Der Ratsherr von Vinosa (Vorwort)

23. März 2018
Kategorie: Der Ratsherr von Vinosa | Hintergrund und Schreibarbeit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Palatina

Praefatio. Brief des Magister Dandolo an seinen treuen Freund und einstigen Kommilitonen Guastaldo Casabianca.

Palatina (Città Antica), 25. März 1560, im 3. Jahr der Regierung des Dogen Testabella-Braccioleone

Treuer Freund, Bester Kommilitone und vorzüglicher Wiederfinder der Schlüssel zur Hauskantine des Heiligen Antonius von Padua, liebster Guastaldo!

In deinem letzten Brief hast du dich sehr erfreut über die Kollektion der kleinen Geschichten gezeigt, die ich dir aus Palatina zugesandt habe. Es sei dir versichert, der Fundus an Erzählungen aus meiner neuen Heimat ist so unerschöpflich wie der Brunnen von Signora Pesatroppo aus Bassanello (was vor allem damit zusammenhängt, dass sie die öffentlichen Zisternen bereits seit fünfzehn Jahren anzapft und den Staat um eine Wasserrechnung von etwa fünfzehn Dukaten in Gold betrogen hat – aber dergleichen möchte ich hier nicht weiter ausführen).

Danken möchte ich dir überdies für das exzellente Stück Ricotta, dass du den weiten Weg von Padua nach Palatina geschickt hast. Den sehr, sehr weiten Weg. Vom tiefsten Venetien bis in die südlichste Toskana. Über den Apennin. Über Tage.
Über viele Tage.

Womöglich – mein bester Guastaldo – wäre es in Zukunft anzuraten, ein weniger verderbliches Geschenk als einen Frischkäse an deinen dir immer treu ergebenen Freund zu schicken, wenn dieses anschließend halb Italien durchquert. In seiner vortrefflichen Qualität hat er aber zumindest seinen Dienst als Kuchenzusatz für den Dekan getan. Damit hat sich zumindest die überaus langweilige Sitzung des Universitätskollegiums am heutigen Nachmittag erledigt.

Die freie Zeit gibt mir Gelegenheit, deiner Bitte nachzukommen und dir weitere Geschichten zukommen zu lassen. Ich weiß, wie sehr dir die Legenden von der Lachschaumkuh, dem Hermelin von Cannelloni oder der wundersamen Buchstütze Samech zugesagt haben. Ich möchte dir dieses Mal jedoch nur eine einzige Geschichte zusenden, die dafür im Umfang größer ausfällt. Da Lotti war so freundlich, eine mehrseitige Kopie zu drucken. Sie ist dem Schreiben beigefügt.

Es gibt allerdings – das möchte ich dir sofort sagen – einen großen Unterschied zwischen den bisherigen Geschichten und der neuen Erzählung. Alle vorherigen Geschichten waren Legenden. Die Palatiner geben sie seit Generationen weiter. Wie viel daran wahr ist, mag ich nicht beurteilen. Aber sie prägen Geist und Mentalität des Volkes. Die Kollegen aus der Naturphilosophie würden zwar behaupten, dass der Geist und die Mentalität eines Volkes die Legenden geprägt haben, aber für die habe ich nachher noch ein extra großes Stück Ricotta übrig.

Die folgende Geschichte heißt „Der Ratsherr von Vinosa“. Es handelt sich dabei um eine „para bél“, wie man mir versicherte. Keine Ahnung, was damit gemeint ist, aber es ist wohl eine Verballhornung des griechischen para und des palatinischen Dialektwortes für schön (bei schönen Dingen?). Ich kann jedenfalls versichern, dass sich diese Geschichte so und nicht anders zugetragen hat, denn ich – Ottavio Dandolo* – habe zwei Protagonisten dieser Erzählung getroffen. Jedes einzelne Wort ist also wahr. Und wenn es nicht wahr ist, dann sehr gut erfunden. Und wenn es nicht sehr gut erfunden ist, dann …

Ach, lies einfach.

unterzeichnet: Ottavio Faustino Leonardo Dandolo, detto „il Malcontento“

Postscriptum: Ich habe es mir anders überlegt. Die nervige Vorlesung über Neuscholastik steht Ende des Monats bevor. Schick mehr Ricotta.

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*Das ekstatische Ausrufezeichen ist an dieser Stelle später mit einem Kiel ausgewetzt worden.

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