2017 könnte eine jener Zäsuren gewesen sein, welche spätere Historiker aufführen, wenn sie die Entwicklung der folgenden 13 Jahre skizzieren wollten. In gleich mehreren bedeutenden Ländern fanden wichtige politische Entscheidungen statt, die das Fatum unseres Kontinents und der westlichen Zivilisation geprägt haben.
Dabei ergibt sich ein Kontinuum zum Jahr 2016, denn der im Vorjahr gewählte US-Präsident wurde im Januar 2017 vereidigt. Wie schon im Wahlkampf sollte das Handeln Donald J. Trumps die Welt beschäftigen. Während zu Anfang noch viele auf eine Absetzung spekulierten – oder zumindest auf dicke Patzer, die den New Yorker so desavouierten, dass diese ihn ins Straucheln brächten – hat Trump tatsächlich etwas gemacht, was in den Zeiten der eher geschwafelten als gelebten Politik unmöglich erscheint: er hat Fakten geschaffen.
Insbesondere im Hinblick der auf Eisenbahnschienen verlaufenden Verwaltungsmentalität gegenwärtiger europäischer Politiker, deren Lieblingsthemen (Privilegien für sexuelle wie ethnische Minderheiten, Vorantreiben des europäischen Zentralismus, Klimawandel) in Harmonie mit den Medien präsentiert und abgefrühstückt werden, brachte das neue enfant terrible der „internationalen Gemeinschaft“ so einiges an Schwung ins Weltgeschehen. Trump kündigte gegenüber den verschreckten europäischen Verbündeten an, den Schwerpunkt des amerikanischen Militärs vom alten Kontinent langsam wegzuverlegen, wenn die NATO-Partner ihren Verpflichtungen nicht nachkämen (oder zahlten); das Klimaabkommen fegte er vom Tisch; Jerusalem erkannte er Jahrzehnte nach dem Kongressentschluss als Hauptstadt Israels an. Zuletzt peitschte Trump seine große Steuerreform durch, von der selbst Gegner zugeben müssen, dass sie die amerikanische Mittelschicht entlasten wird. Obwohl herbeigeredet, blieb ein offener Krieg in Nordkorea wie in Syrien aus, obwohl zumindest letzterer von einigen Vertretern der Administration offen gewünscht wurde.
Man mag zu diesen Entscheidungen stehen wie man will, es sind jedoch Handlungen und Vorstöße, wie wir sie seit Jahren kaum noch kennen. Sie erscheinen umso beachtlicher, führt man sich vor Augen, wie wenig von Barack Obama bleibt. Während die Medien immer wieder vor dem wahnsinnigen Kriegstreiber Trump warnen, der jeden Tag auf den roten Knopf drücken könnte, hat Friedensnobelpreisträger Obama mit dem Libyenkrieg einen Konflikt zu verantworten, von dem sich Europa bezüglich seiner Auswirkungen bis heute nicht erholt hat. Auch hier besteht wieder die alte Problematik, dass für Journalisten Worte mehr verletzten als Taten. Dass Obamas einziges Vermächtnis – nämlich die im Volksmund als „Obamacare“ bekannte Gesundheitsreform – in der Trump-Ära noch häufig auf den Prüfstand gestellt wird, dürfte kein Geheimnis sein. Ansonsten bleiben innenpolitische Wahlversprechen, die niemals eingelöst wurden, und außenpolitische Desaster, welche den schwindenden amerikanischen Einfluss aufzeigen.
Obwohl Trump für manche Hardliner nicht alle seine Versprechen gehalten, bzw. „verraten“ hat, bleibt das Beispiel der USA für die jüngere Geschichte deswegen beachtlich, weil Politik ausgerechnet im wichtigsten und (weiterhin) mächtigsten Land der Welt wieder eine offene Sache geworden ist. Geschichte wird wieder gemacht, sie hat kein Ende und Ziel mehr in der neuen Trump-Administration. Das mögen manche beklagen, weil man die fest eingeplante Eisenbahnstrecke Richtung grenzenlosem Weltstaat verlässt, und damit linksliberale Träume wie Seifenblasen platzen. Es ist diese dreckige und furchtbare Realität, welche die Anhänger jener Ideologie aus dem Konzept bringt. Sie sind auf Veränderungen, auf Kreativität, auf Spontaneität und „Buntheit“ nur gefasst, wenn sie sich gewohnheitsmäßig auf diese eingestellt haben und zu ihren Gunsten ausgehen. Kommt ein Elefant wie Trump vorbei, der all dies zertrampelt, reagieren sie mit Panik, Paranoia und Ohnmacht. Hass und Wut, die sie so gerne der Klientel des neuen amerikanischen Staatsoberhauptes unterstellen, quillt dann vor allem aus ihrer Feder.
Die Inkarnation dieses spießigen Verwaltungstraums, der nur noch daraus besteht, dass Politiker die richtigen Weichen für die feststehende Zukunft setzen, ist die hiesige Kanzlerin. Sie ist nicht etwa wegen ihrer „ruhigen, sachlichen Art“ der Gegenpol zu Trump, sondern weil sie den Typus der unbedingten Stabilität repräsentiert. Üblicherweise ist Stabilität ein positiv besetzter Begriff, wenn er die staatliche Ordnung meint; da einem aber wohl vieles, nur nicht die „staatliche Ordnung“ einfällt, wenn man an die letzten Jahre denkt, wandelt sich der Begriff in der Merkel-Ära vielmehr zu einem Codewort für staatlich verschriebene Lähmung.
Dinosaurierhaft mutet der Politikstil Merkels und ihrer europäischen Konsorten an! Die Spaltung der Gesellschaft tangiert Merkel ebenso wenig wie der Ausnahmezustand in Hamburg. Die Antwort auf das Auseinanderbrechen der Europäischen Union – der Abgang Großbritanniens als wichtiger Nettozahler der EU ist damit genauso gemeint wie das Bröckeln der östlichen Mitgliedsstaaten – wird mit einem „Weiter so!“ quittiert, ob nun vonseiten Junckers (Merkels Mann in Brüssel) oder dem vermerkelten Schulz, der wohl tatsächlich glaubte, mit einer gehörigen Portion des „mehr vom Gleichen“ gegen die seit 12 Jahren regierende Rezepterfinderin gewinnen zu können.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das neue Kapitel in der Amtszeit Merkels jene des Siechtums ist – wie sonst sollte man diese nun seit Monaten lavierende, geschäftsführende Regierung bezeichnen? Ausgerechnet im ach so effizienten Deutschland krebst die Regierungsfindung vor sich hin – indes haben die Katalanen bereits ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten, wurden niedergeknüppelt, haben die Unabhängigkeit ausgerufen, wurden ihres Ministerpräsidenten beraubt, zur Neuwahl gezwungen und haben sogar wieder neu gewählt. In der von Verwaltungsakten geprägten Beamtenrepublik sucht man indes fieberhaft (das heißt: mit der Energiesparfreude eines Faultiers) nach dem passenden Passierschein in der SPD, ob man nun eine Große Koalition oder eine „Kooperative Koalition“ will.
Wie wird dies gelöst? Natürlich mit Reden. Das bedeutet Demokratie. So wird es dem Bürger erzählt, damit er weiß, dass er sich in verantwortungsbewussten Händen befindet. Nach den Chaostagen von Hamburg wird geredet; über die Spaltung der Gesellschaft wird geredet; vor allem wird nach den Wahlen geredet. Nicht geredet wird allerdings über die zu Vielfällen mutierten Einzelfälle im Land, da dies nur im Interesse jener Faschisten im Land wäre, die einen imaginierten Bürgerkrieg zur Aufrichtung des Vierten Reiches ausnutzen könnten. Taten dagegen, Handeln – das klingt bereits verdächtig nach Trump und sollte in jedem Falle vermieden werden.
Das geschäftsführende Siechtum der Republik ist allerdings Anzeichen, dass sich trotz allem vielleicht doch etwas geändert hat. 2017 erscheint wahltechnisch auf den ersten Blick – ob in den Niederlanden, Frankreich oder eben Deutschland – als Bestätigung des Status quo. Auch die Jubelpresse war sich dessen einig. Merkwürdig nur, dass wir nie zuvor in der Nachkriegszeit eine solch lange Periode der Geschäftsführung haben. Es ist das Symptom eines politischen Systems, das nicht aus der Gewohnheit der 70er Jahre hinaus will, obwohl draußen bereits die 2020er an die Tür klopfen. Deutschland ist eben nicht dynamisch, offen, anpassungsfähig oder gar bunt – es ist behäbig, dickköpfig auf demselben Weg beharrend, graues Spießertum des Ewiggleichen. Ein paar ausgewählte Muslimas in der Exekutive täuschen nicht darüber hinweg, dass Berlins Elite provinziell ist und die Phrasendrescherei bloßes Schmuckwerk, um sich möglichst „mittig“ zu geben. Krisen kann man nicht durch dauernde Trauerbekundungen, „große Sorge“ oder die Schaffung eines neuen Beamtenstabes wegrationalisieren. Und insbesondere reicht es nicht, einfach nur das Staatsvolk mit populistischen Parolen wie „Die Spareinlagen sind sicher“ oder „Wir schaffen das“ einzubalsamieren, wenn die Ausgangssituation dieselbe bleibt. Der Elefant verschwindet nicht einfach aus dem Porzellanladen, nur weil man behauptet, der gehe schon wieder weg (womit sich übrigens der Kreis zum Elefanten Trump schließt).
Es gibt noch ein anders dynamisches Element im Westen, nämlich Frankreich. Macron startete als Maskottchen der EU und möglicher Verbündeter Merkels. Doch hat der neue französische Präsident im Gegensatz zur „lame duck“ Merkel Ambitionen. Es wird offenbar, dass er die europäische Einigung energischer vorantreiben will als je zuvor – aber eben nicht im Sinne Brüssels oder Berlins, sondern unter französischer Führung. Der Vorstoß aus Paris bezüglich eines europäischen Finanz- und Wirtschaftsministeriums ist eindeutig. Finanzpolitisch trennen Deutschland und Frankreich Welten, doch die eher auf eine Weichwährung setzenden Staaten – die mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs in der erdrückenden Mehrheit sind – dürften Macron stützen. Letzterer ist nicht unangefochten, doch er ist jung und hat Tatendrang.
Wichtige Eigenschaften, die Merkel nicht hat und ihre nächsten vier Jahre auszusitzen droht. Das mag auf bundesrepublikanischer Ebene funktionieren, wo sie keinen Rivalen hat und mochte auf EU-Ebene funktionieren, weil sie dort keinen Rivalen hatte. Hier könnte Merkel jedoch an ihrem Gegenspieler scheitern – so, wie sie bei Putin gescheitert ist und bei Trump scheitern wird.
Die Welt wartet auf niemanden. Erst recht nicht auf Angela Merkel. Am Ende zahlen die Deutschen – nicht nur in der Griechenlandkrise.