Der Ratsherr von Vinosa (1)

24. März 2018
Kategorie: Der Ratsherr von Vinosa | Hintergrund und Schreibarbeit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Palatina

Zum Vorwort des Magisters Ottavio Dandolo.

Erstes Kapitel. Über die Beschaffenheit und die Vorzüge des lieblichen Ortes Vinosa in der Goldenen Ebene – Kommune der Grafschaft Borghetto – und seine äußerst merkwürdige Regierung.

In der Goldenen Ebene donnerte der Frühling. Hunderte Klauen wühlten den Boden auf, zermalmten den Winterfrost und warfen ihn in die Luft. Eine Staubwolke brandete an vertrockneten Sträuchern vorbei, riss Gräser samt Wurzeln aus, verhüllte die Rinde einsamer Pinienstämme mit ockerfarbenem Pulver. Zwischen wehenden Feldern aus Rosmarin und Thymian hatte sich ein Schafhirte auf seinen Stock gestützt und sah dem sandigen Nebel nach, der zwischen azurblauem Himmel und den kargen Wiesengräsern an Kontur gewann. Aus dem Meer von Fell und Schnuten ragten ellenlange Hörner wie Spieße hervor, ein Stier brüllte über Meilen. Die Butteri, die Rindertreiber dieser Gegend, hielten die Herde mit Ihren Stöcken zusammen, ritten auf kräftigen Schimmeln aus lancelottinischer Zucht.

Die Goldene Ebene kannte keine Glockentürme und Uhren, die das Leben der Menschen ordneten. In einer Landschaft, die nur wenige Dörfer und Siedlungen kannte, beherrschte der Takt der Viehtreiber das Leben. Morgens trieben die Butteri die Rinder von Westen nach Osten, abends von Osten nach Westen. Auf dem unfruchtbaren Boden gedieh kein Weizen und der Wein verbrannte im Sommer, wenn die Gräser braune Farbe annahmen und nur Mohnblumen im Schatten wilder Olivenbäume gediehen. „Goldene Ebene“ – das war ein Euphemismus für einen kargen Landstrich, den Weiden und Wiesen, Sträucher und vereinzelte Bäume prägten, allesamt vereinzelte Tupfer in einem goldig-braunen Ozean.

Selten zeichneten sich an klaren Tagen die Geschlechtertürme von Borghetto am Horizont ab, der einzigen großen Stadt dieser Gegend. Sie war Sitz der gleichnamigen Grafschaft, zu der die Goldene Ebene gehörte. Die Grafen von Culatello regierten dort im Namen der Republik Palatina. Die Grafschaft Borghetto nahm den nördlichen Teil der Republik ein, vom Tyrrhenischen Meer über die Goldene Ebene bis hin zum Wald von Saturnia. Es war das Grenzgebiet zwischen Toskana und Latium, zwischen sumpfiger Maremma und trockener Ebene, zwischen der Republik Siena und der Republik Palatina.

Fern des Grafensitzes von Borghetto und der Hauptstadt Palatina erhob sich aus Blumenfeldern und Rinderstaubwolken ein markanter, felsenartiger Hügel. Er lag fernab der Oleanderstraße, welche Borghetto mit dem Umland Palatinas verband. Nur ein alter Trampelpfad verband diese Gegend mit dem Rest der Republik. Wenn Händler oder Fuhrleute zwischen Palatina und Siena reisten, oder auf dem Weg nach Borghetto waren, konnten sie auf dem Felsen rote Dachziegel erkennen. Dazwischen die Zinnen eines mittelalterlichen Wachturms.

Neben Sirena und Lancelotti war Vinosa eine der wenigen Siedlungen im Gebiet der Grafschaft Borghetto. Selbst die palatinischen Geographen der Universität vergaßen es manchmal einzuzeichnen. Eine steile Rampe, gerade noch angenehm genug, dass Reiter im Trab hinaufreiten konnten, schlängelte sich einmal um den Hügel herum zum Dorf hinauf. Im Schatten von Zypressen gediehen hier die einzigen Weinstöcke der gesamten Grafschaft mit zuckersüßen Trauben. Der Winzer des Ortes füllte damit nie mehr als ein Fass, das für den Messwein reichte. Der Ort führte sich im Kern auf ein altes Weingut der Grafen von Borghetto zurück, welche die Vorzüge des Platzes im 13. Jahrhundert erkannt hatten.

Die Geographie prägte den Ort. Auf den steilen Kanten des Felsens drängten sich die Häuser aus Tuff aneinander, unterbrochen von Bögen und Treppen. Fenster und Türen schienen wie aus dem Stein geschlagen, das Dorf aus der Spitze des Hügels geformt. Gassen führten zum Zentrum des Ortes: dem gräflichen Gutshof, von dem nur noch das Herrenhaus stand, und dessen Vordach den Vorplatz in Schatten tauchte. An seiner Flanke schloss sich der Turm von Vinosa an, auf dem die Banner der Republik Palatina, der Grafschaft Borghetto und der Kommune Vinosa schlaff am Mast hingen; und hätte man es nicht gewusst, der Beobachter hätte nur ein Farbenmischmasch aus Stoff erkannt. Eine kleine Kapelle, die sich an den Turm schmiegte, war dem Heiligen Antonius von Ägypten geweiht.

Keine fünfhundert Menschen füllten den Ort auf dem Tuffsteinfelsen. Ihre Schafe weideten in der Ebene, ihre Hühner gackerten in den Gassen. Kühe und Rinder besaßen nur wenige. Wenn die Butteri vorbeizogen, verkauften die Einwohner Fleisch, Käse, Wolle, Eier oder wärmende Kissen. Manche Männer verließen auch das Dorf und schlossen sich den Rindertreibern an, wieder andere gingen zur Legion der Republik.

Die Leute waren nicht reich, sie litten jedoch auch keine Not. Hungersnöte hatte es seit den Zeiten der Pest nicht mehr gegeben, der Krieg hatte die Gegend nicht mehr heimgesucht, seitdem die Herzöge von Malpazzi die Grafschaft erobert und verheert hatten. Beides war zweihundert Jahre her. Die Vinosiner lebten im Takt der vorbeiziehenden Rinderherden, deckten sich im Winter mit der Wolle ihrer Lämmer ein, suchten im Sommer den Schutz der Zypressen. Sie kannten keine Gewürze oder edlen Metalle, aber sie kannten den würzigen Käse ihrer Ziegen und das frische Quellwasser in der Felsenhöhle. Die Hauptstadt Palatina mit ihrer Kunst, ihren Vergnügungen und den Vorzügen der Renaissance hatten sie nie gesehen – doch sie schauten täglich von ihrem Hügel, wie die Morgensonne den östlichen Lago d’Amore in ein Glitzermeer verwandelte und die Abendsonne die Ebene in Tönen aus Scharlach und Purpur hinterließ, bevor sie im Westen verschwand.

Gegenden wie Vinosa wurden von der Geschichte vergessen, aber Vinosa hatte im Grunde auch kein Interesse an der Geschichte. Vinosa war das, was man in Palatina als „frei“ bezeichnete. Freiheit bedeutete in einer Handelsrepublik wie Palatina, dass man unbehelligt seinem Geschäft nachgehen konnte. Diese Philosophie äußerte sich auch im Herrschaftsverständnis der Serenissima: sie gestand ihren verschiedenen Territorien weitreichende Autonomien zu. Das war der Grund, warum in Borghetto weiterhin ein Graf herrschen durfte, obwohl in Palatina ein Doge als Staatsoberhaupt gewählt wurde. Ähnliches galt für die Kommunen, diejenigen Dörfer und Städte der Republik, die aufgrund historischer Gründe oder ihrer Größe einen eigenen Vorsteher wählen durften.

Es war dies der Hauptgrund, warum die Geschichte auf Vinosa aufmerksam wurde.

Denn die Republik Palatina kannte viele Herrschaftsformen auf ihrem Grund. Sie alle wurden von der Republik selbst mit ihren komplizierten Gremien, Räten und Ministerien überstülpt, an dessen Spitze der Doge mit der Macht eines Fürsten ausgerüstet war, um das Chaos im Zaum zu halten. Das Nachbardorf Vinosas – Lancelotti – führte den Titel einer meritokratisch-oligarchischen Pferderepublik. Dort herrschte ein Triumvirat, das vom Pfarrer, dem Wirt und dem Sieger des jährlich ausgetragenen Pferderennens gebildet wurde. Letzterer galt als Giudice (Richter) auch als Repräsentant des Dorfes.

In Sirena, dem Hafen der Grafschaft Borghetto, hatte eine Militärjunta die Macht übernommen. In der Landstadt Cannelloni in der Alta Mandrana wählte eine adlige Aristokratie ihren Vorsteher. Torre di San Giovanni auf den Klippen von San Luca galt als Schlüsselstelle der Verteidigung gegen die türkische Bedrohung zur See und hatte sich zu einer geistlichen Herrschaft unter Führung der Malteserritter entwickelt. In Boscone galt seit über einem halben Jahrtausend die Erbherrschaft der Herren von Passerotti. Und im Müllerdorf Santa Verena im Vorgebirge des Apennins herrschte ein Müllerkombinat mit Faustrecht – Müllervollversammlungen endeten nicht selten in Prügeleien, bei denen der Gewinner zum Podestà gekürt wurde.

Neben diesen originären Systemen existierten auch Kommunen, die später – aus welchen Gründen auch immer – ihr traditionelles Herrschaftssystem änderten. In Mortadella bei Castiglione vertrieben die aufständischen Bauern der sog. „flacistischen Internationalen“ das dortige Rittergeschlecht und richteten eine Revolutionäre Volksrepublik Der Proletarisch-Landwirtschaftlichen Diktatur (Eigenschreibweise) ein. Diese war auf die Philosophie der beiden Volkshelden Cotto Risotto und Berto Notti zurückzuführen, aus welcher letzterer die risottisch-nottische Lehre ableitete, demnach die Burschwasie* bekämpft und das Geld der „frükapitalistischen Blutsauger“ von Palatina abgeschafft werden musste. Um dies umzusetzen, ernannte sich Notti selbst zum Diktator und begründete die freieste und gerechteste Zeit, die ein Mensch dort jemals erlebt hatte.
Solange man Berto Notti hieß.

In Mulino am Mandro wiederum hatten ursprünglich die Wassermühlenbesitzer das System aus Santa Verena übernommen. Ab den 90er Jahren des 15. Jahrhunderts geriet das politische System jedoch in eine tiefe Krise, weil die aufkommende Keksbäckerschaft stets von den Müllern verprügelt wurde – was gleichbedeutend mit politischer Entmündigung war. Die Keksbäcker ließen dies nicht auf sich sitzen und verbündeten sich gegen die Müller. Als zum ersten Mal ein Keksbäcker Podestà von Mulino wurde, wollte dieser den Titel des Podestà in „Größter Keksbäcker aller Zeiten“ umbenennen, woraufhin er von den aufständischen Müllern in den Mandro geputscht wurde. Die instabilen Verhältnisse brachten den Käser Silvano Berlusca an die Macht, der mithilfe seines Mulineser Käseblattes** die Meinung im Dorf beeinflusste.

Vinosa war über Jahrhunderte von den Rittern aus dem Geschlecht der Guanciale verwaltet worden, bevor die Malpazzi den Ort ihrer direkten Herrschaft unterstellten. Als die Palatiner die Herzöge vertrieben und die Republik einführten, sollte Vinosa wieder eine eigenständige Kommune werden – allerdings wusste niemand, welches politische System dort eingeführt werden sollte. Die Guanciale hatten ein neues Gut im Westen der Goldenen Ebene bezogen, in Vinosa war jedoch niemand reich oder adlig, um die Führung übernehmen zu können. Soziale Unterschiede waren im kleinen Dorf unbekannt, selbst einen Pfarrer kannte die Gemeinde noch nicht.

Von all den verrückten Regierungsformen, Experimenten und Herrschaftsmöglichkeiten, welche die Erlauchteste Republik des Sankt Leo von Palatina sul Aqua bot, wählten die Vinosiner ausgerechnet die absonderlichste aus – die der Demokratie.
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* Der Begriff kann nicht genau übersetzt werden. Je nach Laune der Flacisten werden damit Angehörige der Oberschicht, der reaktionären Intelligenz, der Geistlichkeit, der traditionellen Universitätslehre, der palatinischen Regierung, Verräter an der flacistischen Idee oder Vegetarier bezeichnet.
**Gegründet im Jahr 1545 als wichtigstes Blatt der Mandrana im Süden Palatinas. Viele warfen Berlusca vor, die öffentliche Meinung damit zu manipulieren und sich so ins Amt gehievt zu haben, außerdem unterstellte man ihm Korruption, Amtsmissbrauch und Käsegeschäfte am Rande der Illegalität. Dennoch schaffte er es irgendwie, den ganzen Kasten zusammenzuhalten und wurde von den Mulinesen entweder geliebt oder gehasst. Seine Affären mit jungen, attraktiven Müllertöchtern sind legendär.

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