Vielleicht sollte man heute schweigen, einfach einen leeren Eintrag auf dieser Seite hinterlassen, trotzig erklären, dass es nichts gäbe, was es heute zu erwähnen lohne. Ein Zeichen, ein schönes fürwahr; aber so wie man das Jubiläum Luthers aus katholischen und historischen Gründen behandeln sollte, muss zugunsten des gesunden Menschenverstandes Marxens Geburtstag erwähnt werden.
Der Unterschied zwischen Luther und Marx wird deutlich, sieht man auf die gesellschaftlichen Wellen, welche die jeweiligen Gedenkfeiern evozierten. Die evangelische Kirche wirkt selbstkritisch und tut sich schwer mit ihrem kantigen Gründer; ähnliches kann man von den Kommunisten und ihrem Vordenker nicht sagen. Gewissermaßen fuhren Bischöfe und Botschafter des Reformationsjahres dem einen Propheten mit dem Dolch in den Rücken, indes niemand auf Seite der linken Ideologen ein kritisches Wort über den anderen Propheten verlor. Es zeigt sich, dass letztere ein religiöseres Verhältnis zum Vorbild pflegen als manch Lutheraner zu ihrem. Der kommunistische Kult ist lebendiger als der evangelische; ob das eher gegen den Kommunismus oder gegen den Protestantismus spricht, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Dass Luther in der Öffentlichkeit heute immer noch mehr polarisiert als Marx, kann daher verschiedentlich interpretiert werden. Keine Anti-Marx-Sticker, keine Selbstkritik, kein Gegenwind. Stattdessen eine riesige Marx-Statue als chinesisches Geschenk. Die Linke feiert, die Mitte erkennt den Urheber von „Manifest“ und „Kapital“ als Denker an, die Libertären und Rechten bleiben in ihren Refugien. Dass dieses Land seinen Frieden mit Marx gemacht hat, sollte verwundern und erschüttern. Es unterstreicht den Zeitgeist. Höhepunkt ist die Aussage eines Kardinals gleichen Namens, der behauptet, ohne Marx hätte es keine katholische Soziallehre gegeben.
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— Bellfrell (@Bellfrell) May 3, 2018
Natürlich: da gibt es Zwischenrufe bei der Welt und n-tv, die man so gar nicht erwartet hätte. Aber die Untaten, die im Namen des Kommunismus auf deutschem Boden geschahen, sind uns zeitlich deutlich näher als der Dreißigjährige Krieg. Die DDR hat lebende Zeitzeugen hinterlassen. Während aber niemand den Anteil des Protestantismus an den religiösen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts bestreiten würden, hält sich bis heute die Mär, man müsse Marx von dem politischen Ergebnis trennen. Eine enervierende Angelegenheit, die immer in der Argumentation mündet, dass es ja nie einen wahren Kommunismus gegeben hätte, man Marx und die Lehre also nicht verantwortlich machen könnte.
Kein Faschist könnte sich dagegen auf das Feld zurückziehen, dass es niemals einen wahrhaft faschistischen Staat gegeben hätte, weshalb der Faschismus bisher nur noch nicht richtig umgesetzt worden sei. Diese Apologien sind auch deshalb lächerlich, da die Epigonen des real-existierenden Sozialismus sich natürlich als Wegbereiter des Kommunismus interpretierten, dass nur sie den wahren Weg ins Arbeiterparadies kannten, und das natürlich ihre Gesellschaften die einzigen waren, die sich in die Nähe des Kommunismus rücken durften. Die Idee, man habe Marx gewissermaßen instrumentalisiert, kann nur von Leuten stammen, die den Islam von den Taliban, vom IS oder auch vom Mullah-Regime in Teheran missbraucht sehen und zu diesen Organisationen keinerlei Fundament im Koran erkennen.
Das Besondere an Marx bleibt sein Aktivismus. Er ist daher auch im Grunde kein Philosoph, und er ist beileibe nicht nur ein „Ökonom“. Marx hat von Anfang an ein Sendungsbewusstsein, das politische Agitateure auszeichnet. Als Journalist wird diese Agenda besonders deutlich. Und als Beobachter der Zustände im Frankreich der revolutionären Kommune bricht sein Weltbild durch. Zugunsten der Revolution sind Opfer unvermeidlich; aber Marx applaudiert dem Mob und dem Mord von Anfang an. Die Geschehnisse von Paris sind das Vorwort zu Moskau und Sankt Petersburg. Sie ernten seine Bewunderung und seine Unterstützung. Was 1917 passiert, ist bereits 1871 gewollt.
Der große Trick Marxens lag darin, seine Ideologie als wissenschaftlich darzustellen, obwohl sie im Grunde heilsgeschichtlich-religiös ist und sich aus Hegels Gedankenwelt speist. Es gibt im Grunde nichts Originelles bei Marx, bis auf die simple These, dass die Geschichte nur eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Diese absolute Vereinfachung der Geschichte auf einen einzelnen Gesichtspunkt ist der Ausgangspunkt jener Wissenschaft, die Marx begründet haben will – obwohl die Prämisse falsch ist. Mit der falschen Prämisse wankt das ganze Gebäude, doch Marx und Apologeten fanden immer wieder neuerliche Ausreden, warum Geschichte in eine bestimmte Richtung zu interpretieren sei und weshalb es mit der Arbeiterrevolution immer noch nicht klappte.
Dabei sind einige Analysen durchaus treffend. Doch Marx macht immer wieder den Fehler, die falschen Schlüsse zu ziehen. So begreift Marx, dass die Menschen von ihren historischen und ökonomischen Umständen geprägt sind; dass er allerdings selbst Kind seiner Zeit war, Geschichte und Gegenwart nur unter dem Brennglas der Veränderungen der Industriellen Revolution erfasste, das konnte er nicht sehen. Seine Welt baut auf den Zuständen des 19. Jahrhunderts auf, schaut und bewertet die Vergangenheit nur aus dieser Warte. Die Fehleinschätzung gilt auch für die Zukunft. Marxens Welt ist jene von Produktion, Erzeugnissen, Fabriken; von Kruppstahl, Standard Oil und Eisenbahnen.
Die einflussreichsten Konzerne der Gegenwart haben nichts damit gemein. Google, Facebook und Amazon produzieren nichts. Die Industriegesellschaft wurde bereits vor Jahrzehnten von der Dienstleistungsgesellschaft abgelöst. Statt der Verelendung der Arbeiter begann der Sieg der Sozialdemokratie und des Sozialstaats. Die Linksintellektuellen haben der Unterschicht diesen Verrat niemals verziehen und sich mittlerweile ein neues Proletariat gesucht.
Eine andere Analyse, die durchaus Wert hat, ist jene, dass die Geschichte Gesetzmäßigkeiten aufweist. Aber dies ist keine marx’sche Erfindung, sie geht zurück bis in die Antike. Sie allein auf ökonomische Umstände zurückzuführen, die Ökonomie zur Königin aller anderen menschlichen Lebensteile zu krönen – über Kultur, über Religion, über Ethnie – ist in veränderter Form bis heute Marxens Erbe, sowohl bei Linken als auch angeblichen Liberalen. Und sie ist eine Beschneidung der Komplexität, da sie menschliche Triebfedern zugunsten bloßer Umstände ausblendet. Da waren Thukydides und Machiavelli weiter. Dennoch werden heute selbst die Kreuzzüge in der Wissenschaft mit Wirtschaftsinteressen der italienischen Seerepubliken begründet, so als ob die Bedrohung Ostroms und der christliche Gedanke der brüderlichen Hilfe und Pilgerschaft nur eine nachgeordnete Rolle spielte. Die Überhöhung der Wirtschaft über Kultur, Politik und Religion ist ein linkes Erbe das von den Liberalen bereitwillig übernommen wurde, obwohl selbst für Adam Smith die Ursachen nicht so sehr in Systemen, sondern in der menschlichen Natur begründet liegen.
Die historische Phantasterei marx’scher Prägung deutet Spartakus und den Ciompi-Aufstand als Auswuchtungen des Klassenkampfes, der angeblich allesbeherrschend ist, obwohl das gesamte Mittelalter vor allem eine Geschichte von Familienfehden und Glaubensstreitigkeiten darstellt. Eine Handelsrepublik wie Venedig, die eigentlich als Paradebeispiel kapitalistischer Kritik dienen müsste, kennt in ihrer gesamten Geschichte keine sozialen Unruhen. Die angebliche wissenschaftliche Methode ist im Grunde nur Teleologie, um genau das zu beweisen, was man schon vorher wusste.
In seiner dogmatischen Herangehensweise verweigert sich der Marxismus jeder Philosophie und muss sich der Theologie bedienen. Die eschatologischen Elemente, gezeichnet vom letzten Kampf und dem neuen, säkularen Jerusalem der klassenlosen Gesellschaft, sind offenkundig. Der Marxismus ist die Vollendung der Französischen Revolution, die christliche Freiheit und christliche Brüderlichkeit um das merkwürdige Versatzstück der Gleichheit ergänzte; im Marxismus bleibt vor allem letzteres, selbst die Nation ist entleert, die Brüderlichkeit weicht der Solidarität.
Das Problem des Marxismus liegt daher für den Historiker gerade in seiner Simplifizierung und Monokausalisierung. Dass die gesamte Anhängerschaft des Trierer Agitateurs auf einer geschichtswissenschaftlichen Prämisse aufbaut, die es im Grunde gar nicht gibt, ähnelt einer Weltreligion, deren Glaubensdogma auf einer Lüge gründet. Es reichte allein, einen Marxisten davon überzeugen, dass die Geschichte genügend historische Beweise liefert, dass die marxistische Annahme nicht zutrifft; allein, der Marxist ist glaubensstärker als mancher Salafist oder Kreuzritter.
Dagegen war selbst Luther ein Zweifler.