Die deutschenhassenden Deutschen

28. August 2017
Kategorie: Europa | Fremde Federn | Ironie | Italianità und Deutschtum

Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel vollendete kurz vor seinem Tod das Buch „Stern der Ungeborenen“, das posthum im Jahr 1946 erschien. Der Autor schreibt im 9. Kapitel über die Zukunft der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg:

Nun erhob ich wieder meine Stimme:

»Und wie entwickelte sich die deutsche Nation nach ihrer Niederlage? Das ist Frage drei. Soll ich Frage drei wiederholen, oder ist es dir lieber, wenn ich sie niederschreibe?«

»Nicht nötig, F.W.«, winkte er ab. Und wie um Zeit zu gewinnen, sang er vor sich hin: »Die Deutschen, ja diese Deutschen … Was geschah nur mit den verdammten Deutschen?«

Plötzlich glänzte aber sein blasses Gesicht pfiffig auf, und ich hörte ihn mit satirischer Übertreibung Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen rezitieren:

»Nun aber hör gut zu«, begann er, »denn das hat’s wirklich gegeben: ›Der Kasseler Weltfreundschaftstag‹ – ›Allherzenssympathiewoche zu Gera‹ – ›Allgemeines deutsches Judenabbittefest zu Halle an der Saale‹ – ›Bund deutscher Pantheistinnen zur Hingabe an das Leben in jeder Form‹ – Dies und noch viel, viel mehr sehe ich vor mir und lese es in dem frühesten Lexikonband meiner Vorerinnerungen. Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Wortes ›Humanitätsduselei‹ kostete achtundvierzig Stunden Arrest oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte erschien ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenlehre.«

B.H. hielt die Augen geschlossen. Ich fühlte, wie der Strom seiner Rückbeschwörungen immer dichter und rascher wurde. Dann und wann unterbrach ich ihn durch eine kurze Bemerkung, um ihn anzueifern, wie man es bei einem Medium tut. Oft schien er mich ganz vergessen zu haben, so mächtig drängte jene verschollene, fernste Vergangenheit an die Oberfläche.

»Ich erinnere mich«, fuhr er fort, »an das berühmte Buch eines deutschenhassenden Deutschen, eines damals weitverbreiteten Alibi-Typs. Einen Augenblick, wart einmal, unterbrich mich nicht, der Autor hieß – halt, ich hab’s – er hieß Carl Egon (von) Ausfaller. Den Titel des Buches könnte ich mit einiger Anstrengung auch entziffern, aber es ist besser, meine Kräfte für Wichtigeres aufzusparen. Das Buch erschien, dessen bin ich sicher, noch vor 1960. Ausfaller behauptete darin, es gebe zwei Arten von Deutschen: ›Die Heinzelmännchen‹ und ›die Wichtelmännchen‹. Die Heinzelmännchen waren gute, hilfreiche, unermüdlich fleißige Arbeiter, die überall, ob erwünscht oder unerwünscht, hartnäckig auftauchten, um ihre Schuld gutzumachen. Hatten zum Beispiel irgendwo in Europa abends die Arbeiter eine Fabrik verlassen, so stellten die Heinzelmännchen nachtlicherweile sich ein und schufteten unbemerkt bis ins Morgengrauen, wenn sie auch die Gewerkschaften des betreffenden Landes damit rasend machten. Sie gingen jedermann auf jede Weise zur Hand und verlangten keinen andern Lohn als ein bißchen Verzeihen für das, was man dem deutschen Volke zur dauernden Schande anrechnete. Mir selbst sind an manchem Orte eine Menge solcher Heinzelmännchen begegnet, und sie haben mich manchmal gerührt, obwohl ich nicht verzieh. Sie waren die Erfinder der undankbaren Ethik der ›selbstlosen Zudringlichkeit‹. Zur Erholung hielten die Gebildeten unter den Heinzelmännchen philosophische Vorträge an Volkshochschulen, in protestantischen Kirchen und sogar in Reformsynagogen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war. Ohne Pflicht ging’s nicht, wie ja die deutsche Grundauffassung vom Leben in der ›Anbetung des Unangenehmen‹ bestand. Sie waren, mit einem Wort, echte Schafe im Schafspelz. Da sie aber selbst dies krampfhaft waren, glaubte es ihnen niemand, und man hielt sie für Wölfe. Aus diesen Heinzelmännchen bestand der größte Teil der deutschen Nation. Der andre, viel kleinere Teil, die Wichtelmännchen, spielte eine weit interessantere Rolle. Sie waren keine guten, sondern böse Geister, unbekehrbare Kobolde in hunderterlei Verkleidungen. Niemals erschienen sie in ihrer märchenhaften Urform, als bucklige Zwerge nämlich mit weißen Ziegenbärten. Dazu waren sie zu rassenstolz. Sie zogen, wenn’s nur halbwegs ging, die Erscheinungsform von nordischen Recken vor, konnten aber trotzdem, selbst dann, wenn sie lang und hager waren, den Gesichtsausdruck hämisch kleingläubiger Zwerge, die sich stets provoziert fühlen, nicht ganz verwischen. Sie dienten allen Herren und allen Ideen der Welt, denn das echte Wichtelmännchentum hielt alle Ideen und alle Herren für auswechselbar, da es ja niemals eine eigene Idee gehabt hatte außer dem Protest. Selbst jener Geheimbund, den sie die ›Gräberboten‹ nannten oder die ›weißen Vampyre mit den roten Lippen‹, der Möchtegern-Schrecken Europas vor 1950, war ein blankes Plagiat an der italienischen Maffia von 1848 und an den amerikanischen Schauerfilmen des finstersten Altertums, obwohl die Wichtelmännchen auch hier wie überall die Originalität durch Übertriebenheit zu ersetzen suchten: denn ›Gräberbote‹ durfte nur werden, wer seinen linken Arm abhackte und durch eine Prothese ersetzte, in die eine elektrische Batterie eingebaut war, die tödliche Schläge auszuteilen vermochte. Die Wichtelmännchen, gleichgültig wo und wem sie dienten, waren die ersten, die das unterirdische Leben erfanden, dessen Vollendung du in der heutigen mentalen Kultur vor Augen hast. Sie unterwühlten kraft ihrer frenetischen Energie und inhaltslosen Opferbereitschaft die Haupt- und Großstädte aller Nationen mit ihren wissenschaftlich ausgeklügelten Labyrinthen. Und das taten sie, noch während die siegreichen Mächte ihr Land entwaffnet und besetzt hielten, und sie, die Wichtelmännchen, oberhalb der Erde von den Heinzelmännchen nicht zu unterscheiden waren. Im übrigen war der Charakter der Heinzelmännchen so schwach, daß sie der Neigung, Wichtelmännchen zu werden, oft nicht widerstehen konnten. Die Wichtelmännchen sind auch die Erfinder der unterirdischen Denkmäler gewesen, deren eines du noch heute sehen konntest. Hunderte dieser Denkmäler errichteten sie in ihren geheimnisvollen Labyrinthen einem Abgott mit Namen Heiltier, einem Scheuel, das nicht einmal ein echtes deutsches Wichtelmännchen, sondern ein schmutziges Grenz- und Mischwesen gewesen sein soll …«

»Der Name ist nicht richtig, B.H.«, war ich gezwungen, einzuwerfen.

»Und wie ist der richtige Name, F.W.?«

»Schade, soeben hab ich ihn auf der Zunge gehabt …«

»Mag sein«, überlegte B.H., »er hieß Hiltier. Sie sehnten sich nach der ›Volksgemeinschaft‹ zurück, einer automatischen Lebensform, die er bei ihnen eingeführt hatte, wo jedermann Denunziant und Denunzierter, Folterknecht und Gefolterter, Henker und Hingerichteter gleichzeitig sein durfte. Sie errichteten diesem Hiltier nicht nur Denkmäler, sondern schrieben noch Jahrzehnte nach seinem Verschwinden an die Wände ihrer Bedürfnisanstalten ›Heil Hiltier‹. Das war ein magischer Wiederholungsakt. Denn durch denselben Brauch, die ammoniakwürzigen Pissoirwände mit ›Heil Hiltier‹ zu beschmieren, hatten die Wichtelmännchen vorher die Macht über die Heinzelmännchen und beinahe die Weltherrschaft errungen …«

»Und gelang’s den Wichtelmännchen beim dritten Mal, B.H.? … Das wäre Frage vier …«

»Davon hab ich keine persönliche Erfahrung«, kam die rasche Antwort. »Ob sie’s erreicht haben oder nicht, ist auch ganz und gar unwichtig, denn als ich das nächste Mal ins Planetenleben trat, da gab es keine Deutschen mehr, sondern nur noch die deutsche Sprache, die da und dort, besonders unter Farbigen, gesprochen wurde, aber Mödlinger Sprache hieß. Mödling soll ein Vorort von Wien gewesen sein.«

»Das sind allerdings Aspekte«, meinte ich, »von denen ich mir nichts hab träumen lassen. Und was geschah mit all den kleinen Völkern, B.H. …? Das ist die fünfte Frage, wenn es dich nicht allzusehr hernimmt.«

»Die kleinen Völker«, entgegnete er, ohne nachzudenken, »störten noch einige Zeit, dann lösten sie sich in den sogenannten Grundnationen auf. Leider, denn manche unter den kleinen Völkern waren sympathischer und nützlicher als die Grundnationen.«

»Und das Schicksal der Grundnationen?« Ich schmuggelte das als Unterfrage ins Interview.

»Die europäischen Grundnationen«, erwiderte er, »verschmolzen miteinander und verschwanden. Nicht nur die Deutschen, sondern ebenso die Franzosen, die Slaven, und zuletzt sogar die Engländer. Seltsamerweise bestand das großbritannische Weltreich noch, als es keine wirklichen Engländer mehr gab. Am längsten erhielt sich eine Enklave des italienischen Volkes, und zwar dadurch, daß Rom als Thronsitz der katholischen Kirche sich bisher als unvergänglich erwies. Den Grundnationen Europas aber erging es so, wie es den alten Wanderstämmen ihrer Väter ergangen war, aus denen sie während des römischen Altertums entstanden sind. Sie vermischten sich zu einer größeren Einheit, der ältesten Kontinentalnation der Alten Welt. Die nationalistischen Weltkriege vorher waren nichts anderes als letzte Zuckungen eines überalterten provinziellen Tribalwesens. Die geeinigte Kontinentalnation Europas aber versank in ein langes Zeitalter der Sterilität, während die Kultursonne über ganz neuen Völkern des Ostens und Westens aufging, von denen wir damals noch kaum gehört hatten … Welche Grundnation aber, glaubst du, ist es gewesen, die als erste beim psychochirurgischen Zentralamt den Antrag auf allgemeine Extraktion des Nationalgefühls gestellt hat?«

»Die Franzosen vielleicht«, zögerte ich, »nachdem sie mit Hilfe Jeanne d’Arcs und der Engländer dieses Nationalgefühl eingeführt haben.«

»Im Gegenteil«, lachte er, »die Deutschen. Die endgültige Vernichtung der Seuche des Nationalismus ist und bleibt ein Verdienst der Deutschen, nachdem es ihnen bis dahin sieben- bis vierzehnmal nicht gelungen war, durch Macht beliebt zu werden.«

»Das hätte ich erraten müssen, B.H.«, schämte ich mich. »Natürlich können es nur die Deutschen gewesen sein, die zuletzt gegen den Protest protestierten …«

»Die einfachsten Antworten sind meist die schwierigsten, F.W.«, tröstete er mich.

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