu verkaufen, passt ins selbe Bild. Das heißt aber im Umkehrschluss: im Zweifelsfall darf man die Opfer des Holocaust durch Hochstapelei verhöhnen, indem man sich als einer der Angehörigen ausgibt, wenn es denn der Sache dient. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit ist dabei nicht etwa die persönliche Selbsterhöhung, sondern die politische Instrumentalisierung. Die Shoa hat keinen Eigenwert mehr, sie dient als Vorwand für zeitgeistige Politik. Wie das bei Juden ankommt? Man nimmt es mit bitterbösem Humor: vielleicht wäre eine Casting-Agentur überfällig.

Außerhalb Deutschlands ist das Phänomen ebenfalls nicht unbekannt. Zum Beispiel in den USA. Elizabeth Warren von der Demokratischen Partei – eine der schärfsten Kritikerinnen von Präsident Donald Trump – verwies in der Vergangenheit immer wieder auf ihr indianisches Blut. Welche Herkunft könnte in Amerika die meisten Schuldgefühle auf sich ziehen? Natürlich die eines „Native American“. 1984 fügte sie einem indianischen Kochbuch mehrere Rezepte bei und ging mit ihrer Herkunft hausieren. Sie galt als „Woman of Color“. Der ganze Schwindel um die weiße Cherokee flog auf, als Donald Trump 1 Million Dollar für eine von ihr ausgewählte Stiftung anbot, wenn sie ihre Abstammung beweise. Nach einem DNA-Test kam jedoch heraus, dass Warren zwar über Indianer-DNA verfügte – aber viel weniger als der amerikanische Durchschnitt bei Weißen. Heißt: in Warrens Familie gab es sogar weniger Vermischung mit Indianern als es bei „white anglo-saxon protestants“ der Fall ist. Die echten „Native Americans“ waren entsprechend genauso wenig „amused“ wie hierzulande echte Holocaustüberlebende über das Gebaren protestantischer Biodeutscher. An den Plänen Warrens, für die US-Wahl als Kandidatin der Demokraten anzutreten, hat das ebenso wenig geändert wie hierzulande am Tonfall eines Ruprecht Polenz, der auf Twitter weiterhin moralische Instanz spielt.

Es sind die Nebeneffekte einer Gesellschaft, in welcher die Identitätspolitik den universellen Stellenwert eingenommen hat, wenn es gilt, Menschen zu beurteilen. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Welt kennt das Ständewesen; aber Stände sind durchlässig. Ein Bauernsohn kann vielleicht nicht Kaiser werden, aber er kann studieren und die Position eines kaiserlichen Beraters erreichen. Die gegenwärtige Welt dagegen ist eine stark auf Herkunft ausgerichtete Gesellschaftsform. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, weil die allgegenwärtigen alten, weißen (und heterosexuellen) Männer in den Führungspositionen stecken – so das Narrativ. Tatsächlich ist aber die Auszeichnung „alter, weißer Mann“ kein Prädikat mehr. Vielfalt bzw. Diversität ist das neue Mantra geworden: nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten Westen.

Die Normalität gilt als verdächtig. Und sie entwickelt eine neue Hierarchie, nämlich eine Hierarchie des Opfer- bzw. Minderheitenstatus. Niemand kann in diesem Kastenwesen seiner Rolle entfliehen. Eine weiße Frau gilt als Opfer des weißen Mannes; aber nicht so sehr als Opfer wie ein muslimischer Mann, ein afrikanischer, ein homosexueller oder gar eine schwarze, transsexuelle Muslima. Dieser Kampf der Opferklassen hat den klassischen marxistischen Kampf längst abgelöst. Das ist der Grund, weshalb heute eine Feministin Kopftuch trägt, um ihre Solidarität zu untermauern.

Die Blüten dieses auf Quote und Minderheitenstatus fußenden Gesellschaftsklimas sind all jene vermeintlichen Opfer, die genau aus diesem Kult einen Vorteil ziehen. Der Westen hat das Christentum abgelegt, er ist aber nach wie vor religiös geprägt: nur das Tabu hat sich geändert. Wer – wie dazumal im Fall Wachendorff – den Heiligenstatus einer Person anzweifelt, stellt sich ins Abseits; wer würde es auch in Deutschland wagen, ausgerechnet eine Nachfahrin von Holocaustopfern zu kritisieren, gar ihre Identität anzuzweifeln? Kurzum: der Ankläger muss der Dämon sein. Nur wenige Monate vor der Entlarvung Wachendorffs lieferte die Frankfurter Rundschau einen beispielhaften Artikel ab. Duktus: alles Antisemiten und verkappte Nazis, welche die humanitäre Arbeit von Polenz und Wachendorff infrage stellen. Brandstifter sind immer die anderen.

Zurück zu Marie Sophie Hingst. Denn neben den absurden Ergebnissen, welche die allgegenwärtige Identitätspolitik mit sich bringt, gibt es da noch eine zweite Sache, die kaum zur Sprache kommt. Denn Hingst punktete nicht nur als vermeintliche Nachfahrin von Holocaustüberlebenden. Sie engagierte sich angeblich zweimal in einer Klinik, wo sie Aufklärungsunterricht erteilte. Das sind Berichte, wie sie während und nach der Flüchtlingskrise von 2015 im Rampenlicht standen. Hier verhält es sich ähnlich wie bei Relotius: Nachrichten wurden ungeprüft angenommen, weil sie in die Welt der (linken) Meinungsredaktionen passen. Dass niemand die Behauptung von Hingst überprüfte, dass sie mit 19 Jahren (!) in Neu-Delhi eine Praxis mitbegründet habe, ist ein hammerharter Faustschlag für den deutschen Journalismus. Die Lücken, Ungereimtheiten und märchenhaften Behauptungen waren wie bei Relotius kein Anlass dazu, dass die Alarmglocken schellten; nein, man wollte sie glauben. Dann noch die Einlassung von Hingst, dass die Flüchtlinge heute in derselben Situation seien wie ihre jüdischen Vorfahren – die Kirsche auf der Sahnetorte.

Nein, den Spiegel trifft keine Schuld am – vermuteten – Selbstmord der Historikerin. Journalisten haben hier endlich mal ihre Pflicht erfüllt. Die Journalisten, die versagt haben, sind beim Deutschlandfunk, bei der Zeit, bei der FAZ zu suchen, weil sie eine Bloggerin größer machten, als sie war – und dadurch sich immer weiter in der Lügenspirale verrannte. Angesichts der Enthüllungen der Irish Times ist davon auszugehen, dass Hingst psychisch krank war, Realität von Literatur selbst nicht mehr trennen konnte. Ähnlich wie Relotius sah sie irgendwann den Punkt gekommen, immer weiter liefern zu müssen – etwa, als sie beim Treffen mit dem Irish Times-Reporter angab, ihre eigentliche Mutter sei eine französisch-israelische Ärztin gewesen, die sich in der Badewanne erschossen habe. Da hatte der Spiegel das Kartenhaus schon umgepustet. Hingst sah sich veranlasst, noch spektakulärere Erzählungen zu erfinden.

Der Fall Hingst bringt die immer noch ungelöste Problematik des westlichen Journalismus an den Tag: nicht sagen, was ist, sondern erzählen, was sein sollte. Ideologische und moralische Chauvinismen bilden einen Nebel, der die Sicht auf Redlichkeit und Fakten immer weiter trübt. Es war dieses Mal nur Ironie, dass es ausgerechnet der Spiegel war, der dies aufklärte. Dass hingegen die Zeit, die Hingst wie Seibert ein Forum bot, ganz offensichtlich bis heute nicht aus ihrem Verhalten gelernt hat, zeigt umso deutlicher, dass viele Redakteure unbelehrbar bleiben. Ihre größten Gegner sind nicht Fake News, nicht Rechtspopulisten, nicht der Auflagenschwund – sondern sie selbst, weil ihr Verhalten genau diese Erscheinungen befördert. Dass sich in der Causa Hingst sogar eine 31jährige Frau das Leben nahm, ist diesem Journalismus nicht anzulasten. Er hätte es allerdings verhindern können, wäre der Fall aufgeflogen, bevor es Preise regnete oder Artikelangebote vergeben wurden. So bleibt zuletzt nur der Tod einer Frau, deren Liebe zu Kafka und Kleist zu bitterem Schicksal wurde.

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