Das Ende des auserwählten Volkes

7. August 2017
Kategorie: Antike | Europa | Freiheit | Historisches | Mittelalter | Philosophisches

Exklusivität, also „Auserwähltsein“, ist ein Grundmuster erfolgreicher Staaten und Gesellschaften auf europäischem Grund. Jüdisch-christlicher wie römischer Charakter haben dies schon vor Urzeiten in den Kontinent eingeprägt. Das Volk Israel gilt als das auserwählte Volk, das einen exklusiven Bund mit Gott schließt; im Christentum wird der Gedanke des Gottesvolkes auf alle Christen ausgeweitet. In der Aeneis findet sich der göttliche Auftrag Roms wieder, das diesem von Anfang an bestimmt war, die Erde zu beherrschen. Mittelalterliche Städte führten ihre Auserwähltheit auf die Bindung zu einem besonderen Stadtpatron bzw. über diesen zu Gott zurück, der die jeweilige Stadtgemeinschaft als zweites Rom oder zweites Jerusalem interpretierte.

Mit der Säkularisierung verlor die Idee göttlichen Auserwähltseins an Reiz: stattdessen richtete sich der Exklusivitätsgedanke auf Volk und Nation. Hatte es im Mittelalter noch Reliquien, Legenden oder Wunder bedurft, um daraus die Zugehörigkeit zu einer „besonderen Gruppe“ abzuleiten, reichte es nun allein, dieser Gruppe anzugehören. Es verwundert daher auch nicht, dass Geschichtsschreibung zur Nationalschreibung wurde, um Tradition und Geschichte als Argumente hervorzubringen, warum Nation und Volk als außergewöhnlich galten. Abstammung, Sprache und Tradition übernahmen jene Abgrenzung, die früher Religion und Konfession zwischen Gruppen eingenommen haben. Dies wirkte zwar auf der einen Seite inklusiv, wie auch das Christentum einst nicht mehr die jüdische Abstammung, sondern nur noch den Glauben verlangte; andererseits blieb der neue Gruppenverband in Form der Nation nach außen weiterhin exklusiv.

Die Legitimation, um das einstige Gottesgnadentum der Könige oder traditionelle Loyalitäten des alten Europas aufzulösen, fand sich in der Formulierung jener liberalen Ideen, die ab dem 19. Jahrhundert zu den allgemein gültigen des Kontinents wurden: Freiheit und Gleichheit der Menschen. Das Kernproblem, dass diese Werte nun nicht mehr exklusiv gedacht werden konnten, sondern als „universelle Werte“ von Anfang an einen inklusiven Gehalt hatten, sollte den Aufklärern der damaligen Zeit noch nicht auf die Füße fallen, da sie im Grunde weiterhin nur für die europäische und (nord)amerikanische Welt galten. Stattdessen konnten sie sogar als „exklusiv“ interpretiert werden, da „Freiheit“ oder „Gleichheit“ bald als Merkmal zur Unterscheidung von der zivilisierten Welt im Gegensatz zur Barbarei der „Wilden“ eingesetzt wurde. Die Inbesitznahme von Kolonien wurde nicht zuletzt mit der „Bürde des Weißen Mannes“ begründet, bzw. mit der Zivilisierung der Unzivilisierten. In dieser Hinsicht waren eben jene universellen Menschenrechte zuerst ein exklusives Merkmal der Europäer als Zivilisation im Gegensatz zu den Völkern Afrikas und Asiens.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich vor allem das Postulat der „Gleichheit“ aller Menschen durch, für die durchgehend dieselben Rechte gälten; verankernd wurde dies durch die UN. Das Grundübel des Experiments fußte bereits in der Abwesenheit eines Staates, der eben dieses Recht an jedem Ort der Welt durchsetzen konnte. Menschenrecht ist kein französisches, kein deutsches, kein nigerianisches oder polynesisches Recht, sondern in diesem Sinne „Weltrecht“. Die Durchsetzung eines solchen Rechts hätte aber von Anfang an auch eines Weltstaates bedurft. Europa verlor darüber hinaus das „Monopol“ auf die Zivilisation, welches einen großen Teil seines spätneuzeitlichen Sendungsbewusstseins ausgemacht hatte. Dass Frankreich wie Großbritannien ihr Kolonialreich verloren, hing nicht nur mit wirtschaftlichen Gründen zusammen; es mangelte, anders als im 19. Jahrhundert, auch an der ideologischen Legitimation. Mit der Annahme der „Gleichheit“ war die Idee, eine zurückgebliebene Gesellschaft an die Hand zu nehmen, völlig absurd geworden. Dass Macht und Herrschaft eine Rolle spielten, ist hier nur als triviale Selbstverständlichkeit zu nennen; der Wegfall der ideologischen Komponente machte jedoch dem Esprit und der Moral der ehemaligen Kolonialmächte zu schaffen und beraubte sie einer großen Erzählung, wie sie in Großreichen unabdinglich sind.

Die Europäer verloren im 20. Jahrhundert damit zuerst ihre Dominanz, aber schwerwiegender war der Verlust exklusiver Vorstellungen, welche ihre Gesellschaften im 19. Jahrhundert so mächtig gemacht hatten: der Glaube an den Fortschritt (das hießt: europäischer, technischer Fortschritt, der alle Probleme löste) und der Glaube an die Überlegenheit der Nation (das hieß vor allem: der Glaube an die eigene, europäische Nation). Die Bestätigung aus der Geschichte und Tradition, dass die eigene Nation eine besondere und auserwählte war, verlor in der Nachkriegszeit an Bedeutung; die Gründe dafür zu suchen würde diese Abfassung sprengen. Die Alternativen, nämlich der Einsatz für „Werte“ wie eben die Menschenrechte ohne nationalen Bezug, sollte sich als zu wenig überzeugend herausstellen; genauso, wie eine supranationale oder globale Agenda spätestens im beginnenden 21. Jahrhundert an ihre Grenzen stieß. Die mediale, akademische und politische Elite mochte weiterhin von Werten reden; im Gegensatz zum früher nationalen Jubel und Esprit blieben die Völker Europas aber nahezu jedem Vorstoß eher indifferent gegenüber. PulseOfEurope-Demonstrationen sind heute genauso wenig eine Volksbewegung wie RefugeesWelcome. Der offensichtliche wie dilettantische Versuch der Medien, die Flüchtlingshilfe als neues deutsches Auserwähltsein zu zelebrieren, wird vermutlich als eine der peinlichsten Versuche in die Menschheitsgeschichte eingehen, ein Narrativ „von oben“ zu konstruieren. Narrative werden aber eben nicht konstruiert, sie entstehen organisch.

Stattdessen hat den Kontinent seit einigen Jahrzehnten ein „negatives Auserwähltsein“ ergriffen, das je nach Land divergiert. Die negative Erzählung hat dabei – ganz im Gegensatz zur deutschen Wahrnehmung – ganz Europa im Griff und nicht nur den Kriegsverlierer Deutschland. Geschichte wird zunehmend als negative Erinnerung (Nationalsozialismus, Kolonialgeschichte, Rassismus, Frauenverachtung, Umweltzerstörung) begriffen, von der man sich heute abheben müsse. Aus der Geschichtsschreibung als Hort der Inspiration wird die Schauergeschichte der Mahner und Warner. Das Gegenteil gilt a priori als das moralisch einzig Richtige. Mit diesen Zeitgeistläufen und immer wieder neuen ideologischen Säuen, die durch das relativistische Dorf getrieben werden, ist aber eben kein Staat, kein Narrativ und keine Exklusivität zu machen – insbesondere, wenn die Nation, die vom Begriff her stark vom Gedanken der Abstammung und Geschichte betroffen ist, immer wieder – je nach politischer Laune – neu definiert wird. Dadurch, dass Europa sich in seiner „negativen Exklusivität“ festgebissen hat, da es niemanden ausschließen will, nicht mehr unterscheiden kann, und sich für nichts zu entscheiden weiß, kann es auch nicht das, was alle relativistischen Kritiker sonst vorbringen: nämlich differenzieren zwischen dem, was Europa und seine Staaten ausmacht und was historisch oder philosophisch nicht dazu gehört.

Der Gedanke „negativer Exklusivität“, nämlich einerseits, dass jeder ein Teil der Nation sein kann und diese nichts mehr exklusiv von anderen Gemeinschaften trennt, und andererseits, dass man einer Gruppe mit negativem Hintergrund angehört, ist einmalig in der Geschichte des europäischen Kontinents. Ausgehend davon, dass die erfolgreichen und großen Staaten Europas das genaue Gegenteil ausgezeichnet hat, ist das Ende dieses Probelaufes abzusehen. Im Zweifelsfall einhergehend mit dem Ende der europäischen Gesellschaften, wie wir sie seit über zweieinhalb Jahrtausenden kennen.

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